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Der perfekte Moment
Der perfekte Moment
Wieder ein Freitag, an dem ich wie elektrisiert, ja, geradezu aufgeladen, in der kleinen Bar warte. Diese Spannung, die mich fast zum Zerreißen bringt, breitet sich von den Haarwurzeln bis in meine Fußspitzen aus. Vor allem in den Fußspitzen! Denn diese wippen verräterisch auf und ab, während der Rest meines Körpers, zumindest äußerlich gelassen, auf dem braunen Ledersofa sitzt. Die Beine locker übereinander geschlagen, das Gesicht hinter den Seiten eines anspruchsvollen Romans versteckt. Mit tiefen Atemzügen versuche ich meinen Puls zu kontrollieren.
Als mich die stark geschminkte Kellnerin anspricht, zucke ich jedoch zusammen. Ich starre ihr in die schwarzen Augen, die mich, von langen, falschen Wimpern umrandet, anklimpern.
„Kann ich dir noch etwas bringen?“, fragt sie mit ihrer rauchiger Stimme. Sicher arbeitet sie jede Nacht in dieser Zigaretten verseuchten Atmosphäre.
„Einen Espresso, bitte“, sage ich abwesend.
„Und am besten noch einen Prosecco dazu!“
Den werde ich brauchen, um meine Feigheit zu überwinden.
Ich zucke erneut zusammen, als sich die schwere, hölzerne Eingangstür öffnet. Diese Anspannung wird mich noch umbringen, denke ich. Doch schon werde ich entlohnt. Mit einem kühlen Luftzug, der eine Gänsehaut über meine bloßen Arme jagt, kommt er herein. Endlich!
Wie jeden Freitag, kurz nach zehn, taucht er in dieser Bar auf, in Begleitung von Freunden oder Kollegen. Was weiß ich. Die anderen interessieren mich nicht.
Ich habe nur Augen für ihn. Für seine kurzen, strubbeligen Haare, die etwas dunkler sind als letzte Woche, für seine Lippen, seine feurigen, braunen Augen, seinen gut gebauten Körper und den Dreitagebart, der ihm eine gewisse verwegene Note verleiht.
Wie es sich wohl anfühlt, wenn er damit die zarte Haut zwischen meinen Beinen streift?
Der explosive Cocktail aus Verlagen und Scheu tönt meine Wagen in ein sanftes Rot, das ich hinter den Seiten meines Buches verstecken muss.
Doch meine Augen können nicht von ihm lassen. Sie treffen seine, für eine viel zu kurze Sekunde, als sein Blick den Raum nach bekannten Gesichtern absucht. Dann wandert er weiter. Er kennt mich nicht.
Ein Klirren reißt mich aus meinen Gedanken. Mein Prosecco schwappt über den Rand, als die Kellnerin mein Glas unsanft auf den Tisch stellt.
„Sorry, ich bring dir ein neues“, krächzt sie und gibt sich mit der kleinen Espressotasse mehr Mühe.
Ich winke ab, greife nach dem Glas und nehme einen großen Schluck, während sie mit einem Tuch hektisch über die Platte wischt.
„Schon gut“, sage ich.
Es gibt Wichtigeres! Seine Hände zum Beispiel. Sie wirken groß, seine Finger geschickt. Ich erkenne es an der Art, wie er seine karierte Jacke über die Stuhllehne hängt, seinen Schlüssel in der engen Hosentasche verschwinden lässt und sich anschließend flüchtig durchs Haar fährt.
Es reizt mich, diese Geschicklichkeit zu testen und seine fordernden Finger auf meinem Körper zu spüren. Möglichst bald.
Langsam erwärmt sich das kalte Leder unter meiner heißen Haut, denn mein schwarzes Kleid ist viel zu kurz.
Während ich darüber nachdenke, wie er schmecken könnte, streiche ich mir meine langen, braunen Haare aus dem Gesicht. Doch sie lassen sich nicht zähmen. Unbändig springen die wilden Locken über mein Gesicht, meine Schultern, die dünnen Träger meines Kleides. Sie wollen sich nicht mehr zurück nehmen, denn jedes einzelne wartet auf eine Berührung von ihm. Schon viel zu lange.
