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Der letzte Held
Auf dem Bahnhof herrscht reges Treiben. Leute eilen hin und her, brüllen in Handys oder mit den Kindern.
Gedanken eilen hin und her, brüllen mir ins Ohr oder in mein Gewissen:
…Blumen kaufen
Den Hund füttern
Licht abschalten
Donnie anrufen
Bei Martha entschuldigen
Den Kühlschrank ausräumen
Zahnputzzeug kaufen
Das mit der Bank erledigen
Handy reparieren lassen…
Plötzlich packt mich jemand hart am Arm. „Du kommst jetzt mit.“
„Was?“ Überrascht will ich mich losreißen und um Hilfe rufen.
„Keine Faxe da“, flüstert der schwarz gekleidete Mann neben mir und lenkt meinen Blick auf ein kleines silbernes Kästchen. „Oder ich mach uns alle alle.“
„Alle alle?“
„Du hast schon richtig gehört. Bleib ruhig und folge mir.“
Er zerrt mich hinter sich her. Ein paar Menschen sehen mich fragend an, ich gucke mindestens ebenso verdutzt zurück.
Der Mann drängt mich in eine Bahnhofsvorhalle. Mir fällt auf, dass alles still geworden ist, als mir klar wird, dass sich niemand mehr bewegt. Jeder hat mitten in seiner Tätigkeit innegehalten. Reglos stehen die Passanten da – der ganze Bahnhof ist mit einem Mal ein großes Wachsfigurenkabinett.
Ich drehe mich zu meinem Widersacher um. Er sieht mich abschätzend an.
„Du bist auserwählt worden“, sagt er.
„Tatsächlich? Von wem? Für was? Und warum stehen alle nur mehr rum?“
„Weil sie vermutlich bald alle sterben werden.“
„Was?“
„Das hier ist die Apokalypse. Das Ende der Menschheit. Euer Armageddon.“ Er hält das silberne Kästchen in die Höhe und wedelt damit in der Luft herum.
„Das da? Sieht mir nicht gerade gefährlich aus.“ Ich denke an Viren oder so und beiße mir auf die Lippen, aber der Mann in Schwarz reagiert gar nicht auf mich. Seine Augen funkeln bösartig.
„Du hast ja keine Ahnung, Mensch.“ Er spuckt das Wort förmlich aus.
„Aha und was bist du dann?“
Seine Stimme wird zu einem Flüstern, ja zu einem Hauch von Wörtern.
„Ich bin der letzte Richter.“
Für einen Moment ist das Gefühl der Stille überwältigend. Es ist jene Ruhe, die nicht nur vor dem Sturm käme, sondern ihn auch noch vertreiben würde. Locker.
Ich schlucke den Brocken hinunter, der in meinem Hals liegt. „Warum ich?“
Der Mann steckt das Kästchen in einer raschen Bewegung weg, setzt kurz einen fragenden Blick auf und blinzelt einmal. „Hm, keine Ahnung, Zufallsprinzip oder so.“
„Und was muss ich tun?“
Durch die Glaskuppel der Bahnhofsvorhalle bemerke ich, wie der Himmel sich verfinstert. Plötzlich zucken Blitze herab, das Gesicht des Widersachers verzerrt sich zu einer teuflischen Fratze, während ein Windstoß durch die Vorhalle fährt und den Geruch von Verwesung mit sich bringt.
„Du bist der Letzte, der die Vernichtung aufhalten kann. Du wirst für das Überleben deiner Rasse kämpfen. Und wenn es sein muss, wirst du dich opfern, damit die Menschheit weiterleben kann!“
Wind und Wetter beruhigen sich.
„Jedenfalls sollest du es versuchen.“ Er schaut ein bisschen nachdenklich drein. „Weißt du, es ist nicht so, dass ich wirklich böse bin, aber ich muss das tun, verstehst du?“
„Nein.“
„Okay, schau mal. Ich hab nichts gegen euch Menschen im Allgemeinen. Aber als letzter Richter habe ich die Pflicht, jede Rasse im Universum daraufhin zu überprüfen, ob sie es auch tatsächlich verdient hat, zu existieren.“
„Hört sich nach viel Arbeit an“, sage ich.
