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Der letzte Löffel
Das Meer versprühte Leben. Eine Lachmöwe beäugte mich misstrauisch, schwebte davon. Das Geisterschiff war auf Sand gelaufen; hagere, leere Gestalten glitten langsam auf den Strand hinunter. Einige waren fast durchsichtig, andere beinahe opak.
Die meisten suchten sich eine gemütliche Hafenkneipe oder legten sich in die Dünen, um schmale Sonnenstrahlen durch sich hindurch scheinen zu lassen. Ich sah mich um. Die breite Uferpromenade lag einsam da.
Es war viel Zeit vergangen seit meinem letzten Besuch. Seitdem war ich zweimal auf der Insel des Irrtums gestrandet, und das Schiff hatte mich Tage später wieder aufgenommen.
Langsam wanderte ich über das sandige Pflaster der Promenade.
Wie gerne hätte ich das Gras des Parks unter meinen Füßen gespürt! Sanft und kühl, so hatte ich es in Erinnerung. In diesem weichen Gras hatten Anja und ich gelegen. Vor dem Streit. Damals war ich noch am Leben gewesen.
»Ich will das nicht hören«, sagte sie und stand auf, nahm ihr Handtuch - es war das mit den niedlichen Kätzchen - und schüttelte die Grashalme heraus. Ich entgegnete nichts. Ich sah einfach nur zu, wie sie ging. Sie drehte sich nicht um, als sie den Rasen, den Park und mein Leben verließ.
Als ich tot war, kam ich noch einmal hierher. Ich legte mich neben sie in das Gras, und ich flüsterte: »Es tut mir Leid, ich wollte dir mit der Geschichte nicht auf die Nerven gehen. Ich dachte, du freust dich vielleicht mit mir. Wenn ich gewusst hätte, dass du so reagierst, hätte ich den Mund gehalten.«
Sie nahm nicht wahr, dass ich neben ihr lag. Aber sie hörte zu, und sie verstand, blieb ruhig liegen und verließ nicht den Park wie damals.
An diesem Abend bestieg ich das Schiff im Glauben, mein Versäumnis nachgeholt zu haben. In der Nacht, auf hoher See, nahm ich Abschied und sprang in das lebendige Meer. Ich versank, schwebte in der Kälte, aber ich tauchte wieder auf. Nach drei Tagen im salzigen Wasser strandete ich auf der Insel des Irrtums. Mein Dasein zwischen Leben und Tod war immer noch nicht zuende. Etwas musste ich noch erledigen. Etwas anderes.
Ich beobachtete, wie Hernand seine Aufgabe erledigte. Er hatte es vergleichsweise einfach. Sein ganzes Leben lang hatte jene Nacht Schatten auf seine Seele geworfen. Nun stand er auf der Brücke am Fluss, nur wenige Meter neben der Frau, die Mantel und Mütze trug, sich umsah, ihn nicht bemerken konnte, dann ein Bündel hervor holte und in den Fluss fallen ließ. Hastig eilte sie davon. Hernand sprang ins Wasser, holte das Neugeborene heraus und brachte es ins Krankenhaus. In dieser Nacht würde Hernand ins Meer des Lebens springen, und wir würden ihn niemals wieder sehen. Ich beneidete ihn um diese Erlösung.
Dann ging ich zum Bahnhof, die Treppe hinauf und immer geradeaus.
Am Ende des Bahnsteigs stand eine Bank. An ihrem einen Ende saß eine Krähe, am anderen saß ich und erforschte mich, meine Gefühle, das einzige, das ich noch hatte. Den anderen fiel früher oder später ein, aus welchem Grund sie noch zwischen Leben und Tod segelten. Sie erledigten ihre Aufgaben und das Meer nahm sie für immer auf. Aber ich? Welches Spiel musste ich zuende spielen, welche Aufgabe erfüllen? Das letzte Kapitel lesen, oder die letzte Seite meiner Geschichte schreiben? Die schlimmsten Lügen eingestehen und bereuen, mich verabschieden, damit das Leben wieder im Gleichgewicht war, damit ich wieder schlafen konnte, für immer?
Die Krähe sah mich neugierig an, während ich an meinen zweiten Versuch zurück dachte. Es ging um Hogi, meinen Schulfreund. Damals war ich noch am Leben gewesen.
»Keine Lust«, sagte Hogi, »das ist nichts für mich. Ich kenn da doch keinen.« Ich verkniff es mir zu entgegnen, dass er außer mir überhaupt keinen Freund hatte, und dass er sich nicht ständig isolieren sollte. »Denkst du, ich kenne da alle? Aber ist doch nett, dass Micha dich auch eingeladen hat, oder?«
»Du kannst mir ja hinterher erzählen, wie es war.« Dies sagte Hogi allerdings in einer Weise, als interessiere es ihn absolut nicht, was er versäumen würde. Ich selbst hatte auch keine allzu große Lust, die Leute vom Dorf zu treffen. Sie rauchten und fuhren Motorrad. Sie machten sich ständig über uns lustig. Hogi würde wieder den ganzen Abend am Fenster stehen und mit dem Fernglas Züge beobachten. Er führte genau Buch darüber, welche Lokomotiven er sah und ob die Züge pünktlich waren.
