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Der Mann im Rhein
In einem Seitenarm des Rheins steht ein Mann im hüfthohen Wasser. Mit sanftem Schwung bewegt er die lange Fliegenrute, deren gespließter Bambusblank sich dabei tief mit seinen Bewegungen biegt, um schließlich die schwere Schnur in einer engen Schlaufe weit hinaus in die Strömung zu senden. Die kunstvoll gebundene Lachsfliege treibt langsam ab und im Gesicht des Mannes liegt ein Ausdruck des Schmerzes und der Trauer. Er beginnt zu weine - ohne Zurückhaltung oder Eitelkeit. Die Tränen, die sich in seinen Augen sammeln, bevor sie zuhauf hinunterrinnen in den rotbraunen Bart, trüben seine Sicht. Er hätte große Mühe, so die Fliegenschnur stromabwärts noch zu erkennen, doch sein Blick richtet sich geradeaus ohne ein bestimmtes Ziel.
Schon seit ein paar Jahren sind die Lachse aus dem Rhein und seinen Zuflüssen verschwunden und das weiß der Mann. Als er und das Jahrhundert noch in den Kinderschuhen steckten, war das anders. Millionen dieser wunderbaren Geschöpfe zogen den Fluss hinauf und weiter in kleine kalte Bäche, um dort ihren Nachwuchs zu zeugen und eine ganze Region zu beseelen. Nun ist der Rhein ein von Abwässern verseuchter und von Staudämmen durchschnittener Strom, der vielleicht des Namens Fluss, ganz bestimmt aber dieser urtümlichsten aller Reisen längst nicht mehr würdig ist. Die Vielfalt des Lebens, die so genügsam und verzeihend sein kann, ist letztlich aus ihm gewichen. Sein Wasser trägt einen metallisch beißenden Geruch und in stehenden Abschnitten einen Schleier, auf dem sich abstrakte Muster in Regenbogenfarben erstrecken. Es wirkt so, als sei dieses kunstvolle Gewand ein letzter verzweifelter Versuch des Rheins, die einsame Tristesse zu verbergen, die aus ihm geworden ist.
Der Mann blickt auf den Griff seiner Rute. Zarte Schneeflocken schmelzen darauf zu kleinen Wassertropfen, die sogleich vom porösen Kork aufgesaugt werden. Er streicht mit seiner rauen Hand über den Namen Ludwig, der mit wenig Eleganz, aber dafür umso mehr Nachdruck darin eingeschrieben steht. Sein jüngster Sohn verewigte sich dort vor beinahe dreißig Jahren, als er lernte seinen Namen zu schreiben und daraufhin alles beschriftete, was ihm gehörte oder gerne gehört hätte. Er erinnert sich zurück an glückliche Jahre. Ludwig war sein jüngster Sohn und ein Träumer. Beim Fischen mit seinem Vater freute er sich über jeden Fisch gleichermaßen, denn sie sind, wie er sagte, alle so unglaublich schön. Er konzentrierte sich ohnehin nie sehr auf seine Fliege, viel zu interessant war auch alles andere, was ihn umgab. Ludwig teilte mit seinem Vater einen besonderen Blick auf die Natur, der die Würde des Lebens auch im Unscheinbarsten seiner Vertreter entdeckte. Die Begeisterungsfähigkeit, die daraus erwuchs, bewahrte sich Ludwig, der Welt zum Trotz, bis zuletzt. So ist sich der Mann sicher, dass sein Sohn selbst in seinen letzten Stunden noch einen Käfer oder einen Wurm im zertretenen Gras des Schlachtfeldes voll Bewunderung und Dankbarkeit betrachtete.
Die Dämmerung bricht über das Flusstal herein. Der Mann hat aufgehört zu weinen. Nur in seine ruhige Atmung mischt sich noch manchmal ein stockender Seufzer. Die Gedanken an den Verlust seines Sohnes und die Vergiftung seines Refugiums haben ihn erschöpft, aber auch erleichtert. Schon solange er denken kann besucht er diese Stelle des Rheins, doch direkt nach Ludwigs Tod blieb er ihr fern. Er scheute sich vor den Erinnerungen, die hier auf ihn warteten. Eines Tages, als er dachte, er hätte die Vergangenheit verarbeitet, obwohl er nie getrauert hatte, kehrte er an die Stelle zurück und es übermannte ihn. Sein von der menschlichen Gier und Kriegslust entleertes Leben überwältigte ihn und er weinte bis in die Nacht. Es war ein befreiendes Gefühl, den toten Fluss mit ehrlichen Emotionen zu beleben und das ist es noch immer. So wird der Mann schon bald wieder im hüfthohen Wasser in einem Seitenarm des Rheins stehen, seine Fliege auswerfen und sich ganz der Melancholie des leeren Flusses hingeben.