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Der reiche Bettler
Der Frühling war an diesem späten Morgen überall sichtbar, denn die Menschen kamen aus ihren Häusern und genossen die ersten warmen Sonnenstrahlen. Arbeiter banden ihre Jacken um und jungen Frauen hatten ihre langen Hosen gegen einen kurzen Rock getauscht. Überhaupt entdeckte Stefan auf den meisten Gesichtern ein Lächeln. Das Jahr ging