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Der letzte Gang
Heute ließ er sich Zeit für die Rasur. Schenkte auch der Stelle unter der Nase mehr Aufmerksamkeit als gewöhnlich und war erst zufrieden, als jede noch so kurze Bartstoppel unter der scharfen Klinge des Rasiermessers verschwunden war. Wenigstens das konnte er noch tun: perfekt rasierte Miene zum bösen Spiel machen auf den Fotos für die Nachwelt. Bei dem Gedanken lachte er höhnisch auf. Dann blickte Claus Wagner lange in den Spiegel. Müde sah er aus. Dicke, fast graue Tränensäcke unter den Augen, tiefe Furchen auf der Stirn, die Haut unter dem Kinn schlaff. Kein Wunder, es waren unvorstellbar anstrengende Monate gewesen. Und was hatte es genützt? Nichts. Nach so vielen Jahren in verantwortungsvollen Positionen würde er ab heute kurz nach drei nur noch ein alter Mann sein. Ein alter Mann, der den wichtigsten Kampf seines Lebens verloren hatte. So würde man sich an ihn erinnern.
Wagner seufzte und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, strich sich durch das graue Haar. Seine Frau trat von hinten an ihn heran, legte ihre Arme um seinen nackten Oberkörper und schmiegte ihre Wange an seinen Rücken. Ihre Haut hatte noch die Wärme des Bettes.
„Gut geschlafen?“, fragte sie.
„So gut wie gar nicht.“
„Ja, ich auch nicht.“
Wagner löste sanft ihren Griff und drehte sich um. Irenes Haar war noch zerzaust von der Nacht, aber ihre Augen waren wach. Sie sah ihn fragend an.
„Mir geht es gut“, sagte Wagner und versuchte ein Lächeln.
„Lügner.“ Irene lächelte zärtlich und gab ihm einen Klaps auf die Brust.
„Vor dir kann man nichts geheim halten, was?“
„Zumindest nicht du.“
Er nickte langsam. „Ich habe versagt“, sagte er leise.
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Unsinn. Das darfst du nicht denken. Du hast alles versucht, um es abzuwenden. Alles, hörst du?“
„Es hat nicht gereicht.“
„Aber das ist nicht deine Schuld. Es ist ... es war ... die Zeiten ändern sich.“
Wagner zuckte mit den Schultern, nahm ein Unterhemd vom Bügel und zog es sich umständlich über den Kopf.
„Man hätte es ahnen können. Wir hätten uns vorbereiten müssen.“
„Ach, Schatz.“ Seine Frau strich ihm zärtlich über die Wange. „Im Nachhinein lässt sich das immer sagen. Und du hast es doch auch weiß Gott versucht. Ich erinnere mich an so viele Gespräche. So viel Streit. Die vielen Nächte. Was haben sie dir nicht alles an den Kopf geworfen. Die Verbände, Gewerkschaften. Die vor allem. Aber du hast nicht aufgehört. Und schließlich sind sie dir doch gefolgt.“ Sie reichte ihm das weiße Hemd und die Krawatte.
„Nur, dass es da schon zu spät war. Wir hatten nichts mehr entgegenzusetzen. Waren zu schwach. Leichte Beute.“
Sie schwiegen kurz, dann gab Irene ihm einen Kuss. „Ich mache mich fertig. Wir sollten nicht zu spät kommen.“
Wagner nickte und ging dann in sein Arbeitszimmer.
Das Leder schnaufte, als er sich tief in den alten Drehstuhl setzte und den Blick durch den Raum schweifen ließ. Da drüben in der Sitzgruppe hatte er viele Abende, nicht selten sogar Nächte verbracht und diskutiert, gegessen und getrunken. Politiker – befreundete, ebenso wie die aus dem gegnerischen Lager –, Staatsmänner, Vertreter der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen: sie alle waren in seinem Haus zu Gast gewesen, hatten die ungezwungene Atmosphäre zu schätzen gewusst. Hatten sich an Irenes warmherziger Art erfreut, ihren klaren Analysen zu verschiedenen politischen Themen zunächst erstaunt, dann anerkennend Gehör geschenkt.
