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Der letzte Mensch
Boccia spielen alle. Weil es Gott spielt. Keiner spielt es so gut wie er, und darum darf er als einziger auch die Regeln verändern. Ein Recht, von dem er regelmäßig Gebrauch macht: Erst seit Kurzem dürfen die großen Kugeln die kleine Weiße berühren, ja dies wurde zum eigentlichen Ziel des Spieles erklärt. Die kleine weiße Kugel hat jeglichen Schutz gegen die großen verloren; verraten und ausgesetzt liegt sie nun immer da und wird von einer Ecke zur anderen gestoßen, und mit jedem Mal steigt die Punktezahl des Werfers um das Doppelte.
Gott höchstpersönlich steht auf dem englischen Rasen und spielt Boccia. Der Rasen ist im weiten Bogen eingeschlossen von seiner Panzerglas-Residenz. Es ist gar nicht so lange her, dass man ihn "Gott" oder auch "Eure göttliche Majestät" nennt. Genaugenommen erst seit wenigen Stunden. Selbst er weiß es noch nicht, aber dieser Tag wird das Ende aller seiner Sorgen bedeuten.
"Klick" macht es, als der dicke Mann mit Stiernacken eine große Braune auf die kleine Weisse wirft. "Hallo" ruft jemand aus der Ferne, welcher auf den Mann zuläuft.
"Habt einen Guten Tag!", hechelt der 212. seiner Dienerschaft, dessen Mitglieder er nie mit Namen anredet, "Freudig sage ich Eurer Majestät, dass Es uns gelungen ist."
Sogleich grinste Gottes Gesicht. Er legt väterlich beide Hände auf die Schultern seines Dieners, was wohl soviel wie "Danke" bedeutet. Der dicke Mann mit Stiernacken, der jetzt "Gott" heißen darf, bedankt sich nicht bei seinen Dienern. Gott lässt die Bocciakugel, die er eben werfen wollte, aus der Hand fallen und schlendert über den grünen Rasen seinem Palast entgegen.
Die Menge, die sich vor dem Glaspalast, selbstverständlich dem teuersten Gebäude der Welt, versammelt hat, ist im Begriff die Hunderttausend zu erreichen. Über Kameras sind die restlichen Milliarden mit dem Spektakel verbunden. Alle Augen scheinen erwartungsvoll auf einen Punkt zu starren. Welches Majestätsgebäude hat sie nicht, eine prunkvolle, edle und riesengroße Balkonpforte, durch die der König schreitet, um von oben herab einen gönnerhaften Blick auf seine Schützlinge zu werfen. Diese hier ist aus Lotussilber. Filigran war bei aller Anstrengung nicht mehr aufzutreiben und man verlegte sich auf andere Rohstoffe, die noch verfügbar waren. Trompeten tröten frisch aus dem Synthesizer und kündigen an, was die Welt nicht gern vergisst, eine Rede des wichtigsten Menschen der Welt, "Gott". Wie ein Nordseesturm bricht das hysterische Jubelgekreisch der artigen Bürger los, als sich die Torflügel öffnen. Sie strecken die Arme aus nach ihrer Quelle Des Richtigen Weges, einem hübschen allseits begehrten Jüngling in Idealgestalt. Er sieht aus wie zweiundzwanzig, wie immer. Sein glattes, makelloses Gesicht trägt seine Entschlossenheit wie die Bürger ihr Make-Up. Seine Stirn ist von einer Falte der Weisheit zertrennt. Plötzlich ist alles still - auf den Punkt. Gott beginnt zu reden.
"Meine lieben Weltbürger!
Dies ist ein Tag, an dem das Wort 'Gemeinschaft' aus dem Lügenmeer gerettet ist.
Es ist ein Tag, an dem die Freiheit nicht mehr nur auf dem Papier steht.
Es ist ein Tag, an dem die leidliche Volksverdummung und Propaganda ein Ende hat.
Denn es ist der Tag, auf den die Welt sehnlichst gewartet hat und das Jahr Null beginnt."
So schnell wie der Nordseesturm verschwunden ist, kommt er wieder. Ein mechanisches Meer von Händen streckt sich in die Höhe, reißt sich aus nach dem gleißenden Licht der einzigen Wahrheit. - Dann herrscht wieder Stille. Gott ruft aus:
"Der Faschismus ist Vergangenheit - Die Demokratie die Zukunft."
Der dicke Mann mit Stiernacken wendet sich wieder seinem Spiel zu. Vieles ist einfacher geworden. Heute ist es noch mehr. Er betätigt den roten Knopf, pflanzt seinen mächtigen Körper auf den Liegestuhl, und schaut der Maschine beim Spielen zu. Dann klappen seine Lider zu - er schläft ein.