Der letzte Waggon
Der letzte Waggon
Mai 2020
Die Sonne scheint auf mein Gesicht.
Meine Augen erblicken diesen Zug, diesen endlos langen Zug.
Die Anzeigetafel zeigt Berlin an. Meine Heimat.
Ich lächle.
In 10 Minuten fährt dieser Zug ab und die Menschen stürmen hastig in den Zug.
Ich richte meine Gesichtsmaske. ,,Zutritt nur mit Mund- und Nasenschutz gestattet'', zieren Schilder jede Tür dieses Zuges.
Ich mische mich unter die Menschenmenge, in Richtung des letzten Waggons. Der letzte Waggon, am anderen Ende des Zuges, dieses unglaublich langen Zuges.
Die letzten Türen vor denen keine Seele steht. Niemand läuft diesen weiten Weg, niemand außer mir.
Der letzte Waggon, in den ich mich setze und verträumt aus dem Fenster schaue.
Der letzte Waggon, den plötzlich jemand betretet. Er.
Er, ein Unbekannter. Er, dessen Augen mich zum Schmelzen bringen sollten.
Er, der gerade dabei ist den Gang entlangzulaufen, in diesem endlos langen Zug.
In dem letzten Waggon abgeschnitten von allen Menschen.
Er, der stehen bleibt, als er mich erblickt. Er, der sich auf die Plätze rechts von mir setzt.
Ein Gang, der uns trennt.
Ein Gang, der diese lodernden Herzen trennt.
Er, der mit so vertraut vorkommt. Seine großen, dunklen Augen, die meine Augen erblicken. Stille.
Eine gefühlte Ewigkeit, in der wir uns ineinander verlieren.
Ich schaue weg. Ich spüre seine Blicke immer noch auf mir. Seine Blicke, die meinen Körper mustern.
Seine Blicke, die ich auch in 10 Jahren vor meinem offenen Auge in Erinnerung behalten sollte.
Meine Blicke, die er magnetisch anzieht.
Unsere Blicke, die eins sind. Unsere Blicke, die wir sprechen lassen. Unsere Blicke, die diesen letzten, leeren Waggon mit Liebe erfüllen.
Meine Station. Meine Station, die wir erreicht haben. Meine Station, in der sich unsere Wege trennen.
Meine Heimat, auf die ich mich nicht mehr freue. Meine Heimat, die Trennung bedeutete.
Ich stand auf; seine Blicke immer noch auf mir.
Seine Blicke , die mir bis zur Tür folgen und weit darüber hinaus. Meine Blicke, die ich gesenkt lasse. Meine Blicke, die kein einziges Mal zurückschauen.
Wie kann es in einem Raum so laut sein, obwohl niemand spricht?
Die Türen öffnen sich. Ich steige aus. Ich lasse ihn zurück.
Zurück in einen Waggon, der wieder ohne Liebe ist. In einem Waggon, der wieder kalt und leer ist. Der wieder leise ist.
Ich lasse ihn zurück in den letzten Waggon, den ich seit heute immer nehme- in der Hoffnung auf ein Wiedersehen.