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Der letzte Mensch

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18.08.2002
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Der letzte Mensch

Boccia spielen alle. Weil es Gott spielt. Keiner spielt es so gut wie er, und darum darf er als einziger auch die Regeln verändern. Ein Recht, von dem er regelmäßig Gebrauch macht: Erst seit Kurzem dürfen die großen Kugeln die kleine Weiße berühren, ja dies wurde zum eigentlichen Ziel des Spieles erklärt. Die kleine weiße Kugel hat jeglichen Schutz gegen die großen verloren; verraten und ausgesetzt liegt sie nun immer da und wird von einer Ecke zur anderen gestoßen, und mit jedem Mal steigt die Punktezahl des Werfers um das Doppelte.
Gott höchstpersönlich steht auf dem englischen Rasen und spielt Boccia. Der Rasen ist im weiten Bogen eingeschlossen von seiner Panzerglas-Residenz. Es ist gar nicht so lange her, dass man ihn "Gott" oder auch "Eure göttliche Majestät" nennt. Genaugenommen erst seit wenigen Stunden. Selbst er weiß es noch nicht, aber dieser Tag wird das Ende aller seiner Sorgen bedeuten.

"Klick" macht es, als der dicke Mann mit Stiernacken eine große Braune auf die kleine Weisse wirft. "Hallo" ruft jemand aus der Ferne, welcher auf den Mann zuläuft.
"Habt einen Guten Tag!", hechelt der 212. seiner Dienerschaft, dessen Mitglieder er nie mit Namen anredet, "Freudig sage ich Eurer Majestät, dass Es uns gelungen ist."
Sogleich grinste Gottes Gesicht. Er legt väterlich beide Hände auf die Schultern seines Dieners, was wohl soviel wie "Danke" bedeutet. Der dicke Mann mit Stiernacken, der jetzt "Gott" heißen darf, bedankt sich nicht bei seinen Dienern. Gott lässt die Bocciakugel, die er eben werfen wollte, aus der Hand fallen und schlendert über den grünen Rasen seinem Palast entgegen.

Die Menge, die sich vor dem Glaspalast, selbstverständlich dem teuersten Gebäude der Welt, versammelt hat, ist im Begriff die Hunderttausend zu erreichen. Über Kameras sind die restlichen Milliarden mit dem Spektakel verbunden. Alle Augen scheinen erwartungsvoll auf einen Punkt zu starren. Welches Majestätsgebäude hat sie nicht, eine prunkvolle, edle und riesengroße Balkonpforte, durch die der König schreitet, um von oben herab einen gönnerhaften Blick auf seine Schützlinge zu werfen. Diese hier ist aus Lotussilber. Filigran war bei aller Anstrengung nicht mehr aufzutreiben und man verlegte sich auf andere Rohstoffe, die noch verfügbar waren. Trompeten tröten frisch aus dem Synthesizer und kündigen an, was die Welt nicht gern vergisst, eine Rede des wichtigsten Menschen der Welt, "Gott". Wie ein Nordseesturm bricht das hysterische Jubelgekreisch der artigen Bürger los, als sich die Torflügel öffnen. Sie strecken die Arme aus nach ihrer Quelle Des Richtigen Weges, einem hübschen allseits begehrten Jüngling in Idealgestalt. Er sieht aus wie zweiundzwanzig, wie immer. Sein glattes, makelloses Gesicht trägt seine Entschlossenheit wie die Bürger ihr Make-Up. Seine Stirn ist von einer Falte der Weisheit zertrennt. Plötzlich ist alles still - auf den Punkt. Gott beginnt zu reden.

"Meine lieben Weltbürger!
Dies ist ein Tag, an dem das Wort 'Gemeinschaft' aus dem Lügenmeer gerettet ist.
Es ist ein Tag, an dem die Freiheit nicht mehr nur auf dem Papier steht.
Es ist ein Tag, an dem die leidliche Volksverdummung und Propaganda ein Ende hat.
Denn es ist der Tag, auf den die Welt sehnlichst gewartet hat und das Jahr Null beginnt."

