Der Paukenschlag
Der Paukenschlag
Julia war anders als die anderen. Sie war klein und zierlich, ja fast schon fragil und zerbrechlich. Ihre großen dunklen Augen waren stets gen Boden gerichtet und ihr hübsches blasses Gesicht wurde von langen, schwarzen Haaren fast vollständig versteckt. Sie war die Jüngste in der Klasse, gerade vierzehn, und Tag ein Tag aus war sie Ziel von Spötteleien, ja sogar körperlichen Übergriffen.
Ihre Finger waren immer in Bewegung. Nein, es war kein nervöser Tick, oder ein genervtes Zeitwegtrommeln. In Julias Kopf war Musik, Töne, ganze Sinfonien formierten sich, Synkopen hüpften, Dreiklänge spielten miteinander, Dur und Moll wechselten sich ab, mal war es laut und wild, wie Meeresbrandung, die gegen Felsen peitscht, ein anderes Mal war es leise und verspielt, wie die kleinen Wogen eines Sees, die an das ebene Ufer schwappten und ihre Zeichnung im feinen Sand hinterließen. Julias Finger verliehen eben diesen wundervollen Kompositionen Ausdruck. Und wenn keine physische Klaviertastatur zugegen war, so diente die gedachte Tastatur auf dem Schultisch Julias Kreativität. Kein Moment verging, in dem ihre Finger nicht in Bewegung waren.
Ein schneidendes „Julia, hör auf zu trommeln und sag mir lieber, was du von letzter Stunde über die Französische Revolution behalten hast.“ ließ das Mädchen aufschrecken. Sie mochte die Stimme der Lehrerin nicht. Sie war scharf und durchdringend, dissonant und asymmetrisch. Mathematik und Musik gehen Hand in Hand miteinander, Eleganz und Symmetrie als unersetzliches Bindemittel.
„Julia?“
Julia betete herunter, was sie über die Aufklärung behalten hatte und erntete hierfür eine halbwegs zufriedene Miene der Lehrerin und einen Tritt in den Rücken begleitet von einem gezischten „Klimpertante“ des Jungen hinter sich.
Auf dem Heimweg liefen Julias Füße fast von selbst. Sie spürte den harten Asphalt unter ihren Fußsohlen, der ihr Halt gab und das leise Klappern ihrer eigenen Füße nutzte sie als Grundrhythmus für das Konzert in ihrem Kopf. Das verspielte Zwitschern der Vögel fand neben den ungeduldigen, vielfältigen Geräuschen des Straßenverkehrs Platz. Über dem ganzen ungewöhnlichen Orchester spielte eine einsame Violine, Julia konnte die unterschiedlich dicken Saiten beinahe real unter den Fingerkuppen ihrer linken Hand spüren. Sie genoss das angenehm beruhigende Schwingen der Saiten in ihrer Vorstellung, das einen harmonischen Kontrast zu den flinken Bewegungen ihrer geübten Finger bildete.
***
„Julia, mach deine Hausaufgaben, sonst kannst du sehen, wann du deine Geige das nächste Mal in die Hände bekommst!“
Die Stimme ihrer Mutter war gebrochen, rau und uneben, voll Zorn auf das gesamte Leben, auf ihren Noch-Ehemann und auf Julia, das Kind aus dem niemand schlau wurde und mit dem sie nun allein und völlig überfordert war.
Julias Kopf war plötzlich voll Chaos, voll von schiefen Tönen, die in ihr ein unangenehmes Gefühl von Zahnschmerzen hervorriefen. Die Stränge liefen auseinander, fanden nicht wieder zusammen, zerstörten die Harmonie. Verirrte Synkopen stolperten durch ihren Kopf und vergrößerten das Durcheinander merklich.
Dieses Gefühl hatte sie oft in letzter Zeit, seit ihr Vater weg war, seit ihr die Bedrohung des einzigen, was ihr im Leben etwas bedeutete durch andere Menschen bewusst wurde. Seit man versuchte, ihr ihre Musik zu nehmen. Das war, als würde man anderen die Luft zum Atmen nehmen. Die Mutter hatte oft die Geige in den Keller geschlossen, oder hatte den Deckel über der Klaviertastatur abgesperrt. Die Mutter hasste die Musik. Sie hatte sogar die Lehrerin angewiesen, Julia aus ihrer Welt aus Tönen und Melodien herauszuholen. Und Julia hasste die Mutter, sie hasste die Schule. Ihre kleine Welt aus Musik war doch das einzige, was ihr Sicherheit bot. Das erste Mal überkam sie dieses Gefühl so bewusst vor etwa 3 drei Monaten, als Björn aus ihrer Klasse ihre Geige geschnappt hatte und damit durch die Gegend rannte, spöttische Dinge rief und rabiat an den Saiten zupfte. Die Schnecke war am Ende abgebrochen und die Geige musste repariert werden. Seitdem wusste Julia, dass andere Leute sie hassten. Sie und ihre Musik. Oder sie wegen ihrer Musik? Das war auch unerheblich, denn Julia war eins mit ihrer Musik.
Julia hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, was sie über andere Leute dachte, aber seit diesem Tag wusste sie, sie hasste Menschen, sie hasste die Mutter und sie hasste Björn und all die anderen in der Schule. Björn hatte ihrer Welt aus Harmonie und farbenfrohen Tönen unvorsichtig den ersten Knacks verpasst.
***
Die Töne der Geige schwebten über dem Orchester und flirteten mit denen der Klarinette. Julia fühlte sich, als schwebe sie mit den Tönen, ihr Körper kribbelte und war dennoch fast taub, doch ihre Beine waren merkwürdig schwer. Schweben, einen Fuß vor den anderen setzen, aber ohne Boden? Wie konnten die hektischen Synkopen eine solche Ruhe ausstrahlen? Verspielt und doch schwermütig. Es war Julias Solo. Die Musik floss in ihrem Kopf auseinander und vereinigte sich wieder. Die einzelnen Stränge schwebten, verflochten und verwoben sich. Julia fühlte sich losgelöst, wie eine körperlose Welle. Die Stränge fanden zueinander und das große Finale näherte sich. Julia fieberte ihm entgegen. Das Konzert bewegte sich auf seinen Höhepunkt zu, unweigerlich, wie eine Riesenwelle auf die Felsküste. Einsam und allein ertönte schließlich der finale Paukenschlag.
***
Björn lag vor Julia auf dem Boden, blutüberströmt, regungslos und mit schreckgeweiteten, leblosen Augen.
Julia spürte das kühle Metall der Pistole ihres Vaters zwischen ihren Händen.
Dieser Paukenschlag war für alle zu hören gewesen.