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Der Rat

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15.05.2025
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Der Rat

An dem Geländer vor meinen Augen hing eine Reihe von Tropfen. Langsam wurden sie größer, bis sie fielen, aber es blieb immer ein Teil zurück, der die Basis für den nächsten Tropfen bildete, und dabei stets größer war, als der Fall des Tropfens erwarten ließ. Ich beobachtete das Spiel nun schon eine Weile und überraschenderweise liefen einmal zwei Tropfen zusammen und es blieb fast nichts zurück. Es regnete und stürmte nun schon seit Anfang der Woche. Dabei war es ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit.

Ich hätte gerne die See beobachtet, die feine Linie des Horizonts, und versucht den Wind fernab der Küste zu sehen. Die nahen Wellen hatten weiße Kämme und viel weiter konnte man im Regen nicht sehen. Die Natur hatte ihre Farbe verloren und den Kontrast mit dazu. Hellgrauer Himmel, mittelgraue See, dunkelgrauer Beton um mich herum, ein metallisch graues Geländer, vom Regen dunkel. Einzig die dunkelbraune Rostspur widersetzte sich dem Farbschema.

Mitten in meiner Beobachtung setzte sich jemand neben mich auf die Bank. Ich drehte den Kopf und es war ein alter Mann. Nicht meine Art von alt, mit grauen Haaren, Erinnerungen an bessere Zeiten, der sich Gedanken um die Zukunft macht und dabei still akzeptiert, dass Sport nun nötig ist, um auf lange Sicht mobil zu bleiben. Sondern weiße Haare und ein Gesicht, dessen Falten dominanter als seine Züge waren, ohne einen Hinweis auf sein wirkliches Alter. Ich sah wieder auf den vom Regen verdeckten Horizont.

„Scheißwetter.“ Seine Stimme war so faltig wie sein Gesicht.

Ich nickte.

„Der Himmel weiß, wie es da draußen aussieht.“

Ich hatte niemand vermisst, der sich zu mir setzte, um das Offensichtliche in Worte zu fassen. Ob ein erneutes Nicken das ausdrücken würde? Wider besserem Wissen antwortete ich „Ist landeinwärts nicht besser.“

Er nickte. „Mein Sohn ist bei so einem Wetter rausgefahren.“

Hätte ich nur nichts gesagt. Einfach genickt. Im dritten Satz kam schon die unverarbeitete Familientragödie, die niemand sonst hören wollte, vom Sohn, der seit Jahrzehnten mit seinem eigenen Leben beschäftigt war. Es sei denn, und das würde der nächste Satz offenbaren, er wäre längst gestorben. Und doch ließ ich mich zu einer Antwort hinreißen. „Schlechte Idee.“

„Man verschwindet in dem Wetter, bevor es jemand merkt.“

War das eine Tragödie oder ein Vorschlag? Wusste er um meine Gedanken? Man musste vorsichtig sein. Es gab genug Leute, die bereitwillig jeden verrieten, um ihr Leben mit etwas Kleingeld aufzubessern. Ich drehte meinen Kopf langsam genug, um meine Neugier zu verbergen und machte ein missmutiges Gesicht. „Da draußen hört Dich niemand schreien.“

Er führte die Spitze seines Zeigefingers vorsichtig an einen Tropfen des Geländers, bis er an ihm herab lief. Es blieb kaum etwas am Geländer zurück. „Hier kümmert es auch niemand, wenn Du stirbst.“

Es war nicht direkt verboten, das Land zu verlassen, aber wer versuchte, Werte außer Landes zu schaffen, war in Gefahr, und wer blieb, musste Enteignungen fürchten. Nach ein paar Jahren politischen Theaters, welches die Probleme nur zur Selbstdarstellung nutzte, wirtschaftlichen Verfalls und ständigen Unruhen war der Staat dysfunktional schwach und die öffentliche Ordnung erodierte ungehemmt. Jedermann konnte in diesem Gesellschaftskampf zum tödlichen Feind werden. Aber er hatte meine Neugier geweckt. „Wie erging es ihm?“

Er seufzte. „Hab nie wieder von ihm gehört.“

Also doch eine Tragödie. Vermutlich gab es einfach mehr Tragödien als schlechte Menschen, was nicht trostreich war. Vielleicht sollte ich noch etwas Unverfängliches sagen und mich dann verabschieden, bevor ich ungefragt mit weiteren Familiengeschichten in Kontakt kam. „Tut mir leid.“

Überraschenderweise lachte er leise und wirkte plötzlich noch viel älter. „Nicht schön, aber musste sein. Es wurden ein paar Sachen vom Boot angespült. Die Behörden haben nicht mal nach ihm gesucht.“