Auf der Party lernte ich May kennen. Danach hatte Hogi gar keinen Freund mehr. Ich hatte keine Zeit mehr, die ich mit ihm und den Zügen verschwenden konnte.
Als ich tot war, besuchte ich ihn noch einmal. Er stand am Fenster, einen Spiralblock mit Kugelschreiber in der Hand. Der D_246 aus Leningrad fuhr vorbei, er hatte 13 Wagen, am Ende hingen die Kurswagen nach Paris. »Paris«, sagte ich zu ihm, während ich neben ihm im zweiten Stock schwebte, »hat riesige Bahnhöfe. Und es ist die romantischste Stadt der Welt. Vielleicht fahre ich mal mit May hin. Natürlich mit dem D_246. Und du?«
Eine Woche später sah Hogi im Bus zur Schule Vany zum ersten Mal. Sie waren schon ihr ganzes Leben im gleichen Bus zur Schule gefahren, jeden Morgen, aber er hatte sie nie wahrgenommen. Er begann, Deo zu benutzen, zog öfter frische Klamotten an und ging zum Zahnarzt. Es wurde nichts aus den beiden, aber er bemühte sich.
Auch an jenem Abend, nachdem ich Hogi am Fenster besucht hatte, dachte ich, ich würde das Geisterschiff zum letzten Mal betreten. Ich erinnere mich genau daran, wie die glitschigen Planken unter mir knarrten, als ich mich erneut verabschiedete und zum zweiten Mal ins Meer des Lebens sprang. Wieder umfing es mich, kalt und hart, und es stieß mich hervor, spie mich aus auf den Strand der Insel des Irrtums.
Vor fünf Tagen hatte mich das Geisterschiff von der Insel abgeholt. Und nun saß ich hier auf dem Bahnsteig, hatte die Augen geschlossen, und durch die halb transparenten Lider nahm ich die Welt wahr, als verdecke ein schmutziges Fenster den Blick zurück auf mein Leben.
Ich sah die Krähe an. »Wem schulde ich noch etwas?«, fragte ich sie.
»Vielleicht kam es gar nicht erst dazu«, antwortete der Vogel, breitete die Flügel aus und flog davon.
Ich sah dem Tier lange nach. Die Gefühle, die in meinem Körper umher irrten, begriffen seine Antwort nicht sofort.
Was sollte ich tun, in welchen Zug musste ich steigen, um meine Aufgabe zu erfüllen, wen sollte ich treffen, wem verzeihen? Musste ich einen Baum pflanzen oder einen Teller leeren?
Augenblick.
Teller. Löffel. Sunny. Ich hatte ihren Blick vergessen.
Damals war ich noch am Leben gewesen.
Es war Zufall, dass wir beide auf dieser Feier waren. Es war der fünfzigste Geburtstag meines Onkels, aber Sunny war nur da, weil sie Oma Tann mit dem Auto her gefahren hatte. Offenbar hatte mein Onkel sie überredet, einfach zu bleiben, schließlich müsse doch irgendjemand das ganze teure Essen vertilgen.
Wir trafen zufällig am Buffet zusammen, füllten Schokopudding auf unsere Teller. Sie lachte, als wir feststellten, dass nur noch ein Löffel da lag. »Nimm du ihn, ich werde schon irgendwo einen anderen finden«, sagte ich artig.
Wir wechselten nie wieder ein Wort miteinander.
Als ich tot war, kam ich noch einmal hierher.
»Wir können ja abwechselnd essen«, schlug ich in dieser Zeitlinie vor.
Sie lachte so laut, dass sie sich die Hand auf den Mund legte und verstohlen prüfte, ob uns jemand beobachtete. »Können wir machen«, sagte sie. Wenig später saßen wir etwas abseits auf einer Stufe und schaufelten uns abwechselnd und gegenseitig Schokopudding in den Mund. Die Reste leckten wir uns gegenseitig von den Lippen. Wir redeten und küssten uns, bis Oma Tann dann doch irgendwann nach Hause gefahren werden musste. Zufälligerweise war es kein großer Umweg zu meiner eigenen Wohnung. Oma Tann freute sich, dass ihr Enkel sie mit nach Hause brachte. In dieser Nacht waren wir einander sehr nahe und genossen jeden Sekundenbruchteil. Am folgenden Tag zündete ich eine Kerze an und dankte damit dem Leben für dieses Geschenk.
In dieser Nacht verabschiedete ich mich endgültig von den anderen Geistern auf dem Schiff. Nicht einem andern Menschen hatte ich etwas geschuldet, sondern dem Leben, dessen Geschenk ich seinerzeit nicht angenommen hatte.
Ich kletterte schon fast völlig durchsichtig über die Reling, sah ein letztes Mal zum tiefblauen Himmel empor und sprang dann ins Meer. Tiefer und tiefer sank ich, bis mich das Leben für immer in sich aufgenommen hatte.
Widmung: für Su