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Der Puppenspieler
Zu dieser frühen Stunde ist die Stille so allgegenwärtig, ich spüre, wie sie sich an mich schmiegt, mich streichelt. Ich habe mich in meinem Leben verlaufen und fühle in den stillen Momenten, dass ich den Weg wieder finden kann.
Keine Sekunde länger konnte ich neben Chris liegen bleiben. Seine gleichmäßigen Atemzüge, nur von einem Röcheln unterbrochen, haben mich immer unruhiger werden lassen.
Ein Becher mit heißem Kaffee steht vor mir auf dem Tisch, daneben liegt das Tagebuch, die jungfräulichen Seiten bereit, die Gedanken aufzunehmen. Mein Blick klebt an dem braunen Fleck auf der frisch geweißten Wand. Ein bizarres Gebilde, das Bände spricht, über mich, über ihn, über unsere Ehe. Der Kaffeefleck ähnelt einem Phönix, der aus der Asche steigt, und er macht mich traurig, weil ich ahne, dass ich keine bin, die wieder aufsteht, wenn sie einmal am Boden liegt. Nein, ich bin eine, die sich wegduckt und die Scherben einsammelt, eine, die stumm bleibt, wenn sie schreien sollte.
Ich greife zum Bleistift und beginne zu schreiben, erst unsicher, doch mit jedem Wort wandelt sich der Aggregatzustand der Erstarrung um. Es braucht immer zwei. Einer liegt oben, einer unten. Der eine gibt, der andere nimmt. Leben und lieben, sterben und Streit. Wie weit kann man einen Menschen verbiegen, bis er zerbricht. Bis sein Wille verbrennt, nur Asche bleibt? Und die Liebe schaut zu. In guten wie in schlechten Tagen.
Als ich die WC-Spülung rauschen höre, verstecke ich das Tagebuch in einem der Umzugskartons. Chris schlurft in die Küche. Er dehnt sich und gähnt. „Gibt es noch Kaffee?“, fragt er, zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich rittlings darauf, direkt neben mich. Er schaut auf den Kaffeefleck an der Wand. „Wegen gestern“, sagt er. „Das wollte ich nicht.“
Ich weiß, dass mein Mann an seine Grenzen stößt. War etwas viel in letzter Zeit für ihn. Der Chefsessel, der Hauskauf, der Umzug hierher.
Er greift nach meiner Hand, dreht die Handfläche nach oben. „Tut’s noch weh?“ Er küsst die Fingerspitzen.
„Ach, der kleine Schnitt. Da sterb ich schon nicht von.“
„Tut mir leid, Liebes. Kommt nicht wieder vor.“
„Und die Wand?“
„Keine große Sache. Samstag hab ich Zeit für.“
Er gibt die Hand frei und küsst meine Stirn. „Du kannst doch schreiben. Mach was draus!“ Seine Nase berührt meinen Scheitel, gräbt sich in mein ungewaschenes Haar. „Was geht in deinem schönen Köpfchen nur immer so vor sich, hm?“ Er spürt, wie ich mich versteife und fragt: „Was is?“
„Was soll sein?“
Er steht auf, der Stuhl fällt um. Seine Augen funkeln. „Du kannst nicht anders, was?“
Ich sehe, wie sich sein Mund öffnet und schließt, stelle mir vor, wir wären Marionetten und hingen an Fäden, die von einem Puppenspieler gezogen würden. Lippen, Arme und Beine gehorchten nicht unserem Willen. Wir hätten keinen Einfluss darauf, was wir sagen und tun. Er nicht. Ich nicht.
Auf dem Weg ins Bad dreht er sich noch mal um. „Glaub mir, der Zug ist abgefahren.“ Chris lächelt. Er lächelt wie Paps.
Ich öffne die Jalousie im Arbeitszimmer. Der Tag hockt grau und bedrohlich im Garten. Durch den Nebel verwischen die Konturen der Beete und Hecken. Das Alpenveilchen auf der Fensterbank braucht Wasser und lässt seine Köpfe hängen. Das Grünzeug meiner Kindheit, überall stand es in der Wohnung herum. Mutters Leidenschaft: Nur in den Untersetzer gießen, hörst du! Sonst verfault die Knolle.
Das Handy klingelt, auf dem Display erscheint Alex. Sie zeigt ihre weißen Zähne.
„Hey, Süße, du lässt ja gar nix hören von dir. Wie geht’s dir denn?"
