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Der Mann aus dem Spanischkurs
Verträumt steht Franziska im stickigen U-Bahn Waggon. Ein übergewichtiger Mann haucht ihr seinen Atem in den Nacken. Der Biergeruch wird kaum vom billigen Rasierwasser auf seinen feisten Backen übertüncht. Das grellpinke Kostüm und die echten Perlen am Hals der jungen Frau neben ihr können deren verbitterte Mimik nicht verschleiern. Schuppen haften auf dem grauen Blazer der unscheinbaren Person vor ihr, deren Geschlecht sich nicht bestimmen lässt. Franziska ist glücklich. Das Gefühl der Verliebtheit hat sich wohlig über ihre Welt gebreitet.
In der Station wird sie von dem frisch rasierten Mann aus dem Waggon gerempelt. Sie blickt durch ihn hindurch, während sie sich mit der Menschenmasse hin zur Rolltreppe bewegt. Auf den Stufen kramt sie nervös nach ihrem läutenden Handy. Nach einem Blick auf das Display hebt sie ein kleines bisschen enttäuscht ab. „Ach du bist es, Irene. Ich fahr gerade von meinem Spanischkurs nach Hause.“ „Und? War der Behinderte wieder da?“ schnarrt es aus dem Telefon. „Du meinst Daniel? Ja. Und stell dir vor, er hat mich gefragt, ob ich mit ihm gemeinsam lernen möchte. Ich habe ihm meine Telefonnummer gegeben. Tja.“ Franziska strahlt bei diesem Satz einer Dame, die ihr ein Flugblatt mit dem Titel „Die Posaunen blasen zum Weltuntergang am 4. Juni“ unter die Nase hält, kopfschüttelnd ins Gesicht.
„Rollstuhlfahrer sind Menschen wie du und ich. Am besten verhältst du dich ihnen gegenüber ganz normal.“, tönt es aus dem Telefon. Franziskas Gedanken schweifen ab. Als sie Daniel zum ersten Mal sah, ging eine Welle der Sympathie durch ihren Körper. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, ohne dass sie sich selbst den Grund dafür erklären konnte. Am Anfang machte sie sein Lächeln nervös. Sie prüfte alles von ihr Gesagte auf seinen hoffentlich geistreichen Gehalt. Nun redet sie oft wie ein Wasserfall auf ihn ein, egal ob es sich um Spanien, das Wetter, die aktuelle Frühjahrsmode oder sonst etwas handelt. Manchmal blickt er sie an, als ob er ihr nicht zuhören würde. Doch sein warmes Lächeln verrät ihr, dass seine Gedanken sehr wohl etwas mit ihr zu tun haben. Am liebsten würde sie in diesen Situationen über seine schwarzen Haare streichen. Tatsächlich wickelt sie aber dann meist ihre eigene blonde Haarsträhne um einen Finger.
Ihre Faszination von seiner Ausstrahlung, seinem Aussehen und seiner Stimme machen ihr dennoch etwas Angst. Teilweise erscheint ihr Daniel auch etwas arrogant, wenn er ihre Aussprache korrigiert, während sie sich ohnehin mit den spanischen Vokabeln plagt. Dreimal hatte er ihr das Wort Chispas vorgesagt. Nie im Leben wird Franziska vergessen, dass das Wort "Funke" bedeutet, aber sie wird es immer falsch aussprechen, zumindest in Daniels Gegenwart. Es ist wundervoll, wie er dann mit der korrekten Aussprache dieses Wortes antwortet. Chispas. -
Ein paar kleinere und größere Enttäuschungen haben sie gelehrt, dass es besser für sie sei, ihre Gefühle im Griff zu behalten. Das Resümee etlicher liebeskummergetränkter Gespräche mit Freunden war gewesen, dass man in der Liebe verdammt vorsichtig sein muss. Was „Liebe“ nun genau bedeutet, darüber denkt Franziska öfters nach.
