- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Der Preis des Ruhmes
Dichte Nebelschwaden hingen über dem See. In der Nähe des schlammigen Ufers jagte ein Graureiher nach Fischen. Vorsichtig schlich der Vogel durch das Schilf, um seine Beute nicht zu warnen. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und stieß den Schnabel hinab ins Wasser. Das Plätschern hallte laut von den Felswänden wider, die den See von drei Seiten umgaben.
Jakob Jedlik stand etwas abseits am Waldrand und beobachtet teilnahmslos die Jagdbemühungen des Graureihers. Die Luft war kalt und feucht, und Jedlik fror in seinem dünnen Sommermantel. Stampfend ging er ein paar Schritte auf und ab.
"Wie lange sind sie schon da unten?", fragte Jedlik.
"Fast eine Stunde. Die ersten müssen bald ihre Flaschen wechseln", antwortete Oskar Fleischer, der auf einem umgekippten Baumstamm hockte und Pistazien aß.
Eine Zeit lang schwiegen die beiden. Ein Froschmann tauchte in der Mitte des Sees auf, sah sich kurz um und verschwand wieder in den dunklen Tiefen.
"Jakob, das gefällt mir nicht", sagte Fleischer schließlich, "gefällt mir überhaupt nicht." Er warf die Pistazienschalen ins Gebüsch und stand auf. "Das dauert alles viel zu lange."
"Der See ist tief. Und an einigen Stellen geht er weit in den Berg hinein", antwortete Jedlik.
"Hoffen wir's."
"Sie ist sich sicher, dass die Leiche hier ist."
Jedlik sah zum Streifenwagen hinüber. Die dicke, rothaarige Frau auf der Rückbank unterhielt sich mit einem der Streifenbeamten. Sie wirkte entspannt. Der Polizist sagte etwas und die dicke Frau lachte. Auf ihren Zähnen glänzte Lippenstift.
"Außerdem wusste sie von dem Muttermal", sagte Jedlik.
Wahrscheinlich hatte das den Ausschlag gegeben, dachte er. Das große, herzförmige Muttermal auf dem Rücken des Mädchens, das seit dreizehn Tagen verschwunden war.
"Und wenn sie doch nur eine Spinnerin ist?"
Jedlik dachte einen Augenblick über die Frage nach. Er wusste keine Antwort. Dann sah er den Taucher und dessen erhobener Daumen zerstreute alle Zweifel.
Als der bleiche, dünne Körper an Land getragen wurde, ging hinter den Tannen die Sonne auf. Der Horizont wurde heller und die ersten Strahlen brachen durch das Dickicht aus Zweigen und Stämmen. Schnell löste sich der Nebel auf.
Der Raum im siebten Stock des LKAs Hamburg war gerade groß genug für einen Konferenztisch und zehn Stühle. Neun der Plätze waren besetzt, als Jedlik und Fleischer den Raum betraten.
"Morgen zusammen. Ihr wurdet hoffentlich schon alle über die Neuigkeiten informiert?", begann Fleischer. Sein Blick wanderte kurz über die müden Gesichter. "Dann können wir ja anfangen."
Für einen Augenblick herrschte Stille in dem kleinen Raum.
"Jemand muss die Eltern benachrichtigen", sagte Jedlik schließlich. Er sprach leise, fast monoton.
Einige lange Sekunden verstrichen. Dann meldete sich am Ende des Tisches der Kollege, der diese Aufgabe meistens übernahm. Ein kurzes, dankbares Stimmengemurmel setzte ein.
"Gut. Wer hat mit der Gerichtsmedizin gesprochen?", fuhr Jedlik fort.
"Dr. Moradi weiß bereits Bescheid", antwortete eine junge Frau.
"Bis heute Mittag will ich seine erste Einschätzung, woran und vor allem wann das Mädchen gestorben ist. Sobald die Eltern da waren, soll er mit der Obduktion beginnen."
Die Frau nickte.
"Die Spurensicherung ist noch vor Ort", Jedlik nannte drei Namen aus der Runde, "Sie fahren bitte ebenfalls zum Fundort. Ich will wissen, wie das Mädchen dorthin gekommen ist, ob sie jemand gesehen hat. Fragen Sie in den umliegenden Dörfern nach, ob an dem See geangelt wird."
Jedlik wandte sich an den Kollegen am Tischende.
"Fragen Sie die Eltern bei der Gelegenheit gleich, ob Ihre Tochter Freunde oder Bekannte in der Gegend hatte." Er machte eine kurze Pause. "Um dreizehn Uhr geben wir eine Pressekonferenz. Wir gehen an die Öffentlichkeit, vielleicht ergibt sich ja etwas."