So schnell wie der Nordseesturm verschwunden ist, kommt er wieder. Ein mechanisches Meer von Händen streckt sich in die Höhe, reißt sich aus nach dem gleißenden Licht der einzigen Wahrheit. - Dann herrscht wieder Stille. Gott ruft aus:
"Der Faschismus ist Vergangenheit - Die Demokratie die Zukunft."

Der dicke Mann mit Stiernacken wendet sich wieder seinem Spiel zu. Vieles ist einfacher geworden. Heute ist es noch mehr. Er betätigt den roten Knopf, pflanzt seinen mächtigen Körper auf den Liegestuhl, und schaut der Maschine beim Spielen zu. Dann klappen seine Lider zu - er schläft ein.

[highlight]Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE (s. Profil)[/highlight]​

 

Hallo floh,

so ganz habe ich Deine Absicht nicht verstanden, ist der Volksredner ein Stellvertreter (machinisiert ?)?
Begrifflich habe ich folgende Anmerkungen: „grinste der Mund“ nur der Mund? Hört sich seltsam an. „ist im Begriff zahlenmäßig“ wie sonst, außer zahlenmäßig?
„Vieles ist einfacher geworden. Heute ist es noch mehr.“ „einfacher“ ist nicht mit „mehr“ steigerbar.

Leider kann ich im Moment nicht mehr darüber sagen, alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 
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Hallo Woltochinon,

Jau, kann man so sagen, der Volksredner sei maschinisiert. Eigentlich ist es auch egal, genauso gut kann er eine abgerichtete Puppe sein oder ein Hologramm - sagt dasselbe aus.

Grinsender Mund: Damit wollte ich nur das Blickfeld des Lesers einschränken ("Zoom"). Außerdem "klingt" es so irgendwie besser.

"zahlenmäßig" werde ich streichen, da hast du Recht, danke.

Das 'mehr' bezieht sich nicht auf "einfacher", sondern auf "Vieles".


Danke,
FLoH.

 

Hallo floh!

Also ganz steig ich auch noch nicht durch, bei Deiner Geschichte.
Ich habe nur ein grobe Ahnung, was Du damit vielleicht aussagen willst...

Was ich schon mal nicht weiß, ist die Bedeutung der kleinen weißen Kugel. Die Tatsache an sich, daß Gott Boccia spielt, kann ich schon eher nachvollziehen, glaub ich jedenfalls...
Ich denke, hinter Deiner Geschiche steckt die Aussage, daß Gott (oder die Kirche) immer, auf jeden Fall mitspielt, egal, welche Färbung die Regierung hat. Er spielt mit der braunen Kugel genauso, wie mit allen anderen.
Der Glaspalast soll alles sauber und rein erscheinen lassen? Hinter ihm ist er obendrein gut geschützt, während er sein Spiel spielt und niemand sieht dahinter, obwohl alles so klar erscheint (wodurch man nicht das Gefühl bekommt, irgendetwas nicht zu sehen). Daß er in Wirklichkeit ein "dicker Mann mit Stiernacken" ist, sieht man ebensowenig, auf dem Balkon erscheint er als hübscher, allseits begehrter "Jüngling in Idealgestalt" (erinnert mich an die außen hui-innen pfui-Darstellung von Sebastian: "Blind auf Knien").

Und die Menschen sehen es tatsächlich nicht, "mechanisch" jubeln sie ihm zu, und merken gar nicht, wie egal ihm in Wirklichkeit alles ist, es ist ihm wurscht, wer, wie, wann herrscht, denn er spielt ja auf jeden Fall mit.
Was Du aber mit dem Schluß meinst, hat er seine Macht der Technik übergeben, aus Bequemlichkeit?

Naja, vielleicht lieg ich ja auch ganz daneben, dann hoffe ich, daß Du mir ein bisschen weiterhilfst... ;)

Ein paar Anmerkungen noch am Schluß:

"Erst vor Kurzem dürfen die großen..."
- seit Kurzem

"die kleine Weisse", "...weisse"
- Weiße, weiße --> ß kommt nach lang gesprochenem Selbstlaut und nach einem Zwielaut (Diphtong)

"Es ist nicht lange her, dass man ihn ... nennt."
- nannte

"Eure Majestät lasse sich ausgerichten, dass Es uns gelungen ist."
- In Befehlsform wird wohl kein Diener mit seinem Herren sprechen... "Darf ich Eurer Majestät ausrichten..." wäre eine Möglichkeit

"...Guten Tag," hechelt der 212. seiner Dienerschaft"
- Tag", hechelt...
- Zahlen bitte ausschreiben

"Sogleich grinste der Mund des Gottes."
- der Mund Gottes.
- Finde diese Formulierung auch seltsam, nicht unbedingt zoommäßig, wie Du das wolltest, sondern weil man doch nicht nur mit dem Mund grinst, sondern auch und vor allem mit den Augen...

