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Eine Ode an die menschliche Vorstellungskraft...
Der Mathematiker
Da steht es in all ihrer Pracht und Gloria - das Nebengebäude der Universität. Es ist mittlerweile in die Jahre gekommen und hat dabei die eine und andere Sache mitgemacht, wie ein Stück abgebröckelter Putz hie und ein Fleck dort. Der Garten, der den Eingang schmückt, ist ebenfalls etwas unordentlich, denn es findet sich einfach kein Gärtner, der die anfallenden Tätigkeiten erledigen und auf sich nehmen möchte.
Leciel, ein Mathematiker, der in dieser Universität an dem Lehrstuhl für Analysis und Numerik arbeitet, geht langsamen und gelassenen Schrittes auf die Eingangstür zu. Seine Füße schreiten über die uralten Steinplatten, schon vor einer Ewigkeit hier hergebracht, und dabei trägt er seine kleine Ledertasche unter dem Arm geklemmt, seine Brille sitzt etwas schief vor seinen smaragdgrünen Augen, einige Falten zieren sein Gesicht, viel zu viele für sein Alter, doch sorgen sie für eine respektgeladene Aura um ihn herum. In der leichten Brise flattert sein dunkelroter Schal, der an seinem dunkelgrünem Wollpullover reibt, wie auch seiner braunen Hose. Edles altes Leder aus dem seine Schuhe bestehen, ähneln vom Farbton und der Textur her stark der Tasche, unter dessen Deckel einige vollgekritzelte Zettel hervorlugen.
Die Tür erreicht er mit einem alltäglichen Gefühl und begrüßt erst einmal den Wachdienst-Angestellten, der ein Auge auf das Gebäude hat, bei Tag, wie auch bei Nacht. Mit einem freundlichen Nicken erwidert der Wächter die Begrüßung Leciels.
Jeder Schritt hallt durch die glatten, hohen und uralten Gänge des Gemäuers. Leciel ist unterwegs zu seinem Raum, wo er heute seinen Tag verbringen kann, da an diesem Tag, zur Abwechslung, keine Vorlesungen anstehen.
Kaum hat Leciel den Schlüssel umgedreht und die Türe entriegelt, schon drängt sich die Luft des Raums hindurch; etwas warm, verbraucht und vor allem riecht sie nach gelagertem Kaffee. Mit einem Schritt in das Zimmer getreten, schon ist der ganze Raum zu sehen. Ein schwerer Eichentisch steht unbeweglich an der linken Wand, bespickt mit vielerlei Zetteln, Akten, Prüfungen, einer Packung Kreide und einigen anderen Utensilien. Leciel legt seine Tasche auf den Tisch, auf welchem ein Wirbelsturm gewütet haben musste. Ein ordentlicher und unkomplizierter Mensch war Leciel mitnichten.
Die fünf Schritte, die er benötigt, um vom linken Zimmertisch zur Kaffeemaschine auf der rechten Seite zu gelangen, sind die schönsten an jedem Morgen. Noch keinen Handstrich getan, noch nicht mit seinem Geist auf Wanderschaft – die Welt scheint noch heil zu sein. Das Geräusch der Maschine tritt an sein Ohr, das sanfte Tröpfeln des Regens in seiner Tasse und die aufsteigenden Nebelschwaden bringen sein Herz auf Hochtouren, dabei steigt der würzige Duft der Bohnen gen Himmel empor, um wieder in allen Ecken des Raums sich selbst hernieder zu lassen. Der Kaffee schwankt sachte hin und her, während er in der dunkelbraunen Tasse zum Schreibtisch gebracht wird. Sie setzt er auf das schöne Holz und Leciel lehnt sich zurück.
Schluck für Schluck nippt er die Tasse leer. Er sinniert über alles Mögliche, alles, was ihm in den Sinn kommt; dem Verstand sind keine Grenzen auferlegt, er ist frei, frei wie ein Vogel, der sich mit jedem Flügelschlag in das blaue Himmelsmeer erhebt, grenzenlos und unergründlich, wie ein Grashalm, der im Wind davongetragen wird, so treiben seine Gedanken auf dem Segelschiff der Vernunft und Logik dahin – in Richtung Horizont, ohne ersichtliches Ende.
Durch die zwei kleinen durch Vorhänge verdeckten Fenster fällt schwer sich kämpfend das Licht ein, dabei beleuchten sie jedes noch so kleine Staubkorn in der Luft, wodurch ein warmes, gelbliches Licht in Form eines Kegels ins Zimmer fällt.