Jedlik setzte sich auf den freien Stuhl.
"Soweit alles klar?", fragte Fleischer. "Dann ran an die Arbeit. Wir haben lange genug auf diesen Moment gewartet."
Nach wenigen Sekunden waren Jedlik und Fleischer allein in dem kleinen Raum.
"Was hast du vor, Jakob?", fragte Fleischer.
"Ich fahre zu Frau Bohsen. Sie soll mir noch einmal erklären, woher sie wusste, wo wir das Mädchen finden würden."
"Du glaubst also nicht an ihre Gabe?"
"Ich weiß es nicht ..."
Jedlik starrte auf die glänzende Oberfläche des Konferenztisches.
"Ich dachte, die Bohsen sei raus aus dem Kreis der Verdächtigen?"
"Da hat auch noch keiner ernsthaft geglaubt, dass sie Recht haben könnte."
Jedlik stand auf.
"Viel Glück bei der Pressekonferenz. Und ruf mich an, wenn es etwas Neues gibt."
Als Jedlik auf den Ring 2 einbog, war der morgendliche Berufsverkehr immer noch nicht abgeebbt. Träge schob sich die Blechlawine auf der dreispurigen Straße Richtung Innenstadt und mit ihr viele müde, schlecht gelaunte Menschen, deren einziges Ventil die Hupe war.
Eine Zeit lang trieb Jedlik mit dem Strom der Büroangestellten und Verkäufer. Dann bog er ab und fuhr stadtauswärts.
Je länger die Fahrt dauerte, desto leerer wurden die Straßen. Die Bürogebäude wichen kleinen Reihenhäusern, dann kamen die Villen am nördlichen Stadtrand, später nur noch Felder und Wiesen, vereinzelt ein Bauernhof. Eine halbe Stunde später parkte Jedlik den Wagen in einer kleinen, sauberen Straße.
Eine dichte Hecke umschloss das Grundstück, nur zur Straße hin unterbrochen durch ein kleines Gartentor.
Daneben stand ein Mann in einem karierten Wollpullunder und schnitt überstehendes Gestrüpp ab. Die Heckenschere glänzte in der Sonne und der Mann ächzte vor Anstrengung. Dann ruckten die Schneideblätter zusammen und ein dicker Ast fiel zu Boden.
"Entschuldigen Sie", sagte Jedlik.
Der Mann im Pullunder fuhr erschrocken herum. Seine Oberlippe zitterte etwas, ein Schweißtropfen fiel herab.
"Ja? Was wollen Sie?"
"Ich möchte zu Frau Bohsen. Wissen Sie, ob sie zu Hause ist?"
"Haben Sie einen Termin?", fragte der Mann und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
"Nein, habe ich nicht."
"Tut mir Leid. Madame Bohsen empfängt heute keine Besucher. Kommen Sie morgen wieder."
"Ich denke, Sie wird für mich wohl eine Ausnahme machen", sagte Jedlik und holte seinen Polizeiausweis aus der Manteltasche.
"Ach, so ist das", sagte der Mann und seine Oberlippe begann wieder leicht zu zittern.
Der Garten jenseits der hohen Hecke wirkte sehr gepflegt. Es roch nach frisch gemähter Wiese, eine alte Frau pflanzte Stiefmütterchen. Ein Kiesweg führte zu dem einstöckigen Haus mit dem Spitzdach.
Jedlik folgte dem Mann durch die offene Haustür ins kühle Halbdunkel.
"Erwin, ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nicht gestört werden möchte. Ist das denn so schwer ..."
Frau Bohsen trat in den Flur. Sie trug mehrere farbige Gewänder, durch die ihr Körper noch voluminöser wirkte. Als sie Jedlik erkannte, verformten sich die wulstigen Lippen zu einem Lächeln.
"Herr Kommissar! Schön, Sie zu sehen."
"Guten Tag, Frau Bohsen. Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen."
"Papperlapapp, für Sie habe ich doch immer Zeit. Kommen Sie, kommen Sie."
Das Wohnzimmer glich einer Höhle. Die überfüllten Bücherregale reichten bis unter die Decke und die schweren Vorhänge vor der Fensterfront nahmen die Sicht nach draußen. Für einen Moment fühlte Jedlik sich eingeschlossen, gefangen. Er atmete tief durch und setzte sich auf ein kleines Sofa, nachdem Frau Bohsen ihm gegenüber Platz genommen hatte. Auf dem niedrigen Tisch zwischen ihnen stand ein Kaffeeservice und eine Schale mit Keksen.
