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Der Mann in der Ecke
Ihr braunes Haar tanzte anmutig um ihr hübsches Gesicht. Sie stand aufrecht dem grauen Himmel des frischen Herbstes trotzend. Für einen Schal noch zu früh, dafür aber umso angenehmer war der warme Mantel, der sich über ihre Hüften wölbte. Schleichend, doch inständig verfärbte sich die Natur um sie herum in einen malerischen Traum. Der kleine Bahnsteig wirkte wie einem vergangenen Jahrhundert entflohen, teilweise stark verfallen, doch wesentlich schöner als seine Nachfolger. So lag er eingebettet inmitten etlicher wilder Sträucher und wehender Bäume während sich sein Pflaster mit Blättern schmückte. Selbst das kleine Häuschen, in dem hin und wieder ein exzentrischer Mann in seltsamen Intervallen Fahrkarten vertrieb, wirkte wie eine synästhetische Ergänzung. Dicke Wolken schoben sich aufgerüttelt von einem frühen Herbstwind rasch über das Fundament, auf dem sie stand.
Das zierliche Gerät in ihrer Tasche spielte leise Erik Saties Musique d'Ameublement. Der Zug hatte wohl Verspätung. Die Schienen waren leer und bronzefarben lagen sie da wie Fragmente einer surrealistischen Komposition.
Das Stilleben berührte sie tief und reinigend. Im Hinterkopf jedoch kratzte der Zug, der jeden Moment alles zerstören würde. Es sind diese kleinen bestimmten Momente, die sich scheinbarer Vollkommenheit annähern die den Menschen über Wasser halten, dachte sie verträumt. Vergnügt schlenderte sie über das Muster aus alten Steinen vorbei an dem kleinen Häuschen, das wieder einmal leer zu stehen schien, als sie den Mann in der Ecke sitzen sah.
Unvermeidlich merkte sie, wie ihr Blick zu einer Unhöflichkeit anschwellend an der Gestallt haften blieb.
Der Mann trug einen sehr feinen Anzug, schwarz, und näherte sich vielleicht den siebzig Jahren Lebenserfahrung. Ein stilvoller Hut verbarg seinen Kopf und das Haar das kraus unter ihm hervor wuchs war weiß wie der Bart. Er sah aus wie eine weggeworfene Puppe, wie er auf dem Boden saß, angelehnt an die Seitenwand des Fahrkartenhäuschens und dem Geländer mit der abblätternden Farbe. Beide Beine von sich gestreckt wurden seine Strümpfe sichtbar und die Arme wirkten wie achtlos fallengelassen in einer scheinbaren Geste von Niederlage.
Schnell wandte sie ihren Blick von ihm ab und bemühte sich, ihren unbeschwerten Weg fortzusetzen. Ein auffallend rot gefärbter Baum schob sich in ihren Blick. Irgendwas in ihrem Hinterkopf begann stärker zu kratzen. In hastigen Intervallen wie Blut aus einer tiefen Wunde verfloss die Synästhesie aus ihrem Kopf.
Hatte sie sich erschrocken? Selbst die Musik wirkte nun bedrückend fehl am Platz. Das Gemüt schien umzuschlagen in die dunkelblaugraue Betrübtheit, die vor wenigen Sekunden noch so fern schien und noch nicht einmal einen Gedanken Wert gewesen war.
Unwohl in ihrer schönen Haut, biss sie sich leicht auf die Unterlippe und sah auf ihre Uhr. Etwas in ihr drängte ihr das Verlangen auf, noch einmal hinzusehen und dann kreisten alle ihre Gedanken nur noch um diesen Mann in seinem feinen Anzug.
Der Zug hätte vor sechs Minuten da sein sollen. Wo sie vor Minuten noch die Ankunft des Zuges verflucht hatte, wünschte sie sich ihn jetzt ungeduldig herbei.
Sie erreichte das Ende des Bahnsteigs und sah auf wilde Blumen und wucherndes Gestrüpp hinter dem einstmals schwarzen Geländer. Im Wiederspruch kämpfend die Gelegenheit zu nutzen, ihm unauffällig entgegen zu schlendern und ihn nicht anzusehen, drehte sie sich in einer schlecht imitierten Bewegung von Unbeschwertheit um und ging langsam den gekommenen Pfad zurück. Ein Rabe saß finster fern auf einem Ast und stierte in das Feld. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass sich der Mann nicht bewegt hatte. Nicht einmal ein kleines Stück, dabei war der Boden so dreckig, fand sie und strich sich ein paar ausgebrochene Haare aus dem Gesicht.
Langsam verformte sich zu ihrem Schrecken der Mund des Mannes zu Worten, die sie nicht hören konnte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und ihr Daumen stellte das teure Gerät in ihrer Manteltasche auf Pause.