Die Sache fing an, seltsam zu werden. „Warum musste es sein? Er könnte noch leben, wenn er nicht gefahren wäre.“

Er sah mich an und in dem Gesicht war keine Trauer, sondern eine versteckte Fröhlichkeit in den hinter tiefen Falten versteckt immer noch lebendigen graublauen Augen. „Er hat bestimmt ein gutes Leben. Das war alles gut vertäut und wäre mit untergegangen.“ Er sah auf die aufgewühlte See und den dichten Regen. „Scheißwetter. War die einzige Chance.“

Auf einmal verstand ich es. Er trauerte nicht. Er feierte die Erinnerung. Der Gedanke vertrieb die schleichende Kälte, die schon länger Besitz von mir ergriffen hatte. Die Idee war einzigartig. Oder wollte er mich verführen? „Was war das für ein Boot?“

Er griff sich mit langsamen Bewegungen in die Jacke und zog ein Foto heraus, was, den Spuren nach zu urteilen, schon lange dort aufbewahrt wurde. Die Ränder waren in einem floral anmutenden Muster gezackt geschnitten und das Bild sepiafarben. Es zeigte vor dem Hintergrund des Hafens eine kleine Ketch, von der anderen Seite der Mole aus aufgenommen. „Gutes Holz. Segelte wunderbar.“ Das Foto musste alt sein, denn es fehlten einige Gebäude. Ich gab es ihm zurück und er nickte.

Auf einmal sah ich die regnerischen Böen mit anderen Augen. Ich wartete nicht auf ein Wetterfenster und eine Chance, ich war mitten drin. In Gedanken fügte sich alles zusammen. Die Datenreihen zeigten, dass das Land unmittelbar vor dem Kollaps stand. Mit dem Hintergrund der angeschlagenen öffentlichen Ordnung würde das mit Sicherheit nicht friedlich enden und der Neid gegenüber jedem, der noch etwas besaß, wuchs. Die Zeit lief, aber das Wetter war unbarmherzig. Ich sah ihn wieder an, aber mein Blick fiel ins Leere. Er war offenbar aufgestanden und gegangen, ohne dass ich es bemerkte. Ich drehte mich um, suchte ihn im Hafen, aber ich war allein im Sturm. Das Foto klebte auf der nassen Bank und Regentropfen verzerrten die glänzende Oberfläche. Mit nasskalten Fingern nahm ich es in die Hand, versuchte vergeblich es abzuwischen und drehte es um, auf das verblichene Datum starrend, nach dem es über 100 Jahre alt war. Wie ich es in Gedanken auch wendete, es kam nichts Sinnvolles dabei heraus. Er machte nicht den Eindruck von Demenz. Ich steckte es in meine Jacke, löste meine Gedanken von den Tropfen und stand auf.

In der Hafenkneipe bestellte ich einen heißen Becher Tee. Niemand machte sich mehr die Mühe einer Karte. Die Getränkepreise wurden mit Kreide täglich neu notiert und mehr gab es schon lange nicht. Es kostete, was es kostete. Der Wirt nickte mir zu. „Scheißwetter.“

Ich verzog das Gesicht. „Scheißkalt.“ Dann versuchte ich mein Glück. „Hast Du schon mal von einem alten Mann gehört, der seinen Sohn verlor? Er fuhr bei so einem Wetter raus. Muss lange her sein.“

Er zuckte mit den Schultern. „Da gab's viele. Was für ein Boot?“

„Eine Ketch. Holzrumpf. Er hat mir ein Foto gezeigt, auf dem ein paar Häuser fehlten.“

Er wurde blass. „Bleib mir weg mit so Spökenkram.“

Ich runzelte die Stirn. „Was?“

Er zeigte auf die Wand hinter sich, wo hinter Glas diverse historische Fotos hingen. Ich erkannte das Boot sofort wieder und den alten Mann dazu. “Wurde eine Woche nach dem Tod seines Sohns bei Unruhen erschossen, direkt hier vor der Tür. Nach der großen Wirtschaftskrise, vor dem Krieg. Muss jetzt wohl hundert Jahre her sein. Komisch, wie sich alles wiederholt. Man sagt, seitdem spukt er hier bei Sturm herum.“

Ich starrte auf die Fotos und bezahlte meinen Tee. Die Sache war seltsam, aber meine Gedanken waren bei der Einsamkeit da draußen. Es schüttete nun wie aus Eimern. Seit ich die Miete nicht mehr bezahlen konnte, wohnte ich auf dem feuchtkalten Boot. Zurück an Bord sah ich mich um und bei dem Wetter war keine Menschenseele am Hafen. Ich startete den Motor und löste die Leinen. Der Hafen verschwand im Nu hinter mir und ich war allein. Das Boot kämpfte mit den Wellen. Ich klemmte mich am Steuerstand ein und holte das Foto aus meiner Jacke. „Danke für den Rat. Ich versuch's.“ Fast erwartete ich eine Antwort, aber es gab keine.