In letzter Zeit freilich war die Stimmung um den flachen, runden Tisch von Anspannung geprägt gewesen, zornig, teilweise gar hasserfüllt. Kopfschüttelnd erinnerte sich Wagner an einen Abend mit Peter Hoffmann, dem Vorsitzenden der größten Gewerkschaft. Wieder einmal war es um notwendige Anpassungen gegangen: die Anhebung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich, Wegfall alter Privilegien, weniger Mitspracherechte und so weiter. Hoffmann, der alte Querkopf, war irgendwann so erbost aufgesprungen, dass Wagner fast damit rechnete, er würde ihm den exzellenten Barolo ins Gesicht schütten. Überhaupt Hoffmann. Wenn der sich nicht allem so rigoros verschlossen hätte ... In den letzten Wochen hatte sich dann zunehmend Resignation in den Ledersesseln breitgemacht. Niemand schien mehr an eine Lösung zu glauben, die nicht etwas mit einem wie auch immer gearteten Verkauf zu tun haben würde. Der eine oder andere hatte bestimmt auch schon für die Zeit danach geplant. Treischl mit Sicherheit, der war immer schon überaus anpassungsfähig. Und Frisch mit seinem Hang zu bedeutungslosem Luxus.
Wagner seufzte schwer, griff dann nach links und hob den Aktenkoffer auf die Tischplatte. Das dunkelbraune, fein gezeichnete Leder verströmte den Duft von Bienenwachs und ganz flüchtig noch das fruchtig-herbe Kokosaroma - die Lederpflege, die er am gestrigen Abend akribisch aufgetragen hatte. Er ließ die Verschlüsse aufschnappen. Innen war der Koffer mit dunklem Samt ausgekleidet. Er legte sein Notizbuch und ein paar Unterlagen hinein. Aus der obersten Schublade des Schreibtisches entnahm er einen Füllfederhalter, der Griff war aus grünem Bakelit, die leicht verbogene Spitze gold-glänzend. Angeblich hatte Konrad Adenauer in seiner Funktion als Präsident des Parlamentarischen Rates mit diesem Stift die Beurkundungsseite der Verfassungsurkunde unterschrieben. So hatte ihm das sein guter Freund Trautheim damals erzählt, als er ihm den Stift zu seinem Amtsantritt schenkte. Höchstwahrscheinlich war an der Geschichte nichts dran, aber Claus Wagner mochte den Gedanken, dass der alte Mann aus Köln damals den Stift bei jenem bedeutungsvollen Akt in der Hand gehalten hatte. Und natürlich würde Wagner ihn heute für seine Unterschrift benutzen. Er zog dunkelblaue Tinte aus einem eigens gekauften Fässchen auf, schraubte den Deckel auf den Stift und legte ihn in den Aktenkoffer. Dann schloss er den Koffer, schwang auf dem Stuhl herum und blickte hinaus auf den Teich in seinem Garten, bis Irene in der Tür erschien und ihn mit sanfter Stimme in die Wirklichkeit zurückholte: „Wollen wir?“
Es war gespenstisch. Keine Journalisten, keine neugierigen Zuschauer, keine Demonstranten. Sie hatten absolutes Stillschweigen über Ort und Zeit verlangt. Um den Prozess nicht zu gefährden, wie es von deren Seite hieß. Erstaunlicherweise schienen alle ihr Versprechen gehalten zu haben. Keiner der üblichen Ausreißer, die doch noch einem Reporter Details steckten. Ausnahmsweise hätte sich Wagner gewünscht, dass einer der Eingeweihten indiskret geworden wäre. Er hätte sich ein Heer von Journalisten gewünscht, von aufgebrachten Bürgern, standhaften Verteidigern dieser Republik. Aber da waren nur Wilms, Günther, Frisch, Schadeck und natürlich Hoffmann, die ihn und Irene am säulenflankierten Portal empfingen. Der Rest hatte es vermutlich vorgezogen, diesem Alptraum nicht beizuwohnen. Er konnte es ihnen nicht verübeln. So würde dieser in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellose Akt also von der Öffentlichkeit unbemerkt vollzogen werden.
