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Der Regenschirm
Der Regen lief die großen Glasfenster der Cafeteria der Universitätsbibliothek herunter. Es hatten sich heute wohl auch wegen des Wetters lediglich wenige Studenten in der Universitätsbibliothek und der Cafeteria eingefunden. Paul saß nun bereits eine halbe Stunde in der Cafeteria und wartete darauf, dass der Regen aufhörte, da er keinen Regenschirm dabei hatte und er auch von seiner Bekleidung her nicht auf Regenwetter eingestellt war. Bald würde er so oder so los müssen, da er in zwanzig Minuten verabredet war. Die einzige weitere Person, die sich in der Cafeteria aufhielt, war ein älterer Mann in einem unbestimmt hohen Alter im grauen Anzug und Krawatte, sowie mit weißen Haaren und weißem Bart, der in einer Zeitung las. Irgendwie erinnerte der Mann Paul an einen seiner Nachbarn, ebenfalls ein älterer Herr, der auf seinem Dachboden eine Parallelwelt, bzw. Miniaturwelt, aufgebaut hatte, durch die er Züge fahren ließ. Wäre nicht der ältere Herr der einzige weitere Besucher in der Cafeteria gewesen, hätte Paul den Mann aber ansonsten gar nicht wahrgenommen.
Paul studierte Rechtswissenschaften und Theologie. Allerdings hatte er bereits mehrfach die Studienrichtung gewechselt. Er war so vielseitig interessiert, dass sich immer erst Mitte eines Semesters herausstellte, welche Interessen er in dem jeweiligen Semester hatte. Sein Studium kam daher nicht so richtig voran, auch zumal er es selbst finanzieren musste, da seine Eltern ihn infolge seines häufigen Studienwechsels nicht mehr unterstützten. Aber diese Umstände störten ihn nicht weiter, weil er so zu einer Vielzahl interessanter Jobs kam und damit Lebenserfahrung sammelte, die er in einen umfangreichen Roman einfließen lassen wollte, von dem er immerhin schon das erste Kapitel geschrieben hatte.
Paul war schon längere Zeit der Regenschirm im Schirmständer am Ausgang aufgefallen. Dieser konnte eigentlich nur dem älteren Herrn gehören, der offenbar nicht sehr gut sehen konnte, so nah wie er die Zeitung vor die Augen hielt. Nun der Herr würde sicherlich so lange warten können, bis es aufgehört hatte zu regnen und morgen würde er ja seinen Schirm im Schirmständer wieder finden. Was sollte Paul schon passieren, im Zweifel würde er sich auf ein Versehen berufen und geltend machen, sein eigener Schirm, den er in den Schirmständer gestellt habe, wäre abhanden gekommen. So würde er vorgehen, denn er musste jetzt los. Ohne Eile ging er zum Ausgang und nahm im Vorbeigehen den Regenschirm aus dem Schirmständer an sich. Der Schirm war schwarz, wie er erleichtert feststellte, was eine „Verwechslung“ für den Fall, dass der alte Herr sich rühren würde, umso leichter erklärbar machen würde. Paul öffnete die Tür, wenn er draußen war, hätte er es geschafft. Er meinte Blicke in seinem Rücken zu spüren, aber irgendwelche Zurufe oder dergleichen blieben aus. Und draußen war er, den Schirm aufzuspannen und schnellen Schrittes durch den Regen über den Campus zu gehen, war eins und weg war er!
Paul war rechtzeitig zu seiner Verabredung am verabredeten Ort. Der Schirm tat weiterhin den ganzen Tag gute Dienste und als besonderer Vorteil stellte sich die Größe des Schirmes heraus, weil ohne Umstände auch zwei Personen unter den Schirm passten. Der Schirm hatte einen auffälligen knorrigen Knauf aus Wurzelholz, der gut in der Hand lag, weshalb Paul beschloss, ihn nicht mehr her zu geben, wenngleich der auffällige Griff die Gefahr beinhaltete, dass der Schirm dem eigentlichen Eigentümer zugeordnet werden konnte.
Die nächste Woche war sehr verregnet und der Schirm insoweit laufend im Einsatz. Mehrfach musste Paul kurz nach dem Start zum Jogging die Läufe infolge starken Regens wieder abbrechen. Das Wetter war die ganze Zeit so schlecht, dass Paul praktisch immer, wenn er das Haus verließ, den Schirm mitnehmen musste. Oft genug musste er zurück und den Schirm noch holen. Wenn er unterwegs war und ihn vergaß, wurde er spätestens nach ein paar Schritte im Freien infolge von einsetzendem Regen an „seinen“ Schirm erinnert. Jetzt, wo ihm dies aufgefallen war, achtete er verstärkt darauf. Paul viel auf, dass er, auch wenn es vor dem Verlassen der Wohnung beim Blick nach draußen nicht regnete, praktisch immer vor der Haustür von einsetzendem Regen überrascht wurde. Es war schon seltsam, eigentlich regnete es immer, sobald Paul ins Freie kam. Manchmal war es ein Gewitter, dann ein nicht endend wollender Landregen oder zumindest ein Nieselregen. Dies war merkwürdig und wurde Paul mehr und mehr bewusst. Würde das jetzt immer so bleiben? War der Schirm an der misslichen Lage schuld? War das die Strafe für die Mitnahme des Regenschirms? Paul kam auf die Idee, den Schirm wegzuschmeißen oder zu verschenken. Offenbar hatte er mit dem Diebstahl oder vielmehr dem „Ausleihen“ des Regenschirms irgendjemand gewaltig verärgert, wenn auch der alte Herr eher nach einem weltfremden Professor ausgesehen hatte. Wen auch immer die Mitnahme des Schirms verärgert hatte, würde sich aber sicherlich durch das Wegwerfen des Schirmes nicht besänftigen lassen. Hier war Vorsicht angeraten, von wegen „vom Regen in die Traufe“. Irgendetwas, vielleicht der Schirm selber, riet Paul jedenfalls zur Vorsicht.