"Sie erwarten Besuch?", fragte Jedlik.
"Ach das, ja, später kommen ein paar Leute von der Zeitung."
"Ihr Gärtner sagte mir schon, dass Sie heute viele Termine haben."
"Mein Gärtner?", Frau Bohsen sah ihn überrascht an. "Ach, Sie meinen Erwin. Nein, er ist nicht mein Gärtner. Eher ein Freund, der mir ein wenig hilft."
"Wie die alte Frau, die die Blumen einpflanzt?"
"Richtig. Aber erzählen Sie, Herr Kommissar, was führt Sie zu mir? Haben Sie den Mörder bereits gefasst?"
Sie lehnte sich nach vorne und der Sessel protestierte quietschend.
"Nein, noch nicht. Frau Bohsen, ich möchte noch einmal über Ihre Vision sprechen. Was haben Sie genau gesehen?"
"Habe ich Ihnen das nicht schon häufig genug erzählt? Aber Sie haben mir nie wirklich zugehört." Tadelnd hob sie den Finger. "Weil Sie mir nicht geglaubt haben, richtig? Na gut." Sie schloss die Augen. "Zuerst sah ich nur den Körper. Den blassen, toten Körper und die blauen Plastiksäcke, die ihn auf dem Grund hielten."
"Wie lag die Leiche?"
"Wie sie lag? Auf dem Rücken. Ja, ihre toten Augen schauten gen Himmel. Ich entfernte mich von dem Mädchen, tauchte langsam auf. Sie wurde immer kleiner bis die Dunkelheit sie verschluckte. Ich durchbrach die Wasseroberfläche und sah, wie sich der Mond auf dem See spiegelte. Immer höher flog ich, über die Spitzen der Tannen, bis ich in der Ferne die Lichter erblickte: links von mir die zwei kleinen und rechts das große, das den ganzen Nachthimmel erleuchtete." Sie öffnete die Augen. "Aber das habe ich Ihnen alles schon erzählt."
"Ja, das stimmt. Wir Polizisten müssen immer zweimal fragen."
Jedlik versuchte zu lächeln. Ihre Aussage hatte sich nicht verändert.
"Das macht doch nichts, ich freue mich über Ihren Besuch. Aber bitte entschuldigen Sie, ich bin eine schlechte Gastgeberin. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?"
"Nein, vielen Dank. Ich muss auch weiter."
Jedlik erhob sich aus dem tiefen Polster. Es gab für ihn hier nichts mehr zu tun.
"Schade, Herr Kommissar, dann also bis zum nächsten Mal."
"Ja, bis zum nächsten Mal."
"Und das war alles?", fragte Fleischer, nachdem Jedlik seinen Bericht beendet hatte.
Jedlik nickte und Fleischer widmete sich wieder seinem Kotelett mit Pommes. Das Essen in der Kantine des LKAs war nicht gut, aber Fleischer immer hungrig.
"Eine dreiviertel Stunde hin, eine dreiviertel Stunde zurück. Jakob, manchmal verstehe ich dich nicht", sagte er, ohne aufzuschauen.
"Hat sich Dr. Moradi gemeldet?"
"Ja. Das Mädchen ist innerhalb der letzten achtundvierzig Stunden gestorben. Genaueres erst nach der Obduktion."
"Achtundvierzig Stunden erst?", Jedlik nippte an seinem Kaffee. "Todesursache?"
"Wahrscheinlich die Folgen einer schweren Schädelfraktur. Stumpfer Gegenstand, von vorne gegen die Stirn, mehrmals." Fleischer klopfte sich mit dem Teelöffel gegen die besagte Stelle. "Sicher ist sich Moradi aber nicht. Sie hat ziemlich üble Hämatome am Hals, könnte auch erwürgt worden sein."
Jedlik dachte eine Weile nach.
"Der Täter hat versucht, sie zu erwürgen, es aber nicht geschafft. Vielleicht hat sie sich gewehrt, vielleicht konnte er es auch einfach nicht. Es ist nicht leicht einen Menschen zu erwürgen, ihm in die Augen zu sehen, während er stirbt. Dann ist er wütend geworden, hat sich den erstbesten Gegenstand geschnappt, eine Taschenlampe oder einen Schraubenschlüssel, und auf sie eingeschlagen. Immer wieder, bis sie sich nicht mehr bewegt hat. Sie wurde nicht vergewaltigt, oder?"
"Nein", antwortete Fleischer kauend.