Ein paar Meilen weiter warf ich das alte Dinghy, etwas Müll und eine verzurrte wasserdichte Kiste über Bord. Bei dem Wetter war die Arbeit an Deck trotz straffer Leine lebensgefährlich. Einen Tag später war ich zum Sterben seekrank. Das Boot segelte mit einem winzigen bisschen Sturmsegel und wollte konstante Aufmerksamkeit am Ruder. Meine Hände zitterten und ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Alles war nass und kalt, aber ich war keiner Seele begegnet. Gegen Mittag riss die Wolkendecke auf, die Sonne kam heraus und der Wind ging zurück. Ich war frei, mit allem, was ich noch besaß.

 

Hallo Heutehier,

vielleicht warst Du ja nicht nur gestern hier? Danke für Deine Geschichte.

An dem Geländer vor meinen Augen hing eine Reihe von Tropfen. Langsam wurden sie größer, bis sie fielen, aber es blieb immer ein Teil zurück, der die Basis für den nächsten Tropfen bildete, und dabei stets größer war, als der Fall des Tropfens erwarten ließ. Ich beobachtete das Spiel nun schon eine Weile und überraschenderweise liefen einmal zwei Tropfen zusammen und es blieb fast nichts zurück. Es regnete und stürmte nun schon seit Anfang der Woche. Dabei war es ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit.

Ich hätte gerne die See beobachtet, die feine Linie des Horizonts, und versucht den Wind fernab der Küste zu sehen. Die nahen Wellen hatten weiße Kämme und viel weiter konnte man im Regen nicht sehen. Die Natur hatte ihre Farbe verloren und den Kontrast mit dazu. Hellgrauer Himmel, mittelgraue See, dunkelgrauer Beton um mich herum, ein metallisch graues Geländer, vom Regen dunkel. Einzig die dunkelbraune Rostspur widersetzte sich dem Farbschema.

Mitten in meiner Beobachtung setzte sich jemand neben mich auf die Bank. Ich drehte den Kopf und es war ein alter Mann. Nicht meine Art von alt, mit grauen Haaren, Erinnerungen an bessere Zeiten, der sich Gedanken um die Zukunft macht und dabei still akzeptiert, dass Sport nun nötig ist, um auf lange Sicht mobil zu bleiben. Sondern weiße Haare und ein Gesicht, dessen Falten dominanter als seine Züge waren, ohne einen Hinweis auf sein wirkliches Alter. Ich sah wieder auf den vom Regen verdeckten Horizont.

Guter Stil.
Ich hatte niemand vermisst,
Ich hatte niemanden vermisst, ...
Er nickte. „Mein Sohn ist bei so einem Wetter rausgefahren.“

Hätte ich nur nichts gesagt. Einfach genickt. Im dritten Satz kam schon die unverarbeitete Familientragödie, die niemand sonst hören wollte,
Der Held wird unsympathisch. Ist das Absicht?

Er führte die Spitze seines Zeigefingers vorsichtig an einen Tropfen des Geländers, bis er an ihm herab lief. Es blieb kaum etwas am Geländer zurück. „Hier kümmert es auch niemand,
"Hier kümmert es auch niemanden, wenn du....

Vermutlich gab es einfach mehr Tragödien als schlechte Menschen, was nicht trostreich war.
Er hat erst jetzt verstanden, dass nicht jeder seine Tragödie verdient hat? --- Zumindest "bessert" sich der Held damit charakterlich.

Es schüttete nun wie aus Eimern.
Sprachklischee. Andererseits passt es sehr gut in die sich steigernde Tropfen-Metaphorik.

Seit ich die Miete nicht mehr bezahlen konnte, wohnte ich auf dem feuchtkalten Boot.
Diese Information müsste man vielleicht früher/anderswo platzieren. Leider weiß ich nicht, wo es "organischer" wirken würde, ohne die Spannung zu zerstören.

Zurück an Bord sah ich mich um und bei dem Wetter war keine Menschenseele am Hafen. Ich startete den Motor und löste die Leinen. Der Hafen verschwand im Nu hinter mir und ich war allein. Das Boot kämpfte mit den Wellen. Ich klemmte mich am Steuerstand ein und holte das Foto aus meiner Jacke. „Danke für den Rat. Ich versuch's.“ Fast erwartete ich eine Antwort, aber es gab keine.
Ich würde die Geschichte hier enden lassen. So versteht man sie auch, und ein offenes Ende wäre noch stärker, gibt der Leserfantasie mehr Raum.