Nach fast einem ganzen Regenmonat beschloss Paul, den Regenschirm zurückzugeben. Er besuchte gehäuft die Cafeteria der Universität, um nach dem alten Mann Ausschau zu halten. Zwei regnerische Wochen später, als er wieder einmal einen Blick in die Cafeteria warf, saß der alte Herr vertieft in eine Zeitung wieder in der Cafeteria. Paul setzte sich zu ihm an den Tisch. Den Schirm hatte er jetzt wegen des „ständigen“ Regens stets dabei.
Der alte Herr ließ die Zeitung sinken, blickte auf, legte die Zeitung zusammen und schaute, als wenn er Paul erwartet hätte, wobei sein Blick auch den am Tisch lehnenden Schirm streifte. Paul und der alte Mann sagten jedoch beide nichts, sondern blickten einander nur an. Paul fragte sich, wer der Mann war. Wenn er es tatsächlich nach Gutdünken regnen lassen konnte, dann war er schon jemand. Nur wer? … nun ja, vielleicht war er aber doch nur ein alter Mann! Eine längere Regenperiode kommt durchaus mal vor, auch eine solche die nichts mit irgendwelcher Zauberei oder Regenschirmen zu tun hat. Wer dieser Mann auch immer war, mit Blicken war er nicht nieder zu zwingen, zumal bei solchen Brillengläsern, die wenn man in sie schaute, einem den Eindruck vermittelten, in die Unendlichkeit zu schauen. Wer pokerte schon gerne mit Gott … und der Teufel hätte sicherlich einige Asse im Ärmel, einmal davon abgesehen, dass dieser sich sicherlich nicht den Schirm stehlen ließ … vielleicht im Tausch mit einer Seele … aber einen Regenschirm gegen eine Seele, das war doch etwas unter Wert.
Paul machte den Anfang und sagte: „Schlechtes Wetter! Sie haben sicherlich ihren Regenschirm vermisst.“
„Nein, eigentlich nicht! War ja ausgesprochen schönes Wetter mit Sonnenschein in den zurückliegenden Wochen!“
Paul schluckte. Diese Behauptung entsprach nun gar nicht seinen Feststellungen. Er warf einen Blick nach draußen, wo die Sonne, wie um die Worte des alten Mannes zu bestätigen, tatsächlich schien. Vom Verlassen seiner Wohnung bis zum Betreten der Bibliothek hatte es geregnet.
„Nach jedem Regen kommt wieder Sonnenschein“, fuhr der der alte Mann fort. Nach einer kurzen Pause ergänzte er: „Sagt man.“
Paul musste erneut schlucken. Paul meinte, die Sache nun doch auf den Punkt bringen zu sollen.
„Ich will ihnen ihren Schirm zurückgeben und mich dafür entschuldigen, dass ich ihn mir ausgeliehen habe“, sagte Paul.
Der alte Mann schwieg.
„Ein toller Schirm und sicherlich nicht ganz billig.“
Schweigen.
„Darf ich sie zu einem Kaffee einladen“, hakte Paul nach.
„Ich habe gerade einen Kaffee getrunken“, erwiderte der Mann.
„Ich wollte ihnen den Schirm schon länger zurückgeben, habe sie gesucht, allerdings nicht gefunden.“
„Nun, ich habe ihn ja nicht gebraucht!“
„Na dann, nichts für ungut, vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.“
Paul stand auf, strebte - nach kurzem Zögern ohne Schirm - Richtung Tür und öffnete die Tür zur Cafeteria.
Im Ausgang der Cafeteria blieb er stehen, holte tief Luft und trat dann nach draußen. Er blieb wiederum stehen, hielt den Atem an und ging dann - ohne den in letzter Zeit ansonsten obligatorischen nervösen Blick zum Himmel - los. Kaum hatte er drei Schritt getan, ging ein Platzregen nieder. Paul blieb erneut stehen und stand fast eine Minute lang regungslos im Regen. Dann trete er sich um und sah durch die großen Glasfenster in die Cafeteria. Der alte Mann beobachtete ihn, offenbar sah er doch besser als Paul gedacht hatte, denn er winkte ihm freundlich … oder etwa vergnügt … zu. Es regnete, als wenn sich alle Schleusen des Himmels auf einmal geöffnet hätten. Nicht schon wieder, sollte dies denn nie mehr aufhören!
Paul stand da und merkte, wie das Regenwasser aus seinen Haaren in seinen Hemdkragen lief. Seine Schuhe waren noch vom Weg zur Bibliothek nass und wurden feuchter und feuchter. Paul kam der Gedanke, dass er sich schnellstens einen Schirm besorgen sollte, möglichst einen sehr großen Schirm. Beinahe wäre sein Blick zum Schirmständer gegangen.
Er richtete seinen Blick gegen den Himmel, wo sich dunkle schwarze Wolken zeigten und ihre nasse Last auf ihn niedergehen ließen.
Paul fragte: „Oh, Gott, warum tust du mir dies an?“
Aber eigentlich wusste Paul die Antwort!