"Das war kein Unfall, keine Tat aus dem Affekt heraus. Das Mädchen sollte sterben. Es hilft nichts, wir müssen das Umfeld des Mädchens noch einmal unter die Lupe nehmen. Freunde, Verwandte, Bekannte, alle die ein Motiv haben könnten. Wie lief eigentlich die Pressekonferenz?"
"Nicht besonders. Die Geier haben sich geradezu auf die Story gestürzt. Wir werden morgen wohl auf allen Titelseiten stehen."
"Das habe ich befürchtet. Frau Bohsen gibt auch schon die ersten Interviews."
"Gut, dass du es erwähnst", Fleischer schob einen weißen Schnellhefter über den Tisch. "Wir haben schon einmal mit ihr zusammengearbeitet. Also, nicht wir direkt, sondern die Kollegen aus Kiel. Ist acht Jahre her, ging damals um eine Entführung. Die Kollegen sind nur so klug gewesen, Frau Bohsens Bedeutung bei der Lösung des Falls runterzuspielen, so dass sie in der Presse kaum zu Wort gekommen ist. Deshalb wussten wir bislang auch nichts davon, die Bohsen wird in den Berichten kaum erwähnt, nur in einem Artikel der Lokalzeitung."
"Ich schau mir das gleich mal an. Wir reden später weiter."
Die Parallelen waren offensichtlich. Ein junges Mädchen verschwindet. Die besorgten Eltern suchen nach ihr, rufen Freunde und Bekannte an. Nach einer schlaflosen Nacht gehen sie zur Polizei. Fotos werden an Streifenwagen verteilt, Waldstücke durchkämmt und die Bevölkerung um Mithilfe gebeten. Nichts passiert. Die Tage verstreichen und die Hoffung der Eltern schwindet, wird ersetzt durch Verzweifelung und dem unstillbaren Verlangen nach Gewissheit. Eine selbsternannte Hellseherin nimmt Kontakt zu ihnen auf, behauptet, sie wisse, wo ihre Tochter sei. Die Polizei ist misstrauisch, lehnt eine Zusammenarbeit zunächst ab, lässt die Frau sogar verhören. Doch die Eltern greifen auch nach diesem Strohhalm. Man fährt gemeinsam zu dem Ort, den die Hellseherin beschreibt, eine stillgelegte Fertigungshalle im Industriegebiet.
Jedlik blätterte langsam durch den Bericht. Die beiden Fälle glichen sich bis ins Detail. Der einzige Unterschied bestand darin, dass das Mädchen in Lübeck lebendig gefunden worden war. Der Fall war nie wirklich abgeschlossen worden, irgendwann hatten sich die Ermittlungen nur noch im Kreis gedreht.
Die letzte Seite des Schnellhefters war ein vergilbter Zeitungsausschnitt. Jemand hatte ihn mit penibler Genauigkeit auf ein Stück Pappe geklebt und eingeheftet. Jedliks Augen wanderten über die Überschrift und die ersten Zeilen. Als sie das Foto erreichten, übersprang sein Herz einen Schlag. Das Bild zeigte drei Menschen. Vater und Mutter, ihre Arme schützend um die Tochter gelegt. Alle wirkten sehr erschöpft, in den Gesichtern der Eltern spiegelt sich Erleichterung, das Mädchen starrte ins Leere. Jedlik erkannte den Mann auf dem Foto nicht, doch er erkannte das nervöse Lächeln und die Lippen, die selbst in dieser leblosen Momentaufnahme leicht zu zittern schienen.
"Das hier ist Erwin Baumann." Jedlik zeigte auf den Zeitungsausschnitt. "Ich will, dass er ab sofort überwacht wird. Das hat höchste Priorität. Ich glaube, er ist unser Mann."
Fleischer saß hinter seinem Schreibtisch und sah Jedlik fragend an.
"Und ruf bei der Staatsanwaltschaft an. Ich brauche zwei Haftbefehle. Einen für diesen Baumann und einen für Frau Bohsen", fuhr Jedlik fort.
"Was ist denn los, Jakob? Wovon sprichst du?"
"Die beiden Fälle gleichen sich bis ins kleinste Detail. Das kann kein Zufall sein. Außerdem ist dieser Baumann nicht nur der Vater des entführten Mädchens aus Kiel, nein, er schneidet außerdem seit acht Jahren die Hecke bei Frau Bohsen. Oskar, das stinkt alles ganz gewaltig."
"Es gibt schon gewisse Parallelen, aber vielleicht hat die Bohsen nur solche Visionen."
