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Der Paukenschlag

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03.09.2008
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Der Paukenschlag

Der Paukenschlag

Julia war anders als die anderen. Sie war klein und zierlich, ja fast schon fragil und zerbrechlich. Ihre großen dunklen Augen waren stets gen Boden gerichtet und ihr hübsches blasses Gesicht wurde von langen, schwarzen Haaren fast vollständig versteckt. Sie war die Jüngste in der Klasse, gerade vierzehn, und Tag ein Tag aus war sie Ziel von Spötteleien, ja sogar körperlichen Übergriffen.
Ihre Finger waren immer in Bewegung. Nein, es war kein nervöser Tick, oder ein genervtes Zeitwegtrommeln. In Julias Kopf war Musik, Töne, ganze Sinfonien formierten sich, Synkopen hüpften, Dreiklänge spielten miteinander, Dur und Moll wechselten sich ab, mal war es laut und wild, wie Meeresbrandung, die gegen Felsen peitscht, ein anderes Mal war es leise und verspielt, wie die kleinen Wogen eines Sees, die an das ebene Ufer schwappten und ihre Zeichnung im feinen Sand hinterließen. Julias Finger verliehen eben diesen wundervollen Kompositionen Ausdruck. Und wenn keine physische Klaviertastatur zugegen war, so diente die gedachte Tastatur auf dem Schultisch Julias Kreativität. Kein Moment verging, in dem ihre Finger nicht in Bewegung waren.
Ein schneidendes „Julia, hör auf zu trommeln und sag mir lieber, was du von letzter Stunde über die Französische Revolution behalten hast.“ ließ das Mädchen aufschrecken. Sie mochte die Stimme der Lehrerin nicht. Sie war scharf und durchdringend, dissonant und asymmetrisch. Mathematik und Musik gehen Hand in Hand miteinander, Eleganz und Symmetrie als unersetzliches Bindemittel.
„Julia?“
Julia betete herunter, was sie über die Aufklärung behalten hatte und erntete hierfür eine halbwegs zufriedene Miene der Lehrerin und einen Tritt in den Rücken begleitet von einem gezischten „Klimpertante“ des Jungen hinter sich.
Auf dem Heimweg liefen Julias Füße fast von selbst. Sie spürte den harten Asphalt unter ihren Fußsohlen, der ihr Halt gab und das leise Klappern ihrer eigenen Füße nutzte sie als Grundrhythmus für das Konzert in ihrem Kopf. Das verspielte Zwitschern der Vögel fand neben den ungeduldigen, vielfältigen Geräuschen des Straßenverkehrs Platz. Über dem ganzen ungewöhnlichen Orchester spielte eine einsame Violine, Julia konnte die unterschiedlich dicken Saiten beinahe real unter den Fingerkuppen ihrer linken Hand spüren. Sie genoss das angenehm beruhigende Schwingen der Saiten in ihrer Vorstellung, das einen harmonischen Kontrast zu den flinken Bewegungen ihrer geübten Finger bildete.

***

„Julia, mach deine Hausaufgaben, sonst kannst du sehen, wann du deine Geige das nächste Mal in die Hände bekommst!“
Die Stimme ihrer Mutter war gebrochen, rau und uneben, voll Zorn auf das gesamte Leben, auf ihren Noch-Ehemann und auf Julia, das Kind aus dem niemand schlau wurde und mit dem sie nun allein und völlig überfordert war.
Julias Kopf war plötzlich voll Chaos, voll von schiefen Tönen, die in ihr ein unangenehmes Gefühl von Zahnschmerzen hervorriefen. Die Stränge liefen auseinander, fanden nicht wieder zusammen, zerstörten die Harmonie. Verirrte Synkopen stolperten durch ihren Kopf und vergrößerten das Durcheinander merklich.
Dieses Gefühl hatte sie oft in letzter Zeit, seit ihr Vater weg war, seit ihr die Bedrohung des einzigen, was ihr im Leben etwas bedeutete durch andere Menschen bewusst wurde. Seit man versuchte, ihr ihre Musik zu nehmen. Das war, als würde man anderen die Luft zum Atmen nehmen. Die Mutter hatte oft die Geige in den Keller geschlossen, oder hatte den Deckel über der Klaviertastatur abgesperrt. Die Mutter hasste die Musik. Sie hatte sogar die Lehrerin angewiesen, Julia aus ihrer Welt aus Tönen und Melodien herauszuholen. Und Julia hasste die Mutter, sie hasste die Schule. Ihre kleine Welt aus Musik war doch das einzige, was ihr Sicherheit bot. Das erste Mal überkam sie dieses Gefühl so bewusst vor etwa 3 drei Monaten, als Björn aus ihrer Klasse ihre Geige geschnappt hatte und damit durch die Gegend rannte, spöttische Dinge rief und rabiat an den Saiten zupfte. Die Schnecke war am Ende abgebrochen und die Geige musste repariert werden. Seitdem wusste Julia, dass andere Leute sie hassten. Sie und ihre Musik. Oder sie wegen ihrer Musik? Das war auch unerheblich, denn Julia war eins mit ihrer Musik.
Julia hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, was sie über andere Leute dachte, aber seit diesem Tag wusste sie, sie hasste Menschen, sie hasste die Mutter und sie hasste Björn und all die anderen in der Schule. Björn hatte ihrer Welt aus Harmonie und farbenfrohen Tönen unvorsichtig den ersten Knacks verpasst.