Wagner entstieg dem Mercedes (was wohl aus dieser Marke werden würde?), öffnete Irene den Wagenschlag und bot ihr seine Hand. Sein Fahrer reichte ihm wortlos den Aktenkoffer. Wagner versuchte sich an einem aufmunterndem Lächeln.
„Danke, Robert. Keine Angst, wir haben alles für Sie arrangiert.“
„Vielen Dank, Herr Wagner. Das weiß ich sehr zu schätzen.“
Wagner nickte, dann ging er mit durchgedrücktem Rücken auf die Eingangspforte zu, Irene an seiner Seite.
„Die Herren“, grüßte er knapp in die Runde.
„Herr Bundeskanzler“, kam es zurück.
„Die Vertreter von Elysion sind schon hier?“
„Warten im Großen Saal.“
„Sonst keiner da?“, fragte Wagner.
„Nur noch der Arbeitgeberbund und der Industrieverband“, sagte Hoffmann verächtlich. „Sind schon drin. Die haben sicher großen Redebedarf heute.“ Er lachte trocken.
„Na gut, dann wollen wir mal.“
Claus und Irene Wagner gingen voran, der kleine Tross folgte ihnen zwei Meter dahinter.
Die Absätze der Schuhe knallten auf dem Steinboden, als sie schweigend durch den langen, holzgetäfelten Gang liefen. Ihre Schritte waren langsam, der Bedeutung dessen, was vor ihnen lag, angemessen. An den Wänden Portraits bedeutender Politiker der letzten Jahrzehnte, Fotografien von Monumenten, die Teil der deutschen Identität waren, oder Landschaften aus den verschiedenen Regionen.
„Eine Schande ist das alles“, hörte Wagner Peter Hoffmann hinter sich grummeln.
„Das aus deinem Mund.“ Das war Wilms, Wirtschaftsminister.
„Ach ja? Ausgerechnet du?“, blaffte Hoffmann zurück. „Dein Ministerium hat doch alles verschlafen. Immer schön die Bonzen mit den dicksten Taschen hätscheln.“
„Das muss ich mir nicht ...“
„Meine Herren!“ Wagner blieb stehen und drehte sich zu der Gruppe um. „Das ist jetzt sicher nicht der richtige Zeitpunkt für eure kleingeistigen Zankereien. Das hatten wir lange genug. Wir sind alle schuld. Jeder von uns hier. Und letztendlich das gesamte Land.“
„Trotzdem“, versuchte es Hoffmann noch einmal.
„Peter, lass gut sein.“ Wagner legte ihm die Hand auf die Schulter. „Wir wissen doch alle, was wir hier im Begriff sind zu tun. Und keinem von uns gefällt der Gedanke. Aber wir müssen die Zukunft im Auge haben. Nicht für uns, aber für die Millionen Menschen da draußen. Wir hatten viele gute Jahre. Wirtschaftlich, sozial. Aber wir haben es versäumt weiterzudenken, waren selbstzufrieden, behäbig.“ Er blickte in die Runde. „Jeder von uns.“
Bedächtiges Nicken der Anwesenden und Wagner fuhr fort: „Und jetzt? Ihr wisst doch, wie es da draußen aussieht. Mittlerweile sind wir auf dem Niveau der Länder, die wir vor zwanzig Jahren als Dritte Welt bezeichnet haben. Nur, dass die schon längst an uns vorbeigezogen sind. Ich sehe also keine andere Möglichkeit, wenn wir den Bürgern dieses Landes eine Chance geben wollen.“
„Claus hat Recht“, sagte Wilms nach kurzem Schweigen. „Komm, Peter, lass es uns mit einem Rest Würde zu Ende bringen. Immerhin haben wir länger durchgehalten als der feine Monsieur Bernard.“ Wilms erlaubte sich ein kurzes, gehässiges Kichern.