Doch, verdammt nochmal, ich kann mich mal wieder nicht bewegen! Meine Beine zittern, sind unfähig, zu laufen! Ich kann nicht aufstehen, nicht zu ihm gehen, nicht sagen, was ich zu sagen habe, nicht tun, was ich zu tun habe.
Der Moment ist einfach noch nicht perfekt, beschließe ich.
Während ich die Seiten meines Buches durchblättere, kreisen meine Gedanken nur um diesen einen Augenblick:
Wenn der Raum sich gelichtet hat und die meisten Leute verschwunden sind, wird er alleine an der Bar lehnen, um ein letztes Glas Beaujolais zu genießen. Dann ist es soweit.
Ich werde mein Buch in die Tasche gleiten lassen und zu ihm herüber gehen. Mit entschlossenen Schritten und dem Proseccoglas in der Hand werde ich mich neben ihn stellen und ihm tief in die dunklen Augen blicken.
Vor Aufregung bebe ich, aber er wird es nicht bemerken, denn meine Hand wird seine Schulter nur ganz zart berühren.
„Ich kann wunderbare Gute-Nacht-Geschichten erzählen“, flüstere ich ihm ins Ohr.
Wahrscheinlich werden seine braunen Augen verwundert schauen, für einen Augenblick, dann wird er lächeln und fragen, wer ich bin.
„Kein Engel“, antworte ich, „Trotzdem kann ich dir den Himmel zeigen.“
Ich werde sein Weinglas auf den blank polierten Tresen stellen und seine Hand ergreifen. Er hat keine Wahl.
„Wohin gehen wir?“, fragt er mich.
„Dorthin, wo man fliegen lernen kann“, verrate ich ihm leise.
Auf dem Weg nach draußen werden meine Lippen seine berühren, erst ganz sanft, wie ein Hauch, und ihm zeigen, was es bedeutet, dem Himmel etwas näher zu kommen.
Dann nehme ich ihn mit. Vor die Tür. Vielleicht in der Hauseingang gegenüber. Dort öffne ich sein Hemd und fahre mit meinen Fingern seinen Körper entlang. Jeden Muskel, jede Faser. Aber das wird mir nicht genügen. Meine Hände halten nicht still, ziehen seinen Ledergürtel auf, öffnen die Jeans und gleiten hinein.
Er atmet schwer, stöhnt leise, während er mein Kleid hoch schiebt. Ich spüre den kalten Putz an meinen nackten Schultern und seinen heißen Körper zwischen meinen Beinen.
„Bist du bereit für einen Höhenflug?“, ist das letzte, was ich sagen kann...
Abwesend durchblättere ich immer noch die Seiten meines Buches. Mein Atem geht etwas schneller.
Als ich wieder aufschaue, hat sich der Raum gelichtet. Die Zeit muss schneller vergangen sein, als ich bemerkt habe. Mittlerweile übertönen E-Guitarrenklänge das leiser werdende Stimmengewirr. Die stark geschminkte Kellnerin ist über seinen Tisch gebeugt und sammelt die Weingläser auf ihrem runden Tablett ein. Sie sind genauso leer wie die Stühle an seinem Tisch und die Plätze an der Bar.
Er ist weg! Ich habe ihn verpasst. Schon wieder!
„Das muss ein sehr spannendes Buch sein“, reißt mich plötzlich eine sanfte Stimme aus meinen Gedanken.
Ich blicke in zwei wunderbar warme, dunkle Augen.
„Jeden Freitag sitzt du hier alleine und liest darin“, sagt er lächelnd.
Ich lächele zurück und plötzlich wird mir klar, dass der perfekte Moment manchmal ganz anders aussieht, als man denkt.
Mein Herz schlägt schnell, doch meine Beine zittern nicht mehr. Sie wissen, was sie wollen. Ganz genau.
„Es handelt von wunderbaren Gute-Nacht-Geschichten. Soll ich dir davon erzählen?“, frage ich und berühre seine Hand ganz sanft.