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Der letzte Traum
Der letzte Traum
Sie war dabei, als sie die letzten Blumen aus der Stadt brachten. Sie befand sich gerade auf dem Heimweg von der Arbeit in einer kalten und windigen Dezembernacht, und sie zog ihre viel zu dünne Jacke enger um sich, als sie den leeren Straßen zu ihrer Wohnung folgte.
Der Lastwagen stand an der Ecke, wo sich das kleine Blumengeschäft befand. Der Laden war eines der wenigen Geschäfte in ihrem Stadtviertel und nur schlecht besucht gewesen, sofern sie das beurteilen konnte. Die Leute hier kauften sich eben keine Blumen. Sie selber war mehrmals vor der Auslage des Geschäftes stehen geblieben und hatte hinein gespäht. Etwas in ihr hatte ihr immer gesagt, dass es sich um echte Pflanzen handelte, die der einarmige Alte in seinem Laden stehen hatte. Etwas von Gemütlichkeit, das von dem schmuddeligen Fliesenboden und den halb blinden Fenstern ausging, die mit Frakturschrift in abblätterndem Gold versehen waren.
Und nun brachten sie die Blumen weg. Der Laster war weiß und trug einen schmucken grünen Schriftzug. „Schöne Grüße von Blumen Sander!“ stand darauf und es sollte wohl so aussehen, als liefere er Pflanzen an. Doch sie wusste, dass es nicht so war.
Sie blieb nicht stehen, zog nur die Schultern hoch und fröstelte, nicht nur wegen der Kälte, als sie einen flüchtigen Seitenblick auf die Aufschrift warf. Ein Mercedes fuhr an ihr vorbei und sie wandte den Blick ab. Es war nicht gut, hier, wo beinahe jeder ein Auto besaß, noch Aufmerksamkeit zu erregen, wo sie doch ohnehin schon zu Fuß ging.
Als sie die Gasse einbog, in der ihre Wohnung lag, passierte sie der Lastwagen. Die „Schöne Grüße!“ Aufschrift kam ihr wie blanker Hohn vor. Sie kuschelte ihr Gesicht enger in den Synthetikschal und beeilte sich, nach Hause zu kommen.
Ihre Wohnung war Anachronismus. Sie besaß sowieso nur eine winzige Kammer mit einer Kochstelle und ein Badezimmer auf der anderen Seite des Flurs, aber diese Kammer war ihre einzige und stets letzte Zuflucht. Sie hatte alte Möbel gesammelt, aus Holz. Das war zwar wurmstichig und morsch geworden, aber es roch gut und echt. Ihre bunten Vorhänge, die langsam in der feuchten Umgebung zu schimmeln begannen, waren aus Baumwolle, und wurden in dieser Art schon seit Jahren nicht mehr hergestellt. Bilder auf echtem Papier und bunte Tücher verhüllten die kargen Plastikwände und auf ihrem Bett saß – sozusagen als Krönung – ein alter Teddybär mit nur einem Arm. Bei seinem Anblick musste sie an den Besitzer des Blumenladens denken und schauderte.
Sie entkleidete sich, warf Hose, Hemd und Schuhe in den Wiederverwerter und öffnete die Klappe in der Wand, hinter der ihr Schlafanzug für die Nacht bereit lag. Sie musste ihn heraus nehmen, sonst würde sie Misstrauen erwecken. Zwar gab es keinen Zwang, die vom Staat gestiftete Kleidung zu tragen, aber man wurde als seltsam betrachtet, wenn man es nicht tat. Sie wollte nicht wieder in die Psychiatrie zurück. Dort würde man ihr nur wieder erzählen, wie wunderbar diese Welt doch war.
Sie ließ den Schlafanzug – er war himmelblau – auf den Boden fallen und zog die Schublade unter ihrem Bett heraus. Darin lag – ganz neu und noch in seiner Plastikverpackung – ein baumwollener Schlafanzug, knallrot mit weißen Elefanten bedruckt. Er war ihr ein paar Nummern zu groß und bis jetzt hatte sie nicht gewagt, ihn zu tragen. Es war wie eine heilige Reliquie, die sie jeden Tag betrachtete und dann wieder zurück legte. Sie wartete noch auf die Zeit, in der es ihr angemessen schien, den Schlafanzug zu tragen.
Sie schlüpfte in das hellblaue Kleidungsstück und griff nach der Traumpille, die ebenfalls hinter der Wandklappe auf sie wartete. Diese musste man nehmen, sonst fiel man wirklich auf. Seit langem traute sich niemand mehr zu träumen.