Ich bin froh, dass sie anruft. „Prima, alles prima. Das Haus ist wunderschön, viel schöner als auf den Fotos. Und der Garten. Da kann ich mich richtig austoben.“
Sie erzählt mir von ihrer neuen Eroberung. Marcel heißt der Glückliche, der zurzeit das Bett mit ihr teilt und ihre kalten Füße wärmt. Alex lacht und ich stelle mir vor, wie sie ihren Kopf dabei in den Nacken wirft. Ich schwärme von der Landschaft, den Bergen, den neuen Nachbarn, die ich noch gar nicht zu Gesicht bekommen habe. Sage, dass ich auf den kleinen Empfang heute Abend gespannt sei, bei dem ich den Chef von Chris kennenlernen werde.
„Apropos Chris, wie macht er sich?“
„Wie immer halt. Kennst ihn doch.“ Mein Hals wird trocken, ich krächze: „Er gibt sich Mühe.“
„Hallo, ich bin es. Mir brauchst du nix vorzumachen.“
„Wir haben alles Im Griff, Alex. Du verstehst das nicht.“
„Da hast du recht. Ich begreife nicht, warum du dich von ihm so gängeln lässt.“
Ich will ihr erklären, dass ich nicht anders kann. Aber das haben wir schon durchgekaut, unsere Gespräche drehen sich immer im Kreise. „Sorry, Alex. Es hat geklingelt. Ich melde mich wieder.“
Bevor ich die rote Taste drücken kann, höre ich sie noch sagen: „Pass auf dich auf!“
Ich nehme die Gießkanne und kippe einen Schwall Wasser auf die Blätter und die Knolle des Alpenveilchens, beobachte, wie sich die Blumenerde vollsaugt.
Der Schaum prickelt, als ich in die Badewanne steige. Es duftet nach Zitrusfrüchten. Ich versuche, mich zu entspannen, mich auf den Abend einzustimmen, alles Störende aus meinem Kopf zu verbannen. Ich sitze am Schreibtisch, starre auf den Monitor, will die Bewerbung, meinen Lebenslauf löschen. Alex ruft an. Mutter steht mit hängenden Schultern auf dem Gartenweg und Paps lächelt, dann nimmt er seinen Koffer und schiebt mich zur Seite. Chris holt aus und wirft ihm die Kaffeetasse hinterher.
Die Haustür fällt ins Schloss, ich zucke zusammen. Schlüssel klimpern in der Keramikschale. Obwohl wir erst vor wenigen Tagen eingezogen sind, kann ich die Geräusche deuten. Chris ruft nach mir, findet mich im Bad und starrt mich an, als hätte er vergessen, wie ich nackt aussehe.
„Und, wie war dein Tag?“, fragt er.
„Ja, ganz okay. Alex hat angerufen. Und deiner?“
„Entspannt geht anders“, sagt er, als er die Krawatte lockert. „Was wollte sie denn?“
„Ach, nix Bestimmtes, ein bisschen quatschen halt.“
„So, so!“ Er zieht das Hemd aus und stopft es in den Wäschekorb. „Sie wollte dich nicht ganz zufällig wieder mal bekehren?“
„Weißt doch, sie will nur mein Bestes.“ Meine Worte verschmelzen mit dem Wasserdampf und schweben im Raum.
„Dass du dich da mal nicht irrst“, sagt er und grinst, während er mich im Spiegel beobachtet.
„Wie meinst du das?“
„So, wie ich es sage.“ Er schaut auf die Armbanduhr. „Ich rasier mich schnell, und dusch nur.“ Er öffnet die mittlere Schublade und stutzt. „Wo ist mein Rasierapparat?“
Verdammt, die Sachen hab ich vergessen. „Eigentlich müsste er da sein.“
„Und wo ist er dann? Soll ich wieder die stumpfe Klinge nehmen?“
„In der untersten Schublade?“, frage ich und hoffe auf ein Wunder.
„Da is nix.“ Seine Stimme bebt. Wie so oft in letzter Zeit hat er sie nicht unter Kontrolle.
„Hab ich wohl einen Karton übersehen“, sage ich. „Schau doch bitte in der Küche nach!“
Er kommt zurück mit einem Umzugskarton, auf dem mit schwarzem Edding BAD geschrieben steht, und kippt ihn auf die Fliesen. Zwischen Schampon, Haarspray und anderen Utensilien kommt der Rasierer zum Vorschein. Mir wird schlecht.
„Eigentlich müsste er da sein“, äfft er mich nach. Die Stimme ist nur ein Flüstern. „Aber die Busenfreundin geht ja vor. Diese Bitch. Da bleibt natürlich keine Zeit für anderes.“ Er spuckt die Worte auf den Boden, direkt neben mein Tagebuch.