Eine gute Kurzgeschichte.
Du könntest sie noch etwas verbessern, indem Du die Info("dump")s/"Tells" über das Land, aus dem der Held fliehen möchte, mehr zeigst (Rückblenden etc.) als erzählst. Das geht natürlich auf Kosten der Ökonomie und kann in einer langatmigen Geschichte enden, die trotz sich viel "show" nicht spannender, aber im Besten Fall noch etwas lebendiger liest.

Viele Grüße von Pazifik

 

Hallo @Heutehier,

eine tolle Geschichte!

Ich gehöre leider nicht zu den Lesern, die dir Orthographie und Syntax korrigieren, das musst du leider selbst machen, weil es mich nicht interessiert.

Dafür interessiert mich der Text. Und den finde ich sehr schön. Es gelingt dir am Anfang, Spannung aufzubauen und mich in die Geschichte zu ziehen.

Ich finde den Dialog auf der Bank passend und glaubwürdig.

Und ich finde gut, dass du nicht viel Aufhebens darum machst, dass der alte Mann ein Geist ist. Isso, punkt.

Mein einziger Kritikpunkt: der Schluss.
Nachdem du einen Zeitabschnitt von ein paar Stunden fast in Echtzeit erzählst, fasst du im letzten Absatz Tage zusammen. Dieser Kampf mit den Elementen könnte ja ein schönes Finale werden, bevor die Freiheit winkt.

Oder du machst es, wie @Pazifik schrieb und hörst vor dem letzten Absatz auf. Auch gut, offenes Ende.
Aber so, wie es jetzt ist, endet eine starke Geschichte schwach. Da würde ich noch mal drüber schauen.

Viele Grüße
Harv

 

Hallo @Heutehier,

erinnert mich stark an lange vergangene Jahre und die drängende Frage - Bleiben oder ?

Und Dein Erzähler trifft seine Entscheidung anhand eines Geistes, der ihm erscheint. Da muss ein Mensch aus der Vergangenheit kommen, um die eigene Entschlusslosigkeit zu Ende zu bringen. Interessante Idee, hat mir gefallen.

Viele Grüße

jobär

 

Sehr gute und interessante Kommentare bisher, vielen Dank!

Ich bemühe mich, meine Muttersprache nicht weiter zu verlieren, aber im Alltag spreche, lese und schreibe ich viel Englisch und bemerkte jüngst, dass ein Teil Deutsch verschwunden ist. Darum bin ich um jeden Hinweis zur Grammatik froh.

@Pazifik : Der Held soll eigentlich nicht unsympathisch wirken. Aber es gibt oft alte Menschen, die jedem Fremden ohne Distanz kurz nach der Begrüßung schon ihre Lebensgeschichte erzählen. Vielleicht macht das zu sagen nun mich unsympathisch. Aber so ist das gemeint. Es ist klar, dass oft tragische Umstände der Grund sind.

Der Held erwägt, ob der alte Mann ihm vielleicht entlocken will, ob er fliehen will, um ihn zu verraten. Aber es stellt sich dann heraus, dass er seinen Sohn verloren hat. So ist das gemeint, dass es mehr Tragödien als schlechte Menschen gibt.

Womit es zwei Dinge gibt, über die ich nachdenken muss, weil da offenbar nicht exakt das steht, was ich mir dachte.

Beim ersten Kommentar dachte ich: Der Schluss kann nicht weg! Aber er könnte das doch. Das würde tatsächlich funktionieren. Soll er aber nicht. Den Tempowechsel habe ich tatsächlich nicht bemerkt. Das geht so wirklich nicht. Ich muss darüber nachdenken, wie ich es besser schreiben kann.

Was offenbar auch nicht ganz rauskommt: Der Held will fliehen. Aber er wartet auf ein Wetterfenster und fragt sich, wie er nur heimlich aus dem Hafen kommt. Der alte Mann sagt ihm, wie sein Sohn es damals machte, und bringt den Helden zur Erkenntnis, dass der Sturm im Grunde nicht gefährlicher ist, als zu bleiben.

 

Hallo @Heutehier,

ich hoffe, du bist auch morgen noch hier, dass dich meine Kritik nicht gänzlich verschreckt ... aber - ohne Kritik kein Vorwärtskommen.:D

Also, zum Text:

An dem Geländer vor meinen Augen hing eine Reihe von Tropfen.
'vor meinen' (wie dicht soll er das 'vor den Augen haben'?

Langsam wurden sie größer, bis sie fielen, aber es blieb immer ein Teil zurück, der die Basis für den nächsten Tropfen bildete, und dabei stets größer war, als der Fall des Tropfens erwarten ließ. Ich beobachtete das Spiel
Das macht den Satz nur sperrig, gibt keine wichtige Information.

