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Der Regenbogen
Es war einmal in einer nicht allzu fernen Stadt. Dort lebte ein außergewöhnlicher Musikus. Er komponierte Musik von solcher Kraft, dass sie in jedem Lauschenden etwas Märchenhaftes zum Anklingen brachte. Seine Melodien weckten vergessen geglaubte Träume in den Herzen der Menschen und schenkten ihnen ein Gefühl der Glückseligkeit.
Doch trotz seiner Berühmtheit lebte der Musikus abgeschieden und allein auf einem kleinen Gehöft. Er empfing nie Gäste und man sah ihn nur selten in der Stadt. Lediglich einmal im Jahr gab der Virtuose ein Konzert auf seinem Grundstück. Die Aufführung war stets bis auf den letzten Platz ausgebucht und der Andrang wuchs von Jahr zu Jahr. Atemberaubend schnell wurden es ihrer immer mehr, die kamen, um sich von der Musik verzaubern zu lassen.
Doch in seiner Eigenwilligkeit gab der Meister trotz des großen Andrangs keine weiteren Konzerte oder lud mehr Leute in die Veranstaltungen. Man bat ihn, man flehte, man bot ihm utopische Summen Geldes für weitere Auftritte - und vor allem für die Erlaubnis, seine Kunst auf einer Schallplatte verewigen zu dürfen. Aber der Musikus reagierte darauf nicht. Er gab weiterhin nur ein Konzert in jedem Jahr und ignorierte den Ansturm.
Eines Tages jedoch gelang es einem listigen Reporter, eine Karte für das jährliche Konzert zu ergattern. Mit einem Tonbandgerät zeichnete er im Verborgenen die sagenumwobene Musik des Meisters auf. Sofort ließ der Reporter die Aufnahme vervielfältigen und gewann dadurch immensen Reichtum. Denn jeder wollte sich die Musik für den privaten Genuss erkaufen. Die Stadtbewohner wirkten überglücklich. Endlich waren sie nicht länger auf die spärlichen Konzerte des Meisters angewiesen. Nun konnten sie sich, so oft es ihnen beliebte, an den Melodien berauschen.
Als der Musikus plötzlich spurlos verschwand, waren nur wenige traurig, denn seine Musik war ihnen ja geblieben. Und die Musik war so bezaubernd, dass sie, wo immer man hinkam, gespielt wurde. Tag um Tag, Woche um Woche, Jahr um Jahr. Im Radio, im Fernsehen, im Supermarkt, sogar im Kindergarten. Man stand mit der Musik auf und ging mit ihr schlafen.
Irgendwann, eine lange Zeit nachdem der Meister verschwunden war und sich kaum noch jemand an ihn erinnerte, wurden die ersten Menschen der Musik überdrüssig. Jeden Tag hatten sie ihren Klang vernommen und allmählich verlor sie ihren Reiz. Die schönen Gefühle, die die Menschen stets beim Hören verspürt hatten, waren nicht länger etwas Besonderes. Die Musik war zur langweiligen Alltäglichkeit verkommen. Und so kam es, dass man sie schließlich ganz einstellte. Die meisten Menschen warfen sogar die Aufnahme weg, denn sie meinten, sie hätten die Musik für ihr Leben lang genug gehört. Zunehmend verblasste die Erinnerung an das einstmals so zauberhafte Erlebnis.
Zu dieser Zeit geschah es in der Stadt, dass ein neuer Bäcker eröffnete. Es sprach sich rasch herum, welch köstlichen Sonntagskuchen der Bäcker zuzubereiten verstand. Der Kuchen war derart schmackhaft, dass kein Bewohner dem Gebäck widerstehen konnte. Bald schon drängelte jeden Sonntag eine lange Schlange vor der Bäckerei. Der Bäcker freilich konnte nicht genug Kuchen für die ganze Stadt backen. Somit gingen viele Leute stets leer aus - die dann am nächsten Sonntag umso stärker drängelten.
Ein gewitzter Fabrikbesitzer wollte sich diesen Andrang zu Nutze machen und kaufte dem Bäcker das Rezept des Kuchens für viel Geld ab. Der Bäcker schloss zufrieden seinen Laden und reiste fort. Er hatte genug verdient, um nie wieder arbeiten zu müssen.
Der Fabrikbesitzer ließ derweil den Kuchen in riesigen Mengen herstellen. Und der Umsatz war bemerkenswert. Die Einwohner der Stadt kauften sich Tag um Tag, Woche um Woche, Jahr um Jahr dieses einzigartige Gebäck. Man hörte von dem Kuchen im Radio, man sah ihn im Fernsehen, konnte ihn im Supermarkt kaufen und es gab ihn selbst im Kindergarten zu essen. Man aß ihn zum Frühstück und man aß ihn zum Abendbrot.
Irgendwann jedoch, eine lange Zeit nachdem der Bäcker seinen Laden geschlossen hatte, kauften die Leute den Kuchen immer seltener. Zusehends mehr Menschen verging der Appetit an dem Gebäck. Es schmeckte nicht mehr besonders, sondern nur noch wie etwas, das man jeden Tag verspeiste.
Bald wollte niemand mehr den Kuchen haben, und die Produktion wurde eingestellt, da die Supermärkte ihn nicht mehr loswurden.
Kurz darauf war der Kuchen in Vergessenheit geraten. So vergingen Tag um Tag, Woche um Woche, Jahr um Jahr. Die Menschen der Stadt taten das, was sie immer taten: Sie hörten Radio, sie sahen fern, gingen im Supermarkt einkaufen und brachten ihre Kinder in die Kindergärten.
Man wachte morgens auf, ging zur Arbeit und kam abends wieder, um zu schlafen.
Eines Morgens jedoch, als es die Nacht zuvor durchgeregnet hatte und die Straßen noch nass glänzten, zauberte die Sonne einen atemberaubend schönen Regenbogen hervor.
Der Regenbogen leuchtete in einer solch übernatürlichen Pracht, dass jedermann unwillkürlich inne hielt, um sich daran zu erfreuen. Es schien, als würde der Regenbogen eine bunte Sinfonie der Freude und Zuversicht über die Stadt ergießen.
Der Anblick klang bis in die Seelen der Menschen nach, und löste dort ein wohliges Summen aus.
Ja, für einen Moment vergaßen sie alles um sich herum und so manche verloren geglaubte Träne brach sich bahn.
Als der Regenbogen plötzlich verschwand, waren die Menschen traurig und fühlten sich, als wäre ihnen etwas sehr Bedeutsames genommen worden.
Tage, Wochen, Monate, sogar viele Jahre später erzählte man sich noch von diesem Ereignis. Kein Radio vermochte den Regenbogen zu beschreiben, kein Fernseher war dazu in der Lage, dieses Lichterspiel wiederzugeben, in keinem Supermarkt konnte man einen solchen Regenbogen kaufen - und im Kindergarten wurden viele, viele Bilder von ihm gemalt.
Von der Musik oder dem Kuchen wurde nie wieder erzählt, doch der Regenbogen blieb den Menschen auf immer im Herzen - und es gibt noch heute die wunderbarsten Geschichten über ihn.