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Der Raubüberfall
Eine Straßenlaterne spiegelt sich in der Pfütze. Sie schaut sich kurz um.
Kein Auto das sie bespritzen kann und keinen Fußgänger zu sehen. Klar, denkt sie, bei diesem Wetter führt man nicht mal seinen Hund Gassi.
Es sind fünf Minuten vom Bahnhof nach Hause und sie hat keine andere Wahl, als dem Regen zu trotzen.
Der Abend hatte sie zum Lachen und Weinen gebracht. Der Abschied von ihrem Chef und den Vorstandsmitgliedern fiel ihr schwer. Sie liebt das Theater. Die Leute, mit denen sie zusammenarbeitet, sind großartig. Angefangen hatte sie als freiwillige Mitarbeiterin, bevor sie Vorsitzende des neuen Vorstandes und schließlich sogar Büroleiterin wurde. Das Theater war ihr ein zweites Zuhause und alle Mitarbeitern waren wie eine Familie.
Zu ihrem Abschied hatte der Theaterleiter sie und den Vorstand zu sich nach Hause eingeladen und für sie gekocht.
Jetzt läuft sie mit einem Regenschirm und einem großen Blumenstrauß durch den Regen.
Im Treppenhaus angekommen, schüttelt sie den Regenschirm aus.
In ihrer Handtasche befindet sich der Schlüssel. Als sie den Briefkasten öffnen will, bemerkt sie aus den Augenwinkeln einen Mann in Jeans und dunklem Kapuzenpulli. Grußlos hastet er an ihr vorbei, geht die Treppe nach oben. Sie kennt ihn nicht. Vielleicht ein neuer Nachbar oder Besucher.
Ihre Wohnung befindet sich in der ersten Etage. Sie erreicht die letzte Stufe, als plötzlich der Typ im Kapuzenpulli auf sie zukommt. Er hat den Mund mit einem Tuch bedeckt, schaut ihr direkt in die Augen. Ihr Körper reagiert schon, bevor sie sich der Bedrohung bewusst wird. In ihrem Kopf beginnt es zu pochen, alle ihre Muskeln spannen sich an und sie umklammert ihre Handtasche fest. Sie schluckt.
"Jetzt bist du ganz still!" Es klingt leise, aber nicht weniger bedrohlich.
Was soll sie tun? Um Hilfe rufen? Sie hat gehört, dass es besser ist, laut zu reden, oder "Feuer" statt "Hilfe" zu schreien, dann reagieren die Leute schneller. Sie weiß, dass ihre Nachbarin in den Ferien ist. Ihre Gedanken überschlagen sich in Sekundenschnelle.
Trotzdem reagiert sie instinktiv und schneller, als sie denken kann.
"Was soll das? Verpiss dich und lass mich in Ruhe! Raus!" Ihre Worte hallen durch das Treppenhaus.
Dann schlägt er ihr mit aller Härte mitten ins Gesicht. Sie verliert das Gleichgewicht, hat das Gefühl, ihr Kopf würde explodieren. Die Brille fällt herunter. Wie im Nebel registriert sie, dass er ihr Handtasche und Arbeitstasche von den Schultern reißt.
Der Schmerz lässt ein wenig nach. Sie sieht sich um. Blumen und Regenschirm liegen auf dem Boden, daneben die Brille. Der Räuber sprintet die Treppe hinunter. Weg ist er.
"Scheißkerl!", ruft sie ihm wütend hinterher. Verdutzt schaut sie auf den Hausschlüssel in ihrer Hand. Sie muss hier weg. Was, wenn er zurückkommt? Sie stöhnt. Ihre Wange brennt und ihr Kopf fühlt sich durchgeschüttelt an. Ihre Umgebung nimmt sie nur schemenhaft wahr.
Sie schnappt sich alles vom Boden und öffnet ihre Wohnungstür. In einem Wutanfall, der ihr für einen Moment die Angst nimmt, wirft sie die Blumen in den Hausflur, knallt die Tür zu und schließt sie sofort ab. Völlig verwirrt, kann sie ihre Gedanken nicht ordnen und weiß nicht, was sie tun soll.
Dann reißt sie sich zusammen und ihr wird klar: Sie braucht die Polizei, sofort!
Die Stimme am Telefon klingt beruhigend.
"Geht es Ihnen gut? Zwei Beamte sind unterwegs und werden sich gleich um Sie kümmern."
Die Stimme bleibt am Apparat, bis es klingelt. Sie zuckt zusammen. Ängstlich geht sie zur Tür und schaut durch den Spion. Dort stehen zwei Polizisten in Uniform. Sie atmet tief ein und öffnet die Tür einen Spalt breit.
"Darf ich Ihren Ausweis sehen?"
Die Polizisten zeigen ihn in lesbarem Abstand. Etwas beruhigt, lässt sie sie herein.
Sie kann es nicht kontrollieren, Tränen laufen ihr übers Gesicht, sie zittert am ganzen Körper. Ein Polizist reicht ihr ein Glas Wasser. Sie trinkt in kleinen Schlucken, während die Beamten warten, bis sie sich beruhigt.