***

Die Töne der Geige schwebten über dem Orchester und flirteten mit denen der Klarinette. Julia fühlte sich, als schwebe sie mit den Tönen, ihr Körper kribbelte und war dennoch fast taub, doch ihre Beine waren merkwürdig schwer. Schweben, einen Fuß vor den anderen setzen, aber ohne Boden? Wie konnten die hektischen Synkopen eine solche Ruhe ausstrahlen? Verspielt und doch schwermütig. Es war Julias Solo. Die Musik floss in ihrem Kopf auseinander und vereinigte sich wieder. Die einzelnen Stränge schwebten, verflochten und verwoben sich. Julia fühlte sich losgelöst, wie eine körperlose Welle. Die Stränge fanden zueinander und das große Finale näherte sich. Julia fieberte ihm entgegen. Das Konzert bewegte sich auf seinen Höhepunkt zu, unweigerlich, wie eine Riesenwelle auf die Felsküste. Einsam und allein ertönte schließlich der finale Paukenschlag.

***

Björn lag vor Julia auf dem Boden, blutüberströmt, regungslos und mit schreckgeweiteten, leblosen Augen.
Julia spürte das kühle Metall der Pistole ihres Vaters zwischen ihren Händen.
Dieser Paukenschlag war für alle zu hören gewesen.

 

Hallo Maya,

und herzlich willkommen hier.
Was ich an deinem Text mag, sind die Beschreibungen über die musikalische Welt, in der Julia lebt. Auch fällt sehr positiv aus, dass es kaum etwas zu korrigieren gibt.
Nicht so gelungen finde ich den sehr narrativen Aufbau und den sehr allgemeinen Plot um Mobbing und schwere Kindheit, der, wie fast immer in solchen Geschichten, zu einer Art Amoklauf führt, auch wenn hier "nur" einer erschossen wird. Dieser Mord erscheint mir nur oberflächlich und keinesfalls zwingend hergeleitet.
Dadurch fehlt meines Erachtens Leben in deiner Geschichte. Auch in der Struktur könntest du etwas ändern, gleich zu Beginn etwa, wenn du über den Einstiegssatz erstmal Julias Aussehen beschreibst, anstatt das, was sie so andersartig macht, nämlich die Musik. Auch empfiehlt es sich, auf kleine Wörter zu achten, die Wirkung verändern. Bei "ja sogar körperlichen Übergriffen" wird zum Beispiel so penetrant auf die Opferrolle hingewiesen, dass ich eigentlich schon aufhören wollte, zu lesen. Dabei ist dieser Hinweis unnötig, wenn du die Übergriffe darstellst, anstatt sie einfach zu behaupten, etwas so, wie du es im Tritt in den Rücken und im Zwischenruf "Klimpertante" getan hast.

Das erste Mal überkam sie dieses Gefühl so bewusst vor etwa 3 drei Monaten
3 drei tut nicht nötig, "drei" reicht.