Was ist Lotussilber?
Filigran ist kein Material, sondern bedeutet: besonders zart, zerbrechlich

"Quelle Des Richtigen Weges"
- des richtigen Weges

Liebe Grüße,
Susi

 

Hallo Susi,

Danke nochmal für Deine Zeit. Deine Korrekturen habe ich gerne beherzigt.

"Es ist nicht lange her, dass man ihn ... nennt."
- nannte

"nennt", weil das Satzverb "ist" = Präsens ist. Erst habe ich die Geschichte in die Vergangenheit gesetzt, aber das war irgendwie hinderlich was ihre Wirkung betrifft.

Was ist Lotussilber?
Filigran ist kein Material, sondern bedeutet: besonders zart, zerbrechlich

Michael Ende, den ich sehr verehre, hat in seiner Unendlichen Geschichte Querquobads Palast aus "Silberfiligran" gebaut. Das habe ich von ihm "geklaut" wenn du so willst.

Lotussilber sei eine Silberlegierung (Kann man Silber legieren - hoffe doch.) mit Eigenschaften der Lotusblume, zum Beispiel der Disakzeptanz von Schmutz.

"Quelle Des Richtigen Weges"
- des richtigen Weges

Oh Nöö, Lass Mir Doch Mal Die Betonung Von Eng Zusammen Gehörigen Worten Wenn Sie Einen Titel Bilden :).

FLoH.

 

Geschrieben von Häferl
Filigran ist kein Material, sondern bedeutet: besonders zart, zerbrechlich

Nö, Filigran ist eine ausgelatschte Metapher für "zart, zerbrechlich". Ursprünglich handelt es sich dabei schon um Material bzw. um eine Materialveredlungstechnik; hier von "Rohstoffen" zu sprechen ist natürlich überzogen.

Wie althumanistisch gebildete Leute wie wir unschwer erkennen, leitet sich der Begriff "Filigran" von den lateinischen WÖrtern filum (Draht) und granum (Korn) ab, bedeutet also in etwa "gekörnter Draht". Filigran erfreute und erfreut sich von der Antike (Funde in Troja!) bis heute großer Beliebtheit als Trachtenschmuck, insbesondere in den orientalischen Ländern. Früher wurden dabei geflochtene Drähte (Gold oder Silber) auf eine gold- oder silbergesprenkelte Fläche gelötet, heute lässt man die Fläche meist wegfallen, so dass das Schmuckstück nur aus dem ornamentalen Ensemble zerbrechlicher Drähte besteht.

Darüber hinaus gab's im 19. Jahrhundert wohl auch bestimmte Porzellanprodukte, die mit "Filigran" betitelt wurden, das weiß ich aber nicht sicher.

cu
luckyblue

 

Grüß Dich floh,
"Der letzte Mensch" hat mir sehr gut gefallen, die Geschichte die Du geschrieben hast, nicht der Typ. Ich bin schon ziemlich grufti und habe mich immer über die Massenhysterie gewundert. Wir hatten eine Gröfaz und haben jetzt einen ..... Minister, der bis vor kurzem ganz ober auf der Beliebtheitsskala geführt wurde. Sie sind Dein Gott. Ich schreibe falsches Deutsch, aber bitte so lassen!
Ich finde, das hast Du unheimlich gut umgesetzt.
Gruß Siggi

 

Schön, dass dir die Geschichte gefallen hat :). Dieser meiner Geschichte begegne ich heute allerdings mit einiger Skepsis, was das Inhaltliche betrifft: Ich finde sie nicht in sich schlüssig ("integer") genug. Aber umso mehr freue ich mich, dass du das anders siehst.

FLoH.

 

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