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Der Mensch im Gewand
Der Mensch im Gewand
Es war eine kleine Stadt, in voller Blüte. Den Menschen ging es gut, denn die Pest zog an ihnen vorüber. Sie hatten rechtzeitig Vorkehrungen getroffen.
Die Babys kamen gesund zur Welt, die Menschen litten weniger an Krankheiten. Die Bevölkerung war rechtschaffen, und die Männer huldigten ihren Göttern, so dass diese niemals erzürnten. Und zu verdanken hatten sie das alles, daran zweifelte niemand, einem Mann, der sich Mensch nannte. Mensch war gekommen, als die Kunde der Pest im Land das Städtchen gerade erreicht hatte. Es war eine grosse Aufregung gewesen. Natürlich, sie hatten sich an die Pest vor fast zehn Jahren erinnert. Kaum eine Familie war verschont geblieben. Manche Familien waren sogar vollständig von der Pest getötet worden. Als Mensch durch die Tore gekommen war, war es die rechte Zeit gewesen. Denn Mensch war ein Heiler, und im Städtchen hatte es viele Kranke gegeben, und die Angst vor der kommenden Pest hatte Unruhe ausgelöst. Die Not war groß gewesen, viele Heilkundige waren geflohen, sie hatten Schwangere und Kranke im Stich gelassen. Mensch war damals in einem ganz weißen Gewand gekommen, das Gesicht war mit einem Schleier verdeckt, so dass niemand das Antlitz des Mannes sehen konnte. Aber das war in der Not nicht wichtig gewesen. Mensch war zu ihnen gekommen, hatte die vielen Menschen dort geheilt, den Babys das Licht der Welt gegeben und den Menschen gezeigt, wie sie sich vor der Pest schützen konnten. Und tatsächlich, bislang hatte die Pest keinen Einzug in die Stadt gehalten. Die Menschen hatten Mensch vielmals gedankt, manche hatten sogar behauptet, dass Mensch ein Abgesandter ihrer Götter wäre. Die Stadttore blieben geschlossen und ließen die Pest vorbeiziehen. Den Menschen ging es gut, ihre grossen Sorgen waren andere nun. Sie widmeten sich der Wahrheit und suchten Wissen und Erkenntnis. „Zeige uns Dein Gesicht!“, riefen die ersten. Natürlich forderten sie das. Es durfte doch nicht sein, dass ein fremder Mensch ihnen fremd blieb. Es durfte doch nicht sein, dass ein Mensch sich ihnen und der Wahrheit entzog. Mensch war erschrocken: „Ihr solltet auf manche Wahrheiten verzichten!“, rief er ihnen zu, aber der Tumult wurde grösser.
„Was verbirgst du denn? Bist du möglicherweise ein Monster!“, schrie ein Gelehrter.
„In Euren Augen bin ich ein Monster, ja“, entgegnete ihnen Mensch. Damit wurden die Rufe lauter, und die ersten Männer drohten schon, mit Gewalt Mensch zu demaskieren. Mensch kam ihnen zuvor und riss sich den Schleier und die Haube vom Kopf. Bis auf einige, die erschrocken seufzten, wurde es totenstill. Das Entsetzen stand in ihren Gesichtern, denn sie huldigten einer Frau.