Es regnete und stürmte nun schon seit Anfang der Woche. Dabei war es ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit.
"Dabei" impliziert, dass ein Widerspruch zwischen dem Regen mit Wind und der Kälte besteht. (Eher: Außerdem).

Ich hätte gerne die See beobachtet, die feine Linie des Horizonts, und versucht den Wind fernab der Küste zu sehen. Die nahen Wellen hatten weiße Kämme und viel weiter konnte man im Regen nicht sehen.
"sehen" wiederholt sich. Wie will man den "Wind fernab der Küste" sehen? (Vielleicht 'das Rasen der Wolken'?)

Ich drehte den Kopf und Komma es war ein alter Mann. Nicht meine Art von alt, mit grauen Haaren, Erinnerungen an bessere Zeiten, der sich Gedanken um die Zukunft macht und dabei still akzeptiert, dass Sport nun nötig ist, um auf lange Sicht mobil zu bleiben.
Dieser Sportanteil zieht das Ganze vom Philosophischen runter auf eine physische Ebene.

„Scheißwetter.“ Seine Stimme war so faltig wie sein Gesicht.
Gewagter Vergleich: Faltiger Klang ...

„Da draußen hört Dich niemand schreien.“

Hier kümmert es auch niemand, wenn Du stirbst.“
Kleinschreibung bei "Dich" und "Du". (Niemanden - aber gut, Umgangssprache ...).

sondern eine versteckte Fröhlichkeit in den hinter tiefen Falten versteckt immer noch lebendigen graublauen Augen.
"Versteckt" wiederholt sich unnötig.

Die Idee war einzigartig. Oder wollte er mich verführen?
Welche Idee? Der Flucht? Die Idee ist offensichtlich nicht einzigartig.

nach dem es über 100 Jahre alt war. Wie ich es in Gedanken auch wendete, es kam nichts Sinnvolles dabei heraus. Er machte nicht den Eindruck von Demenz. Ich steckte es in meine Jacke, löste meine Gedanken von den Tropfen und stand auf.
Den fetten Teil würde ich vorziehen, damit in einem Zug vom Foto gesprochen wird:

... nach dem es über 100 Jahre alt war. Wie ich es in Gedanken auch wendete, es kam nichts Sinnvolles dabei heraus. Ich steckte es in meine Jacke. Er machte nicht den Eindruck von Demenz. Ich löste meine Gedanken von den Tropfen und stand auf.

Das Durchgestrichene trägt nichts zum Inhalt der Geschichte bei - man verdächtigt den Mann nicht der Demenz und den Fokus auf die Tropfen hat er schon während des Gesprächs verloren.

Zurück an Bord sah ich mich um und Komma bei dem Wetter war keine Menschenseele am Hafen.

Das Boot segelte mit einem winzigen bisschen Sturmsegel und es wollte konstante Aufmerksamkeit am Ruder
Die "und" klingen wie eine unbeholfene Aufzählung.

Alles war nass und kalt, aber ich war keiner Seele begegnet.
"aber" klingt so, als sei es zu erwarten, dass man bei Nässe einer "Seele" begegnet.

Zum Teil recht ansprechend erzählter Text, leider mit etlichen Stolpersteinen. Der Gewinn der Freiheit war zu erwarten, hier könnte eine - über das erwähnte Monetäre hinausgehende - inhaltliche Ebene mehr Tiefe generieren.

Der Geist als Ratgeber wird gut durch den Kneipenbesuch eingeführt, passt zu den geschilderten Umständen.

Meint

Woltochinon

 

Hallo @Heutehier

Willkommen im Forum. Bestimmt hast Du dich schon ein wenig umgesehen und eingelesen und weisst deshalb in etwa, wie das hier so funktioniert mit Kritik bekommen, Kritiken schreiben etc. Um eines vorwegzunehmen: Im Grundtenor stimme ich den anderen Rückmeldungen zu, auch mir hat die Idee deiner Geschichte gut gefallen. Mit der Umsetzung habe ich jedoch Mühe bzw. Probleme. Ich habe direkt während des Erstlesens meine spontanen Gedanken aufgeschrieben und danach an wenigen Stellen noch Ergänzendes angefügt. Ich hoffe, es ist nicht zu schroff und ausufernd formuliert, denn da ist so Einiges zusammengekommen. Nimms aber bitte als Ansporn, wenn ich jetzt bisschen mäkle!

Ich hätte gerne die See beobachtet, die feine Linie des Horizonts, und versucht den Wind fernab der Küste zu sehen.
Verstehe ich nicht recht. Er wollte den Wind sehen, der fernab der Küste wehte? Kann man Wind sehen (die Entfernung sei jetzt mal dahingestellt)? Oder wollte er vielmehr die Auswirkungen davon beobachten: Die höher werdenden Wellen, das Bauschen der Segel, die Möwen, die mit dem Wind kämpfen, das Formieren der Gewitterwolken am Horizont? Sowas?