Sie schlief fest und ohne Träume. Am nächsten Morgen erwachte sie ausgeruht und frisch. Die Wandklappe hielt ein neues Hemd und eine neue Hose für sie bereit, in heiteren Farben und ihr wie auf den Leib geschneidert. Den leichten Einstich in ihrer Hand, als die Blutprobe gezogen wurde, spürte sie kaum noch.
Auf dem Weg zur Arbeit passierte sie den Blumenladen. Die Fenster waren noch immer blind und der Boden noch immer schmutzig, doch es schimmerte kein Charme mehr daraus hervor. Der einarmige Mann hatte nun einen jungen Gehilfen in schmucker weißer Uniform mit einem grünen Schriftzug darauf, der sich anschickte, die Glasscheiben zu putzen. Sie zog die Schultern hoch und lief weiter, ohne sich nochmals zu dem Geschäft umzusehen.
Sie träumte nicht, während der Arbeit. Sie servierte Bier und Wein und Eintopf mit einem Lächeln, das so künstlich war, wie der Inhalt der Schüsseln und Gläser. Die anderen Menschen lächelten ebenso zurück. Bei ihnen sah es nicht so gezwungen aus. Sie fragte sich, ob es überhaupt noch echte Menschen gab. Dann fragte sie sich, ob vielleicht alle anderen das Gleiche dachten.
Auf dem Rückweg lief sie an einem Antiquitätengeschäft vorbei. Die Scheiben waren ebenso blind, wie die des Blumenladens und für einen Moment spürte sie den Wunsch, hinein zu spähen. Es war sinnlos. Eine Taschenuhr aus echtem Kunstgold mit Kette. Ein Synthetik-Ölgemälde. Ein Bonsai aus Syn-Holz, gewachsen, aber nicht echt.
Traurig wandte sie sich ab. Der Weg nach Hause kam ihr länger vor, als je zuvor. Vor den Stufen, die zu ihrer Wohnung hinunter führten, lag ein Zweig.
Sicherlich hatte der Zweig schon am vorherigen Tag dort gelegen. Ein paar Leute waren darauf getreten und er war schmutzig und hatte an mehreren Stellen Rinde verloren. Aber es war ein echter Zweig, wahrscheinlich vom Laster gefallen, abgebrochen auf dem Transport. Sie hob ihn auf und trug ihn behutsam in ihre Wohnung. Sie füllte ein Glas mit Wasser und stellte ihn hinein. Ein paar grüne Blätter daran hingen mehr oder weniger traurig herab. Die Wunden in der Rinde rochen nach Frühling, wie es ihn früher gegeben hatte.
Der Zweig war ihr Zeichen. An diesem Abend ließ sie den sonnengelben Schlafanzug hinter der Klappe liegen, genauso wie die Traumpille. Sie zeriss die dünne Plastikhülle um den roten Baumwollstoff herum und vergrub ihre Nase zwischen den weißen Elefanten. Es roch fremdartig und erregend. Sie streifte das Kleidungsstück über, warf der Klappe mit der Traumpille einen verächtlichen Blick zu und kroch dann zwischen die Decken ihres Bettes.
Der Geruch der Baumwolle und der Duft des Zweiges trugen sie davon in einen wirren, beängstigenden Traum. Dunkle Wirbel umfingen sie, Monster fielen sie aus der Dunkelheit an und sie stürzte lange, sehr lange in eine tiefe Schlucht. Immer wieder erwachte sie, schweißgebadet und angstgeplagt, nur um danach wieder in einen unruhigen Schlaf zu fallen. Am nächsten Morgen war sie übermüdet, erschreckt und verängstigt.
Erschöpft ging sie zur Arbeit. Die Menschen im Lokal schienen ihr noch ferner, als sonst. Trotz allem hielt sich ihr Stolz, dass sie es getan hatte. Die Pille verweigert. Sie würde es wieder tun.
Eine Woche lang träumte sie. Eine ganze Woche Finsternis in ihrem Schlaf und Müdigkeit beim Aufwachen. Und jeden Morgen starrte ihr Zweig sie vom Nachttisch anklagend an. Am siebten Morgen zerbrach etwas in ihr.
Das Erste, was sie tat, war, den Schlafanzug, den Zweig, die Vorhänge und den alten Teddy in den Wiederverwerter zu werfen. Sie kleidete sich an und machte sich auf den Weg zur Arbeit mit dem Entschluss, auf dem Heimweg in einem Kunstmöbelgeschäft vorbei zu gehen.
Irgendwo wurde wieder eine Akte geschlossen.