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Der Physiker
Den ganzen Nachmittag brütete er über einem Stapel von Papieren und Büchern. Er kritzelte eine Formel nach der anderen in sein Notizheft und murmelte unverständliche Worte vor sich hin.
“Ohne dieses Minuszeichen hätte ich die Formel ... Aber nein, das ist doch keine Energie”, schoss es ihm durch den Kopf. Er war verzweifelt und sah keinen Ausweg. Noch heute Morgen da war er sich sicher, dass es endlich klappen würde. In seinen Gedanken hörte er bereits seine Kollegen, die ihm gratulierten. Aber jetzt befürchtete er, dass dieser Ehre einem anderem gelten würde, dem es gelingen würde, vor ihm diese Relation nachzuweisen.
Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als eine Stubenfliege nur paar Zentimeter vor seiner Nase vorbei flog. Er griff zu der Klatsche, die neben ihm lag, wartete ein Weilchen, bis das Insekt auf seinem Schreibtisch landete. Ein Knall, doch das Biest konnte sich, wie so oft, in letzter Sekunde retten und flog leicht erregt aus dem offenen Fenster.
Als er nun wieder in seine Manuskripte vertieft war, widmete er seine ganze Aufmerksamkeit einer Gleichung. “Daran hatte ich ja gar nicht mehr gedacht ... Ja, genau, in diesem Fall ist H gleich E ... Also genügt es, wenn es mir gelingt, H abzuleiten!”
Aufgeregt blätterte er durch einige Bücher, um nachzusehen, wie er H ableiten könnte. Schnell wurde er auch fündig, und nach ein paar Zeilen folgte die nächste Formel auf seinem Notizblock. Doch dieser Hoffnungsschimmer war schnell erblasst.
“Wieso taucht dieses Gamma dort auf? Hab ich irgendwo einen Fehler gemacht?” Er blätterte eifrig in seinem Notizblock einige Seite nach vorne und stöberte in seinen Gedanken die Ableitung noch einmal durch. Einige der Gleichungen überprüfte er nochmals, doch er konnte keinen tief greifenden Fehler entdecken. “Vielleicht hab ich doch nicht den richtigen Weg eingeschlagen”, dachte er sich.
“Wieso ist Gamma nicht gleich eins?” schoss es ihm in seiner Verzweiflung durch den Kopf. Doch bevor er diesen Gedanken zu Ende führen konnte, öffnete sich die Tür und sein Vater teilte ihm mit, dass das Essen angerichtet sei. “Ja, ja, komme sofort”, antwortete er gewohnheitsmäßig.
“Kann Gamma denn überhaupt eins sein?” führte er seine Überlegung weiter. “Mal sehen, wie war die Definition von Gamma? ... Gamma kann nur eins sein, wenn der Körper ruht, also v gleich null ist.” Dann schmunzelte er, er erinnerte sich an die Worte seines Professors, der vor einigen Jahren, damals ohne Begründung behauptet hatte, dass die so genannte Masse-Energie-Äquivalenz-Formel nur gelten würde, wenn der Körper ruhen würde. Genau ... Er schrieb seinen Gedanken nieder und konnte jetzt die wohl berühmteste Formel der Physik erstellen:
Es war die Formel, die genau vor hundert Jahren von Albert Einstein hergeleitet und korrekt physikalisch von ihm interpretiert wurde. Er wusste, dass vor ihm wahrscheinlich schon Tausende von Physikstudenten diese Formel geschrieben und angewandt hatten, doch er war heimlich stolz, der Erste seines Jahrganges zu sein, dem es gelungen war diese Gleichung unabhängig und eigenständig aufgestellt, zu haben. Dies würde ihm bestimmt morgen die ganze Aufmerksamkeit seiner Mitstudenten sichern.