„Wie bitte?“, drang es ihr etwas zu forsch aus der Kehle, „Was sagten sie gerade?“ Es hätte sie nicht gewundert, wenn ihrer Frage keine Antwort gefolgt wäre, doch es kam eine.
Einer unter der Last von tausend Sorgen gepeinigten, vor Erfahrung und Ruhe beruhigenden und bitteren Stimme eines geübten Zynikers drangen die Wörter, die sich zu Sätzen formierten an ihre Ohren. „Wollen Sie einem alten Mann der am Boden sitzt denn gar nicht helfen?“ Der Mann blickte nicht zu ihr auf und sein Hut verdeckte wie in einem düsteren Film geheimnisvoll seine Augen.
Es war als hätte seine banale Frage alle ihre potentiellen Antworten aus dem Mund gesogen. Auf einmal fühlte sie sich leer, so leer, dass es sich anfühlte wie ein schmerzendes Vakuum in ihrer Brust. Ein Hauch von rot, das sich durch ihr Make-up kämpfte zeugte davon, dass sie peinlich berührt war und als sie noch sprachlos da stand fuhr der Mann sanft mit selbiger Stimme fort: „Aber meine Dame, warum lassen Sie sich denn so von mir aus der Bahn werfen? Sie sind ja völlig verstört? Sehe ich denn so grässlich aus?“
Ihr Blick war kurz zur Seite auf den entfernten Raben ausgeschert. Sie rang nach Worten. „Nein tun Sie nicht. Wirklich nicht.“
„Sie haben Angst vor mir. Hab ich recht?“
„Nein.“, sie wirkte nun tatsächlich nervös, „Sollte ich?“
„Diese Entscheidung kann ich ihnen leider nicht abnehmen.“
Ein ungewöhnlich kalter Luftzug stahl ihr die wärme aus dem Gesicht. Sie fürchtete sich vor diesem Mann. Hastig, als suche sie nach einem Notausgang, sah sie auf die Stelle an der die Schienen das Blickfeld verließen. Immer noch kein Zug.
„Was wollen sie von mir?“, presste sie unter Mühe heraus und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr war kalt.
„Ich möchte ihnen eine kleine Geschichte erzählen, natürlich nur wenn ich darf.“, entgegnete der Alte ihr unverdient freundlich. Noch immer hatte sich zu ihrer sich beständig zunehmenden Beunruhigung der Mann bis auf seinen Mund nicht gerührt. Der Zug würde bald kommen und sie in die rettenden Arme der warmen belebten Stadt kutschieren, raus aus diesem verkommenden Bahnhof. Der Zug würde sie zu ihren Freundinnen bringen und sie würden über Männer philosophieren und die Gemäldegalerie der Alten Meister aufsuchen, um aus ihnen Inspiration für Eigenarbeiten zu schöpfen. Aber sollte der Mann ruhig so lange irgendwas aus seinem Leben erzählen.
Als hätte gerade eine andere Persönlichkeit in ihr die Kontrolle übernommen lächelte sie den Mann an und teilte ihm mit der Stimme einer viel zu freundlichen jungen Verkäuferin ihre Zustimmung mit. Sie würde ihm sowieso nicht mit voller Aufmerksamkeit zuhören und gegebenenfalls in den Zug steigen, bevor er mit seiner Geschichte fertig war.
„Ich bin davon überzeugt, dass sie mir zuhören werden. Allerdings werde ich mir erlauben zunächst ihre Aufmerksamkeit wecken, Emanuele.“
Das Gefühl war, als ob kurz die Welt um sie herum verschwinden würde. Hinter ihren Augenhöhlen drückte etwas und ihre Lunge rebellierte, indem sie weniger Sauerstoff aufzunehmen schien.
„Danke.“, antwortete der Mann auf sich selbst und erhob poetisch seine rauer werdende Stimme, „Die junge Frau, von der ich ihnen erzählen will, sind sie selbst, wie sie schon richtig erkannt haben. Ich will ihnen aus dem Grund von ihnen erzählen, das sie sich selbst am wenigsten kennen.“
Jegliche Farbe wich aus Emanueles Gesicht und zu verstört von dem, was der Alte von sich gab, trat sie unbewusst einen Schritt zurück.