"Du meinst, sie hat sich auf verschwundene Mädchen spezialisiert? Geh nur für einen Augenblick davon aus, dass sie keine Hellseherin ist, dass sie keine Visionen hat. Nur für einen Augenblick. Und dann sag mir, woher sie wissen konnte, wo die Mädchen sind." Jedlik hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. "Und wo wir gerade dabei sind, erkläre mir doch bitte, wie sie das Muttermal sehen konnte, wenn die Leiche auf dem Rücken lag. Sie hat mir ihre Vision etliche Male beschrieben, immer lag das Mädchen auf dem Rücken."
"Du meinst ..."
"Die Bohsen kann nicht die Mörderin sein, wir sind das oft genug durchgegangen. Er war es", Jedliks Finger presste sich wieder auf den Zeitungsausschnitt, "er hat das Mädchen für sie getötet."
Die untergehende Sonne warf lange Schatten, als Jedlik zum zweiten Mal an diesem Tag in der kleinen sauberen Straße parkte. Der Streifenwagen hielt direkt hinter ihm. Jedlik sprach kurz mit den beiden Polizeibeamten, bevor er den Garten betrat.
Sie wartete bereits auf ihn, stand lächelnd in der Haustür.
"Herr Kommissar, irgendwoher wusste ich, dass Sie noch einmal vorbeikommen würden. Allerdings habe ich nicht so früh damit gerechnet."
"Sie hatten also wieder eine Vision?", fragte Jedlik und jetzt lächelte er ebenfalls. Kein Katz-und-Maus-Spiel, dachte er. Sie wussten beide, worum es ging.
"Nennen wir es weibliche Intuition."
Wieder saßen sie im Wohnzimmer zwischen den hohen Bücherregalen und den schweren Vorhängen. Eine kleine Stehlampe erhellte einen Teil des Zimmers, der Rest blieb in der Dunkelheit verborgen. Frau Bohsens Sessel stand am Rande des Lichtkegels, so dass Jedlik ihre Gesichtszüge nur erahnen konnte.
"Warum das alles?", fragte er.
"Ist das wirklich wichtig?"
"Es ist das Einzige, was ich noch nicht verstehe."
"Ansehen, Macht, Ruhm. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Aber beantworten Sie mir bitte auch eine Frage."
Jedlik nickte.
"Wie sind Sie mir auf die Schliche gekommen?"
"Das Muttermal. Sie konnten es nicht gesehen haben."
"Das ist alles? Eine reichlich dünne Beweisführung, Herr Kommissar." Ihre Stimme klang fast beleidigt. "Na ja, was soll's?" Sie zuckte mit den Schultern. "Wollen Sie mir denn gar nicht sagen, dass ich verrückt bin?"
"Darüber haben andere zu entscheiden."
"Sie glauben immer noch, dass Sie mich wirklich kriegen? Jetzt enttäuschen Sie mich aber."
"Meine Kollegen sind bereits bei Herrn Baumann. Früher oder später wird er reden. Und dann werden Sie vor Gericht gestellt."
"Rufen Sie ihn an, Ihren Kollegen. Na los, machen Sie schon."
Jedlik zögerte einen Moment, dann zog er das Handy aus der Tasche und wählte Fleischers Nummer. Bereits nach dem ersten Tuten meldete sich dieser.
"Jakob, wir sind zu spät gekommen. Er hat sich ...", Fleischers Stimme stockte kurz. "Er hat sich in den Mund geschossen. Mit einer Schrotflinte. Die Haustür war offen, deshalb bin ich einfach rein gegangen. In der Küche lag er dann. Ich wollte dich gerade anrufen ..."
Jedlik legte auf. Eine Zeit lang starrte er auf das dunkle Display. Als er den Kopf hob, sah er das breite Grinsen in der Dunkelheit.
"Womit haben Sie ihn erpresst?"
"Ich habe ihn nicht erpresst, er hat alles aus freien Stücken getan."
"Er hat wirklich an Sie geglaubt, stimmt's? An die Visionen und den ganzen Hokuspokus."
"Ich habe schließlich seine Tochter gerettet."
"Das Leben seiner Tochter für das einer anderen."
Jedlik stand auf. Es gab für ihn hier nichts mehr zu tun. Lange saß er noch in seinem Wagen, hörte Chopin und überlegte, was der unbekannte Entführer aus Kiel Frau Bohsen wohl geschuldet hatte und wie lange sich diese Spirale schon drehte.
Irgendwann kamen die Polizeibeamten zurück. Frau Bohsen lächelte auf dem Weg zum Streifenwagen.