Wagner drehte sich wieder um und sie setzen ihren Weg fort. Ein paar Meter vor der doppelmannshohen Tür zum Großen Saal kam ihnen ein junger Mann in perfekt sitzendem, teuer aussehendem Anzug entgegen. Er lächelte sie breit an. Neben ihm lief leicht gebückt ein älterer Herr, um dessen Hals zwei Fotokameras mit verschieden langen Objektiven hingen. Eine dritte Kamera hatte er in der Hand. In rascher Folge knipste er damit, das Blitzlicht blendete Wagner.
„Kann er das sein lassen, bitte?“, wandte er sich an den jungen Mann im Anzug.
„John. Stop.“
Der Fotograf senkte schulterzuckend die Kamera.
„Herr Bundeskanzler“, sagte der Anzugmann mit schwerem amerikanischen Akzent. „Malcom Ewing, Senior International Relations Manager, Elysion Incorporated. Sie erinnern sich sicher.“ Wieder das breite Lächeln, das seine makellosen Zähne zeigte. Er streckte Wagner die Hand hin, die dieser unwillig ergriff. Jetzt schon Senior Manager? Der Kerl konnte doch nach wie vor nicht älter als fünfundzwanzig sein, dachte er.
„Natürlich. Doktor Claus Wagner, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.“ Er deutete hinter sich. „Einige Minister meines Kabinetts, Herr Hoffmann von der Gewerkschaft, und das ist meine Frau. Irene.“
„Wonderful.“ Ewing schnalzte mit der Zunge und deutete auf die Holztür. „Wollen wir?“
Wagner atmete tief durch. „Sicher.“
Der Große Saal war in die Mitte des Gebäudes gebaut worden und fensterlos. Er war nicht ganz so üppig dimensioniert, wie der Name glauben machen konnte, aber immer noch groß genug, um die fünf Personen, die am hinteren Teil des langen Eichentisches Platz genommen hatten, etwas verloren wirken zu lassen. Hier hatte Claus Wagner unzählige Kabinettssitzungen hinter sich gebracht, Beratungen mit Wirtschaftsvertretern, Wissenschaftlern, Angehörigen der großen Religionsgemeinschaften. Und hier würde er heute seine Amtszeit beenden. Mit einem Mal schien ihm die Aktentasche in seiner Hand unerträglich schwer. Eine bleierne Müdigkeit wollte sich seiner bemächtigen, doch er schüttelte sie ab. Noch nicht, sagte er sich. Noch nicht.
Als er den Raum betrat, drehten ihm die Herren am Tisch ihre Gesichter zu. Sie waren in identische dunkelgraue Anzüge gekleidet, dazu azurblaue Krawatten. Sahen ihn aufmerksam an, wenn auch nicht besonders interessiert. Wagner hätte schwören können, dass diese kleine Bewegung vollkommen synchron verlief. Überhaupt, sie glichen sich erschreckenderweise so sehr, dass man sie für Zwillinge hätte halten können. Eineiige Fünflinge, falls so etwas möglich war. Er war sich da nicht sicher. Oder Klone. Vor ihnen auf dem Tisch lag jeweils ein flacher, schwarzer Koffer.
An die Stirnseite des Tisches war ein riesiger Bildschirm geschoben worden. Das Bild zeigte das Elysion-Logo: eine stilisierte Schlange, die sich um die Weltkugel windet.
An der rechten Wand sah Wagner jetzt Frederick Thiele und Andreas von Brautner, die wichtigsten Wirtschaftsvertreter der Republik. Sie nickten ihm knapp zu, dann fuhren sie fort mit der akribischen Betrachtung ihrer Schuhspitzen.
Aus dem Halbschatten neben der Videowand trat ein Mann hervor, der ebenfalls eine azurblaue Krawatte zum dunkelgrauen Anzug trug, aber älter war als die Elysion-Mitarbeiter am Tisch. Schwarze, penibel zu einer leichten Welle nach hinten frisierte Haare. Mit energischen Schritten und ausgestrecktem Arm durchquerte er den Raum.