"Wären Sie in der Lage, einige Fragen zu beantworten?"
Sie nickt, ihre Zähne klappern gegen das Glas.
Nachdem sie sich ihre Geschichte angehört haben, sagt einer der Polizisten: "Ich möchte Ihnen raten, sich morgen von einem Arzt untersuchen zu lassen, nur um sicherzugehen. Es sieht nach einem harten Schlag aus."
Sie berührt ihre linke Wange, die immer noch brennt.
"Würden Sie den Räuber wieder erkennen?"
"Ja, ich denke schon. Er hat sein Gesicht nicht besonders gut verdeckt."
Sie vereinbaren, dass sie noch am selben Tag auf die Polizeiwache kommt, um sich einige Bilder anzusehen und das Protokoll zu bestätigen. Die Polizisten reichen ihr vorsichtshalber noch einen Flugblatt der Opferhilfe und verabschieden sich. Dann ist sie wieder allein.
Sie beschließt, ihren Bruder anzurufen. Er ist der einzige, den sie um diese Zeit aufwecken kann.
"Was?! Ich springe gleich ins Auto. Es kann eine Stunde dauern, aber ich werde mich beeilen. Als erstes musst du aber deine Bankkarte sofort sperren lassen, sonst leert er auch noch dein Konto. Wenn ich da bin, werde ich drei mal kurz nacheinander klingeln. Bis gleich!"
Während sie auf ihren Bruder wartet, kommt ihre praktische Natur ein wenig zum Vorschein. Sie hebt die Blumen vom Boden auf und stellt sie in eine Vase, die sie mit Wasser füllt. Den Regenschirm stellt sie in den Duschraum. Sie muss sich beschäftigen, denn an Schlaf ist jetzt nicht zu denken. Es gibt viel zu regeln. Ihren neuen Arbeitgeber muss sie um Freistellung für diesen Tag bitten. Außerdem braucht sie Geld: Ihre Brieftasche ist weg und ihre Karte gesperrt.
Als es draußen schon hell wird, fährt ihr Bruder wieder nach Hause. Er zeigt sich erschrocken, bleibt aber gelassen und seine Anwesenheit ist beruhigend. Bei einem Kaffee besprechen sie gemeinsam, was geschehen ist und was sie jetzt als erstes tun soll.
Nach ein paar Stunden verabschieden sie sich, weil er wieder arbeiten muss.
Sie entscheidet sich, noch ein paar Stunden ins Bett zu gehen. Sie prüft zuerst, ob alle Fenster und Türen verschlossen sind, sie fühlt sich in ihrem eigenen Haus unsicher.
Von ihrem Bruder hat sie etwas Geld geliehen. Sie will noch am selben Tag zur Bank, hat einen Kontrolltermin beim Arzt und danach wird sie zur Polizeiwache gehen.
Ihre Wange färbt jetzt ein bisschen Blau. Die dicke Beule unter ihrem Auge schmerzt. Der Arzt, der sie untersucht, ist nett und wird seinen Bericht an die Polizei weitergeben.
Auf der Polizeiwache unterschreibt sie das Protokoll und man zeigt ihr einige Bilder. Bei einem der Bilder spürt sie, dass sie wieder innerlich zittert und ihr wird kalt.
"Ich verstehe, dass Sie nichts sagen dürfen, aber ich will nur wissen: Hätte er einen Waffen ziehen können und hätte ich mich besser nicht wehren sollen?"
"Soweit wir wissen, nicht", antwortet der Polizist.
"Ihr Widerstand war mutig, aber vielleicht nicht ganz so schlau. Zum Glück ist es gut ausgegangen."
Mit einem Ruck wird ihr klar, was alles hätte passieren können, wenn der Typ sie gezwungen hätte, die Haustür zu öffnen. Sie hatte die Schlüssel ja in der Hand!
Doch selbst in diesem Moment, ist ihr Wut größer als die Angst. Es sind ja ihre Sachen und keiner hat das Recht, sie zu klauen! Sie spürt erneut, wie Wut in ihr aufsteigt.
Aufgewühlt verabschiedet sie sich und geht nach Hause.
Zwei Wochen später traut sie sich wieder am Abend alleine auf die Straße. Das Licht einer Straßenlaterne leuchtet fahl durch den Nebel. Eine Gruppe Jugendlicher kommt auf sie zu. Sie reden und lachen sehr laut. Innerlich zuckt sie zusammen. Äußerlich geht sie mit erhobenem Kopf in einem Bogen um sie herum.
In der ersten Woche nach dem Überfall bat sie einen Kollegen, sie von der abendlichen ehrenamtlichen Arbeit nach Hause zu begleiten.
Aber wenn sie es jetzt nicht wieder allein probiert, wird sie es vielleicht nie mehr wagen. Das ist das Letzte, was sie will, dass der Straßenräuber ihr Leben beherrscht.