„Sie kleiden sich nach bester Möglichkeit feminin, dem Zeitgeist folgend und schick. Ihre Accessoires bestehen, ausschließlich, stark ihrer Garderobe ähnelnd, aus unvernünftig teuren Markenartikeln. Sie tragen ein goldenes Kreuz um den Hals und beten jeden Tag vor dem Einschlafen. Sie sind eine Kunstliebhaberin und kennen sich mit klassischer Musik aus, wobei sie natürlich nur den ganz großen Lauschen. Bach, Beethoven, Vivaldi und natürlich Mozart. Sie haben zwar keine Kinder, dafür aber gibt es ihre Nachbarn, bei denen sie mehrmals die Woche zu einem gesitteten Kaffee eingeladen sind. Wenn ihr Mann abends nach Hause kommt, geben sie ihm einen Kuss auf die Wange und lassen ihn dann seinen Abend vor dem Großbildfernseher ausklingen. Einmal die Woche haben sie beide Geschlechtsverkehr, der ebenfalls wie sie den Menschen zu erwarten geben schlicht und missionarisch ausfällt.“
Sie sagte kein Wort. Ihre Augen waren geweitet und ihr Mund hatte sich einen Spalt weit geöffnet. Noch immer saß der Man regungslos auf dem Boden in der Ecke. Der Rabe war inzwischen davon geflogen und der Zug noch immer nicht angekommen.
„Und jetzt will ich ihnen die Geschichte erzählen.“, er machte eine Pause, räusperte sich, womit er seine Stimme in normale Verhältnisse zurückbeförderte und erhob wieder das Wort: „Stellen sie sich vor, wie sie dieses konservative Leben führen, Sonntags in die Kirche gehen und es für ihre Ideale opfern. Mit jedem Jahr werden sie neue Falten bekommen, die sie verzweifelt werden weg operieren lassen, damit ihr Ego nicht in sich zusammenbricht. Ihr Mann wird ihnen, das vermuten sie ja sowieso schon, obwohl sie es verdrängen, also nicht wissen, zunehmend öfter fremdgehen und sich früher oder später von ihnen scheiden lassen. Nicht nur die Falten in ihrem Gesicht und Spuren des zu früh einkehrenden Alters auf ihrem wunderschönen Körper werden sie zeichnen, sondern ganz besonders die in ihrem Innern. In Wahrheit sehnen sie sich mehr als alle ihnen bekannten Menschen nach Zuneigung und Geborgenheit. Gleichzeitig mangelt es ihnen an einem Sexualleben. Ihre Sexualität spaltet sich in Paraphilien. Sie wollen erniedrigt, geschlagen und gefickt werden und zwar so hart es nur geht. Sie verstecken das mit ihrem Heile Welt Gehabe, der Musik, der Kunst und ihren Gebeten die bloß eine extreme Form von Egoismus darstellen. Sie verabscheuen ihren Ehemann, doch ist er der einzige, der bei ihnen ist, wenn auch nur physisch, denn ihre beiden Freundinnen schätzen sie nur aufgrund ihrer außergewöhnlichen Kunstkenntnisse. Sie träumen nachts von einer Straße, die nie aufhört und hinter der die Sonne ewig untergeht. Sie sitzen auf einem schnellen Wagen und fahren eben so ewig wie die Sonne versucht hinter dem Horizont zu verschwinden. Wobei diese Parabel ihr Leben wiederspiegelt und gleichzeitig ihr Verlangen nach Freiheit. Sie fühlen sich allein und sind unfähig, etwas zu ändern. Sie wissen ganz genau, wovon ich rede, doch würden sie es vor sich selbst niemals zugeben, nicht einmal jetzt.“
Ihr Körper war ausgehöhlt, ausgebrannt, luftleer und ihr Gehirn ein braungrauer Brei der in ihrem Kopf herumschwamm. Sie war noch ein paar Schritte zurückgewichen und starrte den Mann an, als hätte er sie gerade erschossen.
„Wissen sie, meine Dame, Veränderung ist der Schlüssel zum Wohlbefinden. Glauben sie mir.“
In dem Moment sah der Mann zu ihr auf. Ein lautes Geräusch schien die Luft zu zerteilen. Ein Schreien, das zu einem Kreischen anschwoll. Das Gesicht des Mannes war einfach nur das Gesicht eines alten Mannes. Alt, mit vielen Falten und dennoch freundlich und er lächelte sogar. Blut schoss in ihren Kopf, ein Schwindelgefühl stellte sich ein, und wieder verschwand die Welt für einen schmerzvollen Augenblick. Sie blinzelte und trat noch einen letzten Schritt zurück. Sie spürte, während sie das Gebrüll, das die Luft um sie herum ersetzt hatte, ignorierte, wie der Fuß keinen Boden mehr berührte. Dann lies sie sich nach hinten fallen. Der Mann hatte seinen Blick wieder gesenkt und das letzte, was sie sah, war grünes rostiges Metall, das explosionsartig wuchs.
Als der Zug ihren Körper zertrümmerte, war sie sich sicher, dass die Ecke, in der der Mann gesessen hatte wieder leer und staubig war. Vielleicht zierten bald ein paar rote Blätter die Stelle ihres Wohlbefindens.