„Ist es auch. Alle zehn Jahre werde ich losgeschickt, in jedes Sternenreich und jede Galaxie dieses Universums, um einen Kämpfer zu suchen. Aus jeder Rasse.“ Er hält kurz inne. Sein Ausdruck wird skeptisch.
„Früher habe ich es dann so gemacht, dass ich immer alle auf eine unbewohnte Insel geschmissen und gewartet hab, bis nur mehr einer übrig war.“
„Hört sich nach viel Blut an“, werfe ich ein.
„Viel Blut? Der Ozean hatte sich alle zehn Jahre rot gefärbt. Immer wieder ging die Insel in den Fluten unter. Sie tauchte immer wieder auf.“
„Und heute machst du es nicht mehr so?“
„Nein. Hat zu lange gedauert. Und es war eklig. Außerdem müsste ich jedes Mal die Menschheit vernichten.“
„Warum das?“
„Sie schieden immer als erster aus.“
„Ach so.“
„Ja und ich habe da einen Freund, dem ihr etwas bedeutet. Der sieht seine Lieblingsrasse nicht gern nur mehr als Wolke aus Molekülen durch den Weltraum schweben. Der hängt an euch. Keine Ahnung warum. Also muss ich Disziplinen finden, in denen ihr besser seid, als andere.“
„Hast du eine gefunden?“
„Nein.“
„Hm.“
„Glaub mir, ihr hättet schon eine Million Mal nicht mehr existieren dürfen, aber ich musste euch gewinnen lassen. Dabei gibt es nichts, das ihr wirklich könnt, nichts, und langsam bekomme ich einen riesen Krampf im Hals, wenn ich nur dran denke, jedes Mal den Sieg herzuschenken.“ Die letzten Worte schreit er. Ich bin mir sicher, dass es nichts Gutes verheißt. Ich wage kaum, auch nur einen Muskel zu rühren.
„Aber diesmal“, presst der Widersacher hervor. „Diesmal werde ich es nicht tun. Und wenn es mein eigenes Leben kostet. Wenn du versagst, seid ihr alle tot.“
Ich beginne zu schwitzen, das hat schon nichts mehr mit feuchten Handflächen am Hut und versuche krampfhaft nicht an die Wörter ‚Vernichtung’ oder ‚Auslöschen’ zu denken.
Er holt das silberne Kästchen wieder hervor und öffnet es. Ein großer roter Knopf kommt zum Vorschein.
Konzentrier dich. Du musst es schaffen. Die Menschheit…
Der Widersacher hebt plötzlich vom Boden ab und schwebt in der Luft. Draußen durchzucken Blitze den blutroten Himmel. Der Wind schmeißt die zu Statuen degradierten Menschen um. Das Gewand des Mannes flattert, sein Mund ist geöffnet und große, fürchterlich spitze Zähne stechen hervor.
„Eine Aufgabe, Mensch. Eine einzige Aufgabe, die zu schaffen du bestimmt bist.“
Ich muss mehrmals schwer schlucken, meine Fingernägel sind so tief in die Handflächen gepresst, dass es schmerzt.
Der Orkan tobt und dröhnt in meinen Ohren.
„Deine schicksalsentscheidende Aufgabe. Euer Alphabet von hinten nach vorn!“
„Hä?“
„Antworte oder sei des Todes.“
„ZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA.“
Der Sturm ebbt nicht ab, er hört einfach auf. Vögel zwitschern, die Sonne lacht.
Der Widersacher steht vor mir und klappt das Kästchen zu. „Endlich einmal einer, der fair gewinnt.“
„Das war’s?“, frage ich ungläubig.
„Ja, das war’s. Schönes Leben noch.“
Die Menschen setzen sich in Bewegung, die Uhren ticken wieder. Sie hasten an mir vorbei, rempeln mich. Sie wissen ja nicht.
Sie haben keine Ahnung.