Die nahen Wellen hatten weiße Kämme und viel weiter konnte man im Regen nicht sehen.
Diese und-Verbindung hier ist seltsam gewählt. Das sind meiner Meinung nach doch zwei Aussagen (die folglich mit Punkt getrennt werden müssten, finde ich): Die nahen Wellen hatten weiße Kämme. Viel weiter konnte man im Regen nicht sehen. Dann: Du hast einen Ich-Erzähler, wer soll hier 'man' sein? Also eher: Viel weiter konnte ich bei dem Regen nicht sehen.

Die Natur hatte ihre Farbe verloren und den Kontrast mit dazu. Hellgrauer Himmel, mittelgraue See, dunkelgrauer Beton um mich herum, ein metallisch graues Geländer, vom Regen dunkel. Einzig die dunkelbraune Rostspur widersetzte sich dem Farbschema.
Der erste Satz nimmt vorweg, was danach en détail geschildert wird. Ich fand es auch seltsam, hier von der Natur zu sprechen. Es mutet so an, dass der dunkelgraue Beton, das metallisch graue Geländer und die dunkelbraune Rostspur ebenfalls zur Natur mitgezählt werden. Aber ersten Satz streichen, dann passt das meiner Meinung nach schon einigermassen. Nur der Beton, der dürfte meiner Lesart nach nicht um ihn herum sein, sonst liest es sich so, als wäre er eingesperrt, aber der sitzt ja am Hafen oder an einer Seepromenade, nicht? Eventuell könnte man hier auch ein wenig grau einsparen, indem man schreibt: Alles hatte dieselbe graue, eintönige Farbe: Der Himmel, die See, der Beton und das metallische Geländer. Nur die dunkelbraune Rostspur [...]

Ich drehte den Kopf und es war ein alter Mann.
Auch hier wieder eine für mich seltsam gewählte und-Verbindung. Ich drehte den Kopf. Neben mir saß ein alter Mann. So etwas wäre für mich sinniger. Ginge auch mit Komma, aber das 'und' würde ich streichen.

Sondern weiße Haare und ein Gesicht, dessen Falten dominanter als seine Züge waren, ohne einen Hinweis auf sein wirkliches Alter.
Okay, der Typ hat schlohweisses Haar, jede Menge Falten, die sein Gesicht dominieren, und der Erzähler hat wirklich gar keinen Plan -- nicht mal eine Schätzung -- wie alt der sein könnte? Fällt mir schwer, ihm das hier abzukaufen, oder (wenn ich mir die 'Tags' anschaue) soll der Text eher in eine spekulative Richtung gehen, und dieser Typ entpuppt sich als 200 Jahre alt oder als Geist oder was weiss ich? Ich les mal weiter.

Seine Stimme war so faltig wie sein Gesicht.
Ich mag das eigentlich, so möglichst eigene und unverbrauchte Schöpfungen, aber wie zum Teufel hört sich eine faltige Stimme an? Passt für mich folglich nicht zusammen.

„Der Himmel weiß, wie es da draußen aussieht.“
„Ist landeinwärts nicht besser.“
Also die Dialoge sind ziemlich gestelzt, finde ich. "Der Himmel weiß, wie es da draußen aussieht" ist doch eine redundante Aussage, wahrscheinlich stürmt es wie an Land. Dann auch die Antwort des Erzählers, dass es landeinwärts nicht besser wäre: Weiss das der alte Mann denn nicht? Das ist doch Info, die der andere längst hat, wenn er nicht gerade hinterm Mond lebt, verstehst Du, was ich meine?

Im Nachhinein, nach dem Lesen der ganzen Story, macht die Aussage des alten Mannes ja (mehr) Sinn, offenbar liegt hinter dem Sturm auf offener See die Freiheit oder die Erlösung, das verwunschene Land oder sowas, aber das weiss ich ja als Leser hier noch nicht und stolpere deshalb.

„Man verschwindet in dem Wetter, bevor es jemand merkt.“
Seltsame Aussage. Wenn man es bemerken würde, bevor jemand verschwindet, könnte man ihn oder sie ja am Verschwinden hindern, oder? Bzw. kreuzen da Rettungsschiffe vor der Küste, auf der Suche nach Vermissten? Eigentlich nicht, wie folgende Aussage bestätigt:
„Nicht schön, aber musste sein. Es wurden ein paar Sachen vom Boot angespült. Die Behörden haben nicht mal nach ihm gesucht.“

„Da draußen hört Dich niemand schreien.“
Hier musste ich echt lachen! Der Erzähler hat aber auch ein super Taktgefühl :D Ausserdem scheint mir die Aussage aus diversen Horrorfilmen (Alien und Co. kommen mir in den Sinn) oder auch aus -Games bekannt (um nicht schon fast zu sagen: geklaut).