„Herr Bundeskanzler. Ich freue mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Jackson M Brummels, Founder und CEO von Elysion.“ Sein Deutsch war nahezu akzentfrei, der Händedruck hatte genau den richtigen Festigkeitsgrad, das Lächeln war ebenso makellos wie zuvor bei seinem Senior Manager, die Augen dunkelbraun, fast schwarz. „Lassen Sie mich Ihnen ganz zu Anfang sagen, dass ich mir vorstellen kann, wie schwer Ihnen das fallen muss. Wirklich.“
Er löste sich von Wagner und schritt auf Irene zu, verbeugte sich leicht zu einem formvollendeten angedeuteten Handkuss. „Frau Wagner. Ich freue mich, dass Sie auch hier sind.“
„Herr Brummels“, erwiderte Irene knapp.
Claus Wagner wandte sich an seine Begleiter. „Ich schlage vor, dass ich das allein mache. Wir können ja nachher noch ein paar Fotos zusammen ...“
Der Widerstand war noch geringer, als er erwartet hatte. Niemandem schien es ein großes Bedürfnis zu sein, diesem Akt bis zum Ende beizuwohnen, und so leerte sich der Raum bis auf Wagner, Brummels und die fünf Elysion-Mitarbeiter am Tisch. Irene drückte sanft seinen Oberarm. „Falls du mich brauchst, ich bin im Gang“, flüsterte sie. Die Tür schloss sich hinter ihr.
„Bitte, nehmen Sie doch Platz.“ Brummels wies auf einen freien Stuhl an der Stirnseite des Tisches.
Wagner setzte sich zögerlich, versuchte einen souveränen Ausdruck auf sein Gesicht zu legen, bezweifelte aber, dass ihm das gelang. Sein Puls hämmerte gegen die Schläfen. Er musste an seine Vereidigung vor fast zwölf Jahren denken. Damals hatte er sich auch so gefühlt. Schicksalsergeben. Mit dem Unterschied, dass es damals eine euphorische Schicksalsergebenheit war. Jetzt fühlte er sich mehr wie ein Hase im Käfig.
Brummels legte die Handflächen aneinander und sagte im der Skurrilität der Situation unangemessenen Plauderton: „Vielleicht starten wir mit unserem Imagefilm, bevor wir dann...“
Wagner winkte brüsk ab. „Lassen wir das. Kommen wir gleich zur Sache.“
Für einen kurzen Moment wirkte der Elysion-Chef verunsichert, dann legte sich wieder das professionelle Lächeln auf sein Gesicht. „Aber sicher. Muller, die Unterschriftenseite bitte.“
Einer der Mitarbeiter am Tisch öffnete den Koffer vor sich und entnahm ihm einen Stoß Papier. Er erhob sich und breitete die Seiten vor Claus Wagner aus. „In dreifacher Ausfertigung. Den eigentlichen Inhalt kennen Sie ja. Hier noch mal als zusammenfassende Klausel. Unterschrift bitte hier und hier.“ Damit nahm er wieder seinen Platz ein und schloss in langsamer Bewegung und nahezu lautlos den Kofferdeckel.
Wagner hatte bereits den Füllfederhalter in der Hand, das grüne Kunstharz war glatt und kalt.
Dr. rer. pol. Claus Wagner, Bundeskanzler.
Wieder und wieder las er die Zeilen, bis die Buchstaben vor seinen Augen verschwammen, zu einer neblig-grauen Fläche wurden. Der Stift in seiner Hand schien ihm tonnenschwer, er senkte den Arm auf die Tischplatte, atmete tief ein und wieder aus.
Brummels räusperte sich leise neben ihm. „Glauben Sie mir, Herr Bundeskanzler, Sie tun das Richtige. Für Ihr Land, Ihr Volk.“
Er ging mit bedächtigen Schritten um den Tisch, gestikulierte dozierend mit den Händen, wobei er Wagner mit seinem Blick fixierte.
„Ich muss Ihnen ja nicht erklären, in welchem Zustand sich die Bundesrepublik befindet. Die Infrastruktur, Straßen, Schienen, Flughäfen, Schulen, Universitäten, alles kaputt. Die Fabriken technologisch zwanzig, ach was, dreißig Jahre zurück. Seit Jahren keine nennenswerten Patentanmeldungen mehr. Auf der anderen Seite verschlingen die Sozialkosten nahezu die gesamten Steuereinnahmen. Der Haushalt war das letzte Mal vor acht Jahren positiv. Im Weltbank-Ranking befindet sich Ihr Land nur noch auf Platz hundertachtundzwanzig, sogar noch hinter Guinea. Ein Land, das sich im Übrigen unter unserer wohlwollend-konsequenten Patronage zur most valuable emerging economy der letzten zwei Jahre entwickelt hat.“ Brummels hatte den Tisch umrundet, blieb neben Wagner stehen.