Der Kaffee ist leer, schon nimmt er seine Ledertasche und packt seine hastig geschmierten Zettel heraus, auf denen interessante Konzepte und Ideen niedergeschrieben sind, der Bergführer für seine heutige Reise mit der Mathematik. Seine weisen Augen flattern über den Notizen hinweg und bringen die damals so schnell verflogenen Gedanken in ihrer gesamten Farbpracht und Schärfe wieder zurück. Er krallt einige Zettel zusammen, ebenso ein Stückchen Kreide und geht auf seinen besten Freund zu: Die Tafel. Auf ihr hat er schon etliche Gedanken verfolgt und mathematische Beweise durchgeführt.
Die etwas verschmierte Tafel lächelt ihn an – er zurück. Ein letzter Blick auf seine Zettel und er setzt mit der abgenutzten Kreide an, um zu beginnen. Ab jetzt ist Leciel nicht mehr hier, nicht mehr in diesem Raum, ja, nicht einmal mehr auf dieser Welt. Er schwebt in den höheren Sphären der Mathematik und erhebt sich über alles Materielle auf der Welt, sein Geist macht einen Flügelschlag nach dem anderen, unaufhaltsam durchbricht er die Wolkendecke, wobei Leciel die Tiefen und das Innerste der Welt erkennen kann. Diesen Bereich sieht er als seine wahre Heimat an, denn hier gibt es nur die Logik und die Vernunft, ein Paradis für einen Denker wie ihm, kein Leid, noch Schmerz und Dunkelheit, lediglich die Reinheit der Gedanken und das Licht des Wissens, was sich dort manifestiert und vereinigt.
Plötzlich wird er aus diesem hohen Bewusstseinszustand gerissen, als ein Kollege und guter Freund an der Tür klopft. Leciel bittet ihn herein, woraufhin eine Einladung zu einer kleinen Konversation von seinem Kollegen ausgesprochen wird, welche Leciel annimmt. Kurz darauf kramt er noch schnell seine wunderschöne Holz-Pfeife aus seiner Schublade heraus, die von einem Künstler höchstpersönlich in ihre schwungvolle Form gebracht wurde. Er stopft sie noch schnell voll bevor sie sich aufmachen, um an der frischen Luft zu promenieren.
Im Handumdrehen waren wir im nebenliegenden Park, wo wir unsere Pfeifen anzündeten. Aus meiner Pfeife stiegen Rauchschwaden auf, gleich balsamischem Zuckerduft, der an Vanille erinnerte, und verbreiteten sich in unserer nahen Umgebung, sie umwoben unsere Gesichter, bis der Wind sie selbst forttrug.
Unterwegs philosophierten wir beide in die Luft hinein und erquickten uns an den Freuden des Denkens; glücklich und auf bereicherndem Niveau konversierten wir dahin, über die Welt, Literatur, Wissenschaft, neue Erkenntnisse und vieles mehr. Schon fast sinnlich frohlockten wir gemeinsam, da uns die Welt so vieles bot, wofür sonst keiner, außer uns, ein Auge hatte. Die Kunst und Ästhetik der Welt ließ uns wieder zu Kindern werden, die offen waren, für das, was die Welt im Innersten zusammenhielt, was nur für das geistige Auge erkennbar war. Die eiskalte sauerstoffreiche Luft umwehte und umarmte uns liebevoll. Wir wurden eins mit der Welt, der Natur, wir, die die Welt in ihrer Breite, ihrer Tiefe, genießen durften.
Wieder in der Universität angekommen, verabschieden sie sich voneinander. Jeder wieder in seinem Zimmer stehend, schon geht es wieder weiter mit dem Forschen und gründlichem Durchdenken.
Am Ende des Tages war die Tafel erfüllt mit Pfeilen, Zahlen und kurzen Anmerkungen am Rand. Vermutlich würde sich nur noch Leciel selbst in diesem Gewirr zurechtfinden können. So soll es sein!
Die Sonne berührt schon den fernen Horizont, Straßenlaternen beginnen bereits Licht auf die dämmrigen Straßen zu werfen, lauter kleine Lichtkegel, die den Weg neben der Straße erhellen. Doch bevor Leciel geht und seine Sachen packt, genießt er noch einmal eine zuckersüße Pfeife, während er aus dem verhangenen Fenster blickt und sich darauf besinnt, was heute geschehen ist und was wohl morgen für Wonnen auf ihn zukommen mögen.