„ ... und außerdem zählen doch die inneren Werte.“ schließt Irene ihren Monolog, während Franziska den Zebrastreifen überquert. „Die inneren Werte. Ja, diese.“, antwortet sie gedankenverloren. Knapp hinter ihr quietschen die Reifen eines gelben Opel Kadett, dessen Fahrer, scheinbar beflügelt von lautstarker volkstümlicher Musik, vor der innerstädtischen Bevölkerung die Beschleunigungskapazitäten seines Wagens unter Beweis stellen möchte. Franziska springt erschrocken auf den rettenden Gehsteig. „Es ist auch unglaublich, was diese Menschen leisten. Denk nur einmal an den Behindertensport ...“, fährt Irene unbeeindruckt fort.
Franziska ertappt sich dabei, auf Daniels Anruf zu warten. Wann wird er sich melden? Was wird er sagen, wenn er sich meldet? Was soll sie sagen? Wie wird das Gespräch? Und wenn er sich gar nicht meldet? Sie findet diese Vorstellung ziemlich unangenehm. In jedem Fall ist es wichtig, sich so zu verhalten, als wäre alles ganz normal, als wäre nichts Besonderes. Ist es ja auch nicht, genau genommen. Obwohl, wie soll man sich „ganz normal“ verhalten, wenn man in jemanden verliebt ist? Sie muss daran denken, wie sie Daniel etwas errötend und mit ganz leicht zittriger Hand seinen Kugelschreiber überreicht hatte, der ihm zu Boden gefallen war. Hatte er ihre Verlegenheit bemerkt? Sie ist sich nicht sicher.
„ ... und vor allem auch in intellektueller Hinsicht.“, gibt Irene zu bedenken. Franziska steigt aus dem Aufzug und grüßt ihre Nachbarin, die schon auf sie gewartet zu haben scheint. „Sie müssen in der Nacht das Tor zusperren. Wie oft muss ich sie noch daran erinnern?“, erklärt die alte Dame entrüstet und ballt die Hände in den Taschen ihrer Kleiderschürze zu Fäusten. „Aber die Türe hat doch einen Knauf. Man kann sie von außen nicht öffnen, wenn sie einmal ins Schloss gefallen ist. Es tut mir leid, Frau Pospeschil, ich habe grad jemanden am Telefon“, antwortet Franziska, und registriert den Geruch von alten Möbeln und fettigem Essen, der aus der Wohnung ihrer Nachbarin dringt. Während sie ihre kleine Wohnung betritt, dringen noch einige Wortfetzen über Ausländer und Drogensüchtige an ihr Ohr.
„So, Irene. Jetzt bin ich zu Hause. Du, ich habe schon ein bisschen Angst. Ich meine, du weißt ja, wie das ist, wenn man am Anfang noch nicht sicher ist ...“ „Sei einfach ganz natürlich. Rollstuhlfahrer sind schon arme Kerle. Du solltest aber nicht auf Mitleid machen. Wenn er vielleicht deiner Hilfe bedarf, ...“ Irenes Satz reißt Franziska aus den Gedanken. Verständnislos bricht es aus ihr heraus: „Mitleid? Hilfe?“
Die darauf folgende unangenehme Stille in der Leitung wird von einem ankommenden Anruf unterbrochen. „Irene. Ich rufe dich zurück.“ Ohne die Antwort ihrer Freundin abzuwarten, beendet sie das Gespräch und nimmt den neuen Anruf entgegen. „Hallo?“ „Hallo Franziska. Du hast deinen Füller im Kurs vergessen. Ich dachte, ich sage es dir, falls er dir fehlen sollte.“ Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich meine Füllfeder vermisse. Jeder Tag ohne sie ist ein verlorener Tag“, gibt sie lächelnd zurück. „Hältst du es noch aus bis Freitag? Ich brenne nämlich darauf, dir das Objekt deiner Sehnsucht möglichst bald zurückzugeben.“ Franziska lässt sich verschmitzt grinsend auf die Couch gleiten.