„Glauben Sie mir, Elysion hat die Mittel und vor allem die notwendige, nun ja, Herangehensweise“, er lächelte süffisant, „um dieses wunderbare Land wieder zu vergangener wirtschaftlicher Stärke zu führen. Eine Einsicht, zu der Italien, Frankreich und sogar England klugerweise schon vor Jahren gekommen sind, wie Sie ja selbst wissen. Und wir haben bereits erste Resultate, die mich äußerst positiv stimmen.“
„Erkauft mit der Aufgabe sämtlicher staatlicher Souveränität“, gab Wagner zerknirscht zurück, den Blick wieder starr auf die Urkunde vor sich geheftet.
„Ach, ich bitte Sie. Staatliche Souveränität. Ist das nicht ein Ideal des letzten Jahrtausends? Warum aus einem durch die Vergangenheit verklärten, pseudo-heroischen Gefühl heraus daran festhalten? Wem nützt das heute noch? Fragen Sie mal die verarmte Masse. Die Eltern, die keine Zukunft für ihre Kinder sehen. Nein, was zählt, ist der Erfolg. Und der gibt uns Recht. Mit Dänemark und Schweden sind wir übrigens auch in ernsthaften Gesprächen.“
Wagner schwieg, nahm zögerlich den Stift, ärgerte sich darüber, dass seine Hand zitterte. Andererseits, wen kümmerte es jetzt noch?
Er setzte die Feder auf das dicke Papier und setzte mit unsicheren Bewegungen gedrungene, ängstlich wirkende Buchstaben über die Linie, unter der sein Name stand. Da war sie also, seine Unterschrift. Er lehnte sich in den Stuhl. Ein Tropfen Tinte war auf die rechte untere Ecke der Urkunde getropft, vergrößerte sich zu einem dunklen Fleck.
„Wenn Sie bitte die anderen Exemplare auch noch unterschreiben wollen“, sagte Brummels in geschäftsmäßigem Ton.
Wagner ergab sich und zeichnete die Papiere. Kaum hatte er den letzten Strich getan, kam ein Elysion-Mitarbeiter, ordnete beflissen die Unterlagen und verstaute zwei Exemplare in einer Ledermappe, auf der das Elysion-Logo prangte. Eine Ausfertigung lag noch vor Wagner auf dem Tisch.
„Für Ihre Unterlagen. Was immer Sie damit ...“ Brummels beendet den Satz nicht, zuckte stattdessen mit den Schultern. Es schien ihm nicht mehr von Bedeutung. Die Ledermappe verstaute er in einem stahlglänzenden Aktenkoffer, der von irgendwoher gebracht worden war. Geräuschvoll ließ er den Deckel zuschnappen. Das Geräusch der sich schließenden Verschlüsse erschien Claus Wagner wie der Schlussakkord der untergehenden Republik.
„Wir sind dann so weit durch.“ Brummels streckte ihm die Hand entgegen. Wagner erhob sich schwerfällig, blickte dem CEO lange in die Augen, dann ging er wortlos an ihm vorbei.
„Warten Sie doch, Herr Bundeskanzler, also Herr Bundeskanzler a. D. Sie verpassen ja den Film.“
„Kein Interesse“, sagte Wagner über die Schulter. Hinter sich hörte er fanfarenartige Klänge.
„Heute ist ein historischer Tag für Elysion, Europa und die ganze Welt. Ein weiteres Land begibt sich in den Schutz und die Fürsorge unseres großartigen Unternehmens. Heißen wir die Bundesrepublik Deutschland willkommen in unserer Familie. Möge das Land unter der schützenden Hand von Elysion prosperieren und zu altem Glanz zurückfinden.“
Wagner schloss die Tür hinter sich.