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Der Nussknacker
„Gib mir den Nussknacker!“ Gronz war ungeduldig. Pfrumpf hatte jetzt schon an die zehn Nüsse geknackt und genüsslich ausgeschlürft. Sie konnte wohl den Hals nicht voll genug kriegen.
„Nur noch eine, dann kriegst du ihn … Autsch! Verflixt noch mal!“ Pfrumpf hatte sich in eine Klaue gezwickt.
„Verfluchter Nussknacker …“ Das Gerät flog mit einem gewaltigen Wurf weit hinter die Hütte. Gronz war sauer. Vor ihm in einer Felskuhle lagen all die köstlichen Nüsse und jetzt musste er den blöden Nussknacker suchen. Er schob seinen muskulösen behaarten Blorkleib an Pfrumpf vorbei, nicht ohne ihr mit seiner Klaue einen kräftigen Hieb gegen den Hinterkopf zu verpassen.
„Lass das!“ Pfrumpf heulte los und rieb sich die wunde Stelle.
Wir schreiben das Jahr 240347. Das heißt, nur wir Menschen schreiben es, die „anderen“ kümmert es nicht. Tödliche Viren und Atomkriege haben uns in den letzten Jahrtausenden mächtig dezimiert. Halt das Übliche. Auf den Kontinenten gibt es schon lange kein humanes Leben mehr. Nur auf ein paar Inseln ohne Landebahnen und ohne Häfen, gewissermaßen durch natürliche Quarantäne, haben sich kleine menschliche Kolonien erhalten. Früher waren wir Menschen die Herren der Erde, heute sind es die Blorks. Riesige Gestalten, verfressen, Berge von Gemüse und Tonnen von Fleisch sind nötig, um eine Sippe ein Jahr lang zu ernähren. Immerhin, das Fleisch von uns Menschen empfinden sie als ungenießbar. Wir wissen nicht, wie sie sich so schnell entwickeln konnten. Waren es die Atomkriege oder das Genfood? Oder beides zusammen? Sind sie gewissermaßen eine unsägliche Abart des Homo sapiens sapiens, für die wir uns eigentlich noch mehr schämen müssten? Wir können es nicht sagen. Zumindest haben die menschlichen Viren den Blorks nichts anhaben können. Sie sind einfach da und sie sind brutal. Sie kennen kein Erbarmen, auch nicht untereinander. Sie töten sich gegenseitig wegen Kleinigkeiten. Wenn der Nachwuchs erkrankt, wird er weggeworfen. Oder aufgefressen, wenn der kleine Hunger kommt. Sie sehen Menschen nicht unähnlich, bis auf die affenartige Behaarung und die gewaltige Größe. Rund um den gewaltigen Oberkörper haben sich unter der Haut schwere Panzerplatten ausgebildet. Entsprechend sind sie muskelbepackt. Auch wegen der Größe: den schon längst ausgestorbenen Giraffen hätten sie in Augenhöhe begegnen können. Die Blorks wirken nur auf den ersten Blick stumpfsinnig, verfügen sie doch über eine gewisse Intelligenz, um sich auf der Erde zu behaupten. Sie greifen auch auf eine sehr eigene, fortgeschrittene Technologie zurück. Geteerte Straßen von den Ausmaßen früherer Landebahnen verbinden die Blorkssiedlungen mit einander. Ihre mit Wasserstoff betriebenen Fahrzeuge, so groß wie einst unsere Lagerhallen, bringen es auf 350 Sachen, auch innerorts. Der Schnellste ist zumeist der Sieger und damit im Recht. Obwohl es in der Blorksprache für „Recht“ kein eigenes Wort gibt. Kleinere Unfälle, denen die Blorks auf Grund des hohen Tempos nicht selten zum Opfer fallen, werden mitsamt den mehr oder weniger leblosen Insassen einfach zur Seite geschoben. Friedhöfe zum Nachtrauern gibt es nicht. Zum einen, weil der Blork Trauer nicht kennt, zum anderen, weil er sich fast buchstäblich aus dem Staub macht. Der tote Blork entwickelt nämlich eine sich selbst auflösende Substanz im Knochenmark. Die Überreste müssen nur aufgefegt werden. Schulen gibt es auch nicht. Alles, was der kleine Blork lernen muss, bringen ihm die Eltern bei, sofern er es überlebt. Wegen der hohen Verluste sind die Blorkfamilien sehr kinderreich. Überall gibt es Märkte, auf denen der Blork für das tägliche Leben einkaufen kann: Frisches Wasser, gezüchtetes Gemüse und fast alle Arten Fleisch. Gemessen an seinen eher plumpen Eigenschaften hat der Blork sogar eine vergleichsweise feine Zunge entwickelt: er sammelt spezielle Pilze zum Würzen, schabt die Rinde des Delubobaumes über gegrillte Fleischspeisen und in letzter Zeit erfreuen sich diese Nüsse wachsender Beliebtheit. Ein findiger Blork hat nun den Nussknacker auf den Markt gebracht, den wir Menschen schon vor Jahrtausenden hatten. Bei den Blorks ist er heute ein echter Verkaufsschlager. Seltsam: sie fahren superschnelle Autos, haben aber erst jetzt den Nussknacker erfunden. Nun ja, ihre Hütten erinnern auch mehr an Bretterbuden. Der Blork ist wirklich sehr gegensätzlich: auf der einen Seite die High-Tech-Vehikel, dann wieder diese extreme dumpfe Schlichtheit in den meisten anderen Dingen des Lebens.
Gronz drückte seinen massigen Körper durch das Unterholz. Irgendwo musste dieser Nussknacker liegen. Er fand ihn zwischen den Resten der letzten Mahlzeiten. Der faulige Gestank nach verdorbenem Gemüse, Fleischresten und vor sich hin gammelnden Nussschalen regte sofort seinen Appetit an. Gronz nahm den Nussknacker mit seinen Klauen auf und drückte die beiden Hebel zusammen. Er funktionierte noch.
Unsere einfachen Waffen – das war auf den Kontinenten einmal anders! – könnten ihnen nur wenig anhaben. Ihre Waffen wiederum sind die enorme Schnelligkeit, die Panzer unter der Haut und die Gabe, sich im Rudel völlig lautlos zu nähern. Es reicht aus, um uns spärlicher Menschheit den vorderen Platz auf Erden erfolgreich streitig zu machen. Wir sind dazu verdammt, auf unserer kleinen Insel zu verharren. Vor kurzem haben die Blorks uns entdeckt. Seitdem kommen sie immer häufiger vorbei und jagen uns. Zuerst haben sie uns nur so aus Spaß gequält und getötet. Heute sammeln sie uns ein und nehmen uns mit. Immer öfter, immer mehr von uns.
Gronz trottete zurück in die Hütte. Pfrumpf döste satt und zufrieden vor sich hin. Gronz ließ sich neben der Steinkuhle mit den Nüssen nieder. Er schnitt eine Nuss vom weichen schlaffen Stiel, den er hinter sich warf, öffnete sie mit einem Knacken und schlürfte den Inhalt aus. Das Geräusch weckte Pfrumpf aus ihren blorkigen Träumen. Sie brummte vor sich hin. „Genieß es, das waren die letzten Nüsse auf dem Markt. Erst nächste Woche holen sie wieder neue von der Insel.“