Lieben Gruß
sim

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Sim
und danke für das Lesen meiner Geschichte und dafür, dass du nicht gleich wieder aufgehört hast nach meinem missglückten Einstieg. Denn Anregungen und Kritik helfen einem ja weiter :)
Ich werde die Geschichte dahingehend überarbeiten.
Nun zu dem, was du angemerkt hast.
Natürlich ist der Plot sehr allgemein, das war mir beim schreiben schon aufgefallen. Jedoch wollte ich nicht so sehr hinaus auf: schwere Kindheit, Mobbing--->Amoklauf.
Denn mir ist klar, dass diese Reaktion Julias auf die eigentlich alltägliche Situation (Trennung der Eltern, Mobbing, wer hat das nicht erlebt heute und kaum einer dreht durch) sehr überzogen ist. Mir ging es genau darum. Denn die Geschichte sollte keine triftige Begründung für Julias Handeln liefern.
Ich wollte, dass der Leser sieht, dass Julia nicht nur in ihrer eigenen Welt lebt, sondern, dass sie auch jeglichen Bezug zur Realität verloren hat, ihr ist ja gar nicht bewusst, was sie tut. Eine Art Geschichte über das (missverstandene) Genie und den Wahnsinn mehr als eine Geschichte über ein armes gemobbtes und durchgedrehtes Mädchen.
Ich weiß nicht, ob in meiner Erklärung klar wird, was ich meine... Falls nicht, dann versuche ich es gerne noch genauer zu machen, aber vielleicht verstehst du ja auch so, was ich gemeint habe?
Wie ich gemerkt habe an deiner Kritik wird das, was ich eigentlich ausdrücken wollte in meiner Geschichte nicht wirklich deutlich. Nun, da du weißt, was ich eigentlich ausdrücken wollte, hast du vielleicht Anregungen, wie ich das deutlicher machen könnte?
Ich werde schaun, was sich an meinen Formulierungen ändern ließe, vor allem am Anfang, der ja irgendwie missglückt ist. Über die Struktur werde ich mir wohl auch Gedanken machen, aber ob mir da eine Verbesserung einfällt? Ich werde mein bestes geben. Ich denke allerdings, dass ich dazu erst morgen kommen werde.
Liebe Grüße,
Maya

 

Hallo Maya,

um das zu erreichen, was du beabsichtigst, hielte ich es für ratsam, den üblichen Verlauf zu streichen und das Augenmerk noch mehr auf die Musik zu lenken. Einzelne Situationen schaffen, in denen Julia in die Musik flieht, wenn der Vater auszieht zum Beispiel, oder wenn die Mutter mit Geigenentzug droht. Dann vielleicht sogar quasi als Trotzreaktion: Ich brauche die Geigen nicht, ich trage die Musik in mir. Da ihre Finger ja immer in Bewegung sind, könnte sie angesichts der Drohung pantomimisch die Geige halten und den Bogen streichen und die Mutter so noch wütender machen.
Auch in der Schule wäre eine konkrete Situation ratsam, nach der sie mit den Fingern auf den Tisch Klavier spielt, bis der Lehrer sie unterbricht und der Mitschüler sie tritt. Auch würde ich dazu raten, die Gesichter und Charaktere der Schüler oder Eltern viel mehr in Musik und Instrumenten darzustellen. Mit dem Paukenschlagabsatz hast du es ja schon gut gelöst, nur würde dies mE besser zur Geltung kommen, wenn sich diese Sichtweise durch den ganzen Text konsequenter ziehen würde.

Lieben Gruß
sim

 

Hallo Maya,

mir gefiel deine Geschichte ziemlich gut. Sprachlich sehr wortgewandt, und ich konnte die Musik, von der zu schreibst, regelrecht hören. Auch Julia hast du anschaulich geschildert. Mit dem Ende, das tatsächlich wie ein Paukenschlag kam, hatte ich in keinster Weise gerechnet, und so kam es vollkommen unerwartet für mich. Der Titel passt. Ihre Tat ist überzogen, ja, aber, bedenkt man die Hintergründe, ist sie vielleicht nicht ganz abwegig. Die Geschichte lebt von der Sprache, der eher allgemein gehaltene Plot störte mich nicht. Hab sie gerne gelesen, ich finde, sie kann sich durchaus sehen lassen.

Genie und Wahnsinn kommt für mich allerdings auch zu wenig rüber, eher die "Opferrolle". Ich würde an deiner Stelle noch versuchen, das deutlicher hervorzuheben. Wenn Julia so ein Genie ist, würden das dann andere Leute nicht bemerken und ihr ihre Bewunderung aussprechen (anstatt dass jemand sie als "Klimpertante" bezeichnet)? Und, um evtl. den Wahnsinn deutlicher zu machen: Vielleicht hat sie bereits andere Dinge getan, die in diese Richtung schließen lassen, und die du beispielhaft einfügen könntest?

Sie war die Jüngste in der Klasse, gerade vierzehn, und Tag ein Tag aus war sie Ziel von Spötteleien, ja sogar körperlichen Übergriffen.
Sie war die Jüngste in der Klasse, gerade vierzehn, und Tag ein Tag aus (war sie) Ziel von Spötteleien, ja sogar von körperlichen Übergriffen.

Ich hoffe, du kannst mit meinem Feedback und den Anregungen was anfangen. Hab die Geschichte gerne gelesen.

Liebe Grüße
Michael

 

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