„Lass Alex da raus!“, sage ich und bereue meinen Ton sofort, als ich seine Augen sehe, die nur noch zwei glühende Kohlen sind.
Chris bückt sich nach dem Heft, blättert durch die Seiten und liest. Für einen Moment will ich glauben, dass ich ihm den Blick in mein Innerstes gewähren muss. Dann wird er mich endlich erkennen.
Chris macht das Badezimmer zur Bühne, hält mein Tagebuch mit ausgestrecktem Arm weit von sich und rezitiert: Es braucht immer zwei. Einer liegt oben, einer unten. „Also wirklich, du warst auch schon geistreicher.“ Er lacht und spricht weiter: Und die Liebe schaut zu. In guten wie in schlechten Tagen. „Das ist gut. Doch. Ein bisschen aufgeblasen, aber gut.“
Er lacht wieder. Das Lachen meines Vaters, das die Augen nie erreichte. Dann kommt er auf mich zu, er lässt sich Zeit. Ich ziehe den Kopf ein, meine Unterlippe zittert. Er soll meine Schwäche nicht sehen, doch ich kann sie nicht vor ihm verstecken.
Von hinten legt er die schönen schmalen Hände auf meine Schultern, beginnt zu kneten. Ich schließe die Augen, halte die Luft an und bereite mich vor. Alles, was ich in diesem Moment weiß, ist, ich muss still sein. Mit einem Mal hält er inne, der Druck seiner Hände lässt nach. Als ich die Augen öffne, steht Chris vor dem Spiegel und beginnt mit der Rasur.
„Bist du endlich fertig? Wir kommen noch zu spät!“ Chris taxiert mich, doch er spart sich einen Kommentar. Das Haar habe ich hochgesteckt, das Gesicht geschminkt. Ich trage das royalblaue Seidenkleid. Das mag er an mir.
Chris drückt mir die Autoschlüssel in die Hand.
„Mit den Schuhen?“
„Logisch. Womit sonst?“, sagt er und ist schon an der Beifahrertür – ein schmales Lächeln auf den Lippen.
Wir steigen gleichzeitig ein. Als ich den Schlüssel ins Schloss stecken will, rutscht er mir aus den Händen und fällt auf die Fußmatte. Nachdem ich ihn ertastet habe, richte ich mich verschwitzt auf. Haarsträhnen haben sich gelöst. Der Wagen springt an, als wäre nichts gewesen. Ich stoße rückwärts aus der Garage, bleibe nirgends hängen, schramme keinen Pfeiler und auch mein Herz bleibt nicht stehen, sondern es trommelt weiterhin in meinem Hals.
Wir schweigen, nur, wenn ich nicht schnell genug in den höheren Gang schalte, stöhnt Chris auf. Ich konzentriere mich, versuche die tanzenden Rücklichter und blendenden Scheinwerfer zu ignorieren.
„Musst du so rasen?“ Er beobachtet jede meiner Bewegungen. Ich fühle mich seziert, in feine Scheiben geschnitten, präpariert, zur Schau gestellt.
Ich reduziere die Geschwindigkeit, obwohl ich genau im Tempolimit liege und höre mich sagen: „Wir sind doch spät dran. Oder nicht?“
„Also echt, du fährst ja noch schlechter Auto als deine Freundin Alex.“
„Woher willst du das wissen?“
„Drück schon auf die Tube! Schläfst ja gleich ein.“ Er ruckelt mit dem Oberkörper vor und zurück, und ich denke an die letzte Nacht, in der seine steifen Bewegungen denen einer Holzpuppe glichen.
Die Tachonadel springt auf die Einhundert. Chris stöhnt erneut.
„Sag schon! Was ist mit Alex?“, frage ich.
„Schau auf die Straße!“
Wenn ich mich nicht täusche, würde in Kürze die Kurve in Sicht kommen. Ich gebe Gas.
„Bist du irre?“
Der Puppenspieler ist bei uns. Er führt Regie und bewegt meinen Mund. „Nein. Ich war lange nicht so klar bei Verstand. Was ist mit ihr?“
Ich trete das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Die Sekunden pulsieren, dehnen sich zu einem gigantischen Universum aus, in dem es dunkel und ganz still ist.
„Nichts. Nichts ist mit ihr.“
Die Stille ist allgegenwärtig, bis Chris sie durchbricht: „Bremsen! Brems doch!“, schreit er.