Er führte die Spitze seines Zeigefingers vorsichtig an einen Tropfen des Geländers, bis er an ihm herab lief. Es blieb kaum etwas am Geländer zurück.
Diese Tropfen am Geländer, wie die da dran herunterfliessen und -tropfen, hat das einen tieferen Sinn? Der Beginn der Geschichte dreht sich ja praktisch allein darum, um das Verhalten der Wassertropfen am Geländer. Ich habe leider nicht herauslesen können, was es damit auf sich hat, warum der Erzähler so fasziniert davon ist.

Es war nicht direkt verboten, das Land zu verlassen, aber wer versuchte, Werte außer Landes zu schaffen, war in Gefahr, und wer blieb, musste Enteignungen fürchten. Nach ein paar Jahren politischen Theaters, welches die Probleme nur zur Selbstdarstellung nutzte, wirtschaftlichen Verfalls und ständigen Unruhen war der Staat dysfunktional schwach und die öffentliche Ordnung erodierte ungehemmt. Jedermann konnte in diesem Gesellschaftskampf zum tödlichen Feind werden. Aber er hatte meine Neugier geweckt.
Das hat mich bisschen überrascht, das jetzt hier so viele Hintergründe kommen, noch dazu in telliger Form, das bricht ein wenig mit dem restlichen Text bisher. Spannender fände ich es, wenn die wirtschaftlichen und sozialen Zustände im Gespräch zwischen dem Erzähler und dem alten Mann durchscheinen würden, dann wäre das nicht so platt serviert.

„Wie erging es ihm?“
Er seufzte. „Hab nie wieder von ihm gehört.“
Was für eine Frage! Es ist doch längst offensichtlich oder zumindest stark zu vermuten, dass er tot ist.

Er sah mich an und in dem Gesicht war keine Trauer, sondern eine versteckte Fröhlichkeit in den hinter tiefen Falten versteckt immer noch lebendigen graublauen Augen.
Würde ich streichen, weil der Satz sonst (grammatikalisch) nicht aufgeht und ausserdem ist da zweimal das Wort 'verstecken', das ist ungünstig. Das mit den Falten wurde zuvor genügend betont, es könnte also auch weg. Dann glaube ich, müsste da noch ein Komma zwischen den lebendigen, graublauen Augen stehen.

„Er hat bestimmt ein gutes Leben. Das war alles gut vertäut und wäre mit untergegangen.“ Er sah auf die aufgewühlte See und den dichten Regen. „Scheißwetter. War die einzige Chance.“
Das verstehe ich nicht richtig. Das sagt ja alles der alte Mann. Kennt der seinen eigenen Sohn nicht? Oder halt, sagt den ersten Satz der Erzähler? Woher weiss der, dass das Leben des Sohnes des alten Mannes 'gut vertäut' war? Also bei Sprecherwechsel würde ich Dir vorschlagen, einen Zeilenumbruch zu machen, hattest Du ja vorher auch.

Oder wollte er mich verführen?
Wie kommt der Erzähler denn darauf? Aber wahrscheinlich ein Fehler meinerseits beim Erstlesen: 'Verführen' ist nicht wörtlich gemeint, sondern eher so, dass der alte Mann dem Protagonisten näher bringen möchte, dass auch er versuchen sollte, auf die offene See zu fahren, um zu schauen, was hinter der tristen Wetterwand liegt.

Er griff sich mit langsamen Bewegungen in die Jacke und zog ein Foto heraus, was, den Spuren nach zu urteilen, schon lange dort aufbewahrt wurde.
'sich' ist überflüssig, er wird ja kaum einer anderen Person in die Jacke greifen. Dann könntest Du ein Komma einsparen: Er griff mit langsamer Bewegung in die Jackentasche und zog ein Foto heraus, dass er den Spuren nach zu urteilen, schon lange dort aufbewahrte.

Die Ränder waren in einem floral anmutenden Muster gezackt geschnitten und das Bild sepiafarben.
'gezackt' oder 'geschnitten', ich würde mich für eines entscheiden, ansonsten liest sich das recht behäbig.

In Gedanken fügte sich alles zusammen. Die Datenreihen zeigten, dass das Land unmittelbar vor dem Kollaps stand.
Ähem *hüstel*, was sind das für Datenreihen jetzt plötzlich?

Die Zeit lief, aber das Wetter war unbarmherzig.
Hier verstehe ich nicht, wie der Fluss der Zeit zu dem unbarmherzigen Wetter in Verbindung stehen soll. Vielleicht Die Zeit lief, doch das Wetter blieb unbarmherzig, dann hätte ich es besser verstanden (falls überhaupt das gemeint ist).

Er war offenbar aufgestanden und gegangen, ohne dass ich es bemerkte.
Zeitfehler: [...] ohne das ich es bemerkt hatte.

Mit nasskalten Fingern nahm ich es in die Hand, versuchte vergeblich es abzuwischen und drehte es um, auf das verblichene Datum starrend, nach dem es über 100 Jahre alt war.
Ah, lag ich wohl nicht so schlecht mit meiner Vermutung weiter oben, dass der alte Mann vielleicht einiges älter sein könnte als der Durchschnittsmensch, und es sich allenfalls um einen Geist handeln könnte.

Er machte nicht den Eindruck von Demenz. Ich steckte es in meine Jacke, löste meine Gedanken von den Tropfen und stand auf.
Wieso löst der Erzähler hier seine Gedanken von den Tropfen? Er hat doch gerade an was komplett anderes gedacht, nämlich an das Alter des alten Mannes und das dieser keine Demenz habe etc.?

„Scheißwetter.“
Scheint in dieser Welt die Standardbegrüssung zu sein :D

„Hast Du schon mal von einem alten Mann gehört, der seinen Sohn verlor? Er fuhr bei so einem Wetter raus. Muss lange her sein.“
„Da gab's viele. Was für ein Boot?“
Tut mir leid, aber bei der Frage des Erzählers konnte ich mir ein Schmunzeln wieder nicht verkneifen. Mir war die Antwort bereits klar, bevor ich die Frage ganz lesen konnte. Der Erzähler gibt keinerlei Details (zugegeben, er hat auch nix erfahren!), und ich bin automatisch davon ausgegangen, dass es mehrere solcher Fälle gegeben haben musste. Es wirkt einfach irgendwo redundant, so wie der Erzähler seine Fragen stellt.

“Wurde eine Woche nach dem Tod seines Sohns bei Unruhen erschossen, direkt hier vor der Tür. Nach der großen Wirtschaftskrise, vor dem Krieg. Muss jetzt wohl hundert Jahre her sein. Komisch, wie sich alles wiederholt. Man sagt, seitdem spukt er hier bei Sturm herum.“
Voila, er ist also ein Geist. Leider hatte ich das ja schon vermutet, weil der Text diesbezüglich zu deutlich war, deshalb fehlte für mich hier ein Überraschungseffekt.

Die Sache fing an, seltsam zu werden.
Die Sache war seltsam,
Solche Behauptungen würde ich versuchen zu unterlassen, gerade bei einem Text der mit 'Seltsam' getaggt ist, diese Seltsamkeit müsste sich ja für den Leser während der Lektüre von selbst einstellen.

Der Hafen verschwand im Nu hinter mir und ich war allein. Das Boot kämpfte mit den Wellen.
Er fährt zügig aus dem Hafen, aber das Boot kämpft mit den Wellen? Passt für mich wiederum nicht richtig zusammen, aber ich bin auch kein Seemann. Oder sind die Wellen nur weiter draussen, auf dem offenen Meer, so stark? Dann auch die Aussage: Der Hafen verschwand im Nu. Also so wie ich das gelesen habe, ist die Sicht ja extrem eingeschränkt, der Protagonist sieht nur wenige Meter weit, da wäre der Hafen ja bereits verschwunden, sobald er ins Boot steigt, oder nicht?

Ein paar Meilen weiter warf ich das alte Dinghy, etwas Müll und eine verzurrte wasserdichte Kiste über Bord.
Wieso?

Alles war nass und kalt, aber ich war keiner Seele begegnet.
Wen hätte er denn da draussen auch treffen wollen?

Ja, das Ende könnte gekürzt werden, dann wäre es bisschen offener. Ich schliesse mich da an, finde das einen guten Vorschlag. Insgesamt habe ich -- trotz viel Kritik -- deine Geschichte gerne gelesen. Ich mochte die Tristesse, das leicht dystopisch angehauchte Setting und, auch wenn ich dessen Zweck nicht so ganz verstanden habe, das wiederkehrende Bild der Wassertropfen am Geländer.

Beste Grüsse,
d-m

 

Womit es zwei Dinge gibt, über die ich nachdenken muss, weil da offenbar nicht exakt das steht, was ich mir dachte.

Was offenbar auch nicht ganz rauskommt: Der Held will fliehen.
Hallo @Heutehier,

Nur von meiner Seite: ich hatte beides genau so verstanden, wie du es offensichtlich gemeint hast.
Natürlich kannst du darüber nachdenken, ob du es noch stärker formulierst.
Aber es ist nicht so, dass man es nicht verstehen kann.

Viele Grüße
Harvey

 

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