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Der Leu
Der Leu
Nun kommt der Frühling. Wenn die Luft so riecht, dann muss der Lenz es sein, der da die ersten Fühler ausstreckt ins Leben. Das ist soweit nichts Eigenartiges, denn manchmal geht das über Nacht. Ein Mensch lenkt wachen, klaren Blickes schnelle Schritte in eine schwarz gähnende Fußgängerunterführung. Zwölf Stufen tiefer stoppt er plötzlich; starr fast und den Rücken durchgedrückt, mit geblähten Nüstern witternd. Denn: zwölf Stufen tiefer ahnt er etwas, das riecht nicht nach Frühling. Zoo, denkt der Mensch, einer spontanen Eingebung folgend, es riecht nach Zoo. Das muss zu präzisieren sein, das ist zu präzisieren. Immer ist etwas zu präzisieren. Noch zwei Treppenstufen tiefer: Das ist Raubtiergeruch! Das ist bekannter Geruch. Auch Frühling ist bekannter Geruch. Dieser aber auch. Er Bewegt sich Stufe um Stufe hinab in etwas Fremdes, wachsam und tastend, denn den Himmel lässt er oben nun zurück, blau und einsam und den Frühling und den Duft vom Frühling auch.
Das verchromte Rohr rechterhand ist das, was wohl gemeinhin Handlauf geheißen und doch hier die Hand nicht zum darauf Laufen animiert. Glänzt noch etwas in altem Glanz und reflektiert schwach das, was an Sonnenstrahlen die Tiefe erreicht. „Fass mich nicht an!“ scheint es dem entgegenzuwispern, der das zu hören vermag und „begreife mich nicht, denn mein schwach blinkernder, blitzender Schein trügt das Auge des naiven Betrachters. Auf mir haften die Hände der Tausenden, die vor dir hier die Oberwelt verließen und sich halten wollten, halten mussten!“. Die siebzehnte Stufe ist genommen. Noch vermischen sich zwei Gerüche, Gase, zwei chemische Verbindungen. Noch kollidieren die Atome, Neutronen, Protonen und versuchen sich zu einigen auf Eines, versucht das Oben das Unten und das Unten das Oben zu übermannen und aufzulösen, auszulöschen. Es ist schlimmer, als es ganz unten - raubtierhaft duftend - werden wird, denn es ist hier, auf der siebzehnten Stufe, nicht zu präzisieren. Oder doch allein als Unpräzisierbares. Hier auf der siebzehnten Stufe ist das, was die Nase einzieht nicht der Frühling und nicht der Zoo. Vielleicht höchstens, als eine Assoziation: Der Zoo im Frühling.
Dann nämlich, wenn Mann und Frau mit Kindern breite, von Büschen und Sräuchern und einigen dicken alten knorrigen Bäumen gerahmte Kieswege beschreiten, gutgelaunt, denn die Pinguine sind eben beguckt, belauscht, begeistert bestaunt worden mit Gekreisch und hellem Lachen, Kichern, Glucksen – ach, so niedlich! Viel niedlicher als die Affen oder Rhinozerosse. Dann, wenn die Biegung des Weges gerade vor Augen liegt, fragt der Vater mit einem Male: „Riecht ihr es?“ tief und intensiv die Luft einsaugend, witternd, wie seine haarigen Ahnen in grauer Vorzeit sich ganz aufrichtend und angstvoll in die Dämmerung des Dickichts starrend, angespannt bis in die äußersten Nervenenden, plötzlich bereit: „Riecht ihr es denn nicht?“ und die Frau, die Kinder neugierig mitwittern und sagen „Doch!“ und „Aah!“ und „Ja!“. Der Leader der Urgruppe stößt scharf und zischend, spannungsvoll aufgeladen durch zusammengepresste Lippen hervor: „Wir kommen jetzt zu den Löwen!“. Das liegt in der Luft und vermischt sich mit dem Frieden des Frühlingsgeruches, das ist kein Ort hier, um zu bleiben. Das ist ein Ort, der gemieden werden soll. Hier hat der große Leu, der größte von ihnen, der mit der schwarzen, dichten Mähne, der sein Rudel schon seit Ewigkeiten führt, seine Marken gesetzt. Das Buschwerk ist dicht an diesem Ort. Es ist schlecht einzusehen, dort die Biegung des Weges, der anschwellende Raubtiergeruch, die Furcht. „Lauf!“ scheinen die Beine aufgehetzt zu brüllen und nur mit Peitschenknall treibt das Hirn sie weiter dahin, wo die Luft dicker, ja beinahe breiig wird und ammoniakalisch triefend im tiefgrünen Unterholz hängt.
Die Kinder stoßen neugierige, aufgeregte Laute aus, die Schritte beschleunigen sich. Es drängt die Sippe wider jeglicher Vernunft hin zu dem Gefahrenherd. Denn hier, das wissen sie, ist ein Graben, ein Gitter, ein Schutz. Da ist Hüben und Drüben noch wohlig getrennt. Hier ist das Heute und gegenübergestellt das Gestern, welchem immerhin noch der Geruch des Gestern zugestanden wird. Nein, hier herrscht nicht die Gefahr, hier herrscht die Beherrschung der Gefahr und der Reiz und das Faszinosum der gebändigten und befristet befriedeten Urgewalt. Da streicht der Jäger von links nach rechts fünfzehn Meter und wendet und kehrt sich um und blickt kurz und gelangweilt. Dann wieder fünfzehn Meter, diesmal von rechts nach links, exakt die fünfzehn Meter, die ihm, der hier geboren wurde, das Alles, das Ewig und das Endliche sind. Zwischen dem Alles und dem Hier liegen acht Meter, fünf davon Graben, drei Gebüsch und Zaun – Niemandsland. Hier streift bloß die Luft vom Hüben zum Drüben und der leise Frühlingshauch trägt die Gase mit sich, wie schon zu oft. Der Vater, die Mutter, die Kinder wittern mit geblähten Nüstern. Hier findet der Angriff auf das ‚Ur’ in ihnen statt, da regt sich was - unbestimmbar und doch entsetzlich bestimmt. Ganz zur Flucht bereit, verharrt die Urhorde doch im gebannten Anblick des Entsetzlichen, des großen, des erhabenen, muskelbeladenen und doch unsagbar eleganten Königs.
„Puuh, das stinkt!“ lässt das blondgelockte Kind vernehmen, der Löwe sieht das anders – es hat seine Gründe. Mutter macht einige Fotos mit der Quicksnap. Zu viele und viel zu weit entfernt - zu viele Meter und zu viele Jahrtausende entfernt. Der Löwe, sein Muskelspiel, sein Gähnen, die fingerlangen, gebleckten Reißzähne werden fixiert und konserviert. Später wird dann ganz hinten im Bildraum des Fotos der kleine sandbraune Punkt erkennbar sein und Jahre später vielleicht wird man sagen: „Guck da, der Löwe!“ und Tage später, nach der Entwicklung, wird den Vater der wenig ehrfurchtgebietende Anblick des Miniaturtieres in Hochglanzqualität zu dem Stoßseufzer verleiten: „Ich brauche...wir brauchen endlich diese Digitalkamera! Mit Zoom!“. Und auch der Geruch wird dann weg sein. Und eigentlich wird der ganze Moment noch weitere Jahrtausende zurückliegen und noch entfernter sein, als diese acht Meter. Fünf Meter Graben, drei Meter Gebüsch und Zaun.
Vielleicht aber, denkt der Mensch auf der siebzehnten Stufe, wenn die einmal diese Unterführung betreten und auf der siebzehnten Stufe einen Moment nur ausharren würden, vielleicht würde das Kind mit Abscheu ausstoßen: „Puuh, das stinkt!“. Auch die Mutter würde witternd die Nase rümpfen und der Vater wohl in ur-zeitlicher Erregung abermals die Formel sprechen: „Riecht ihr das? Riecht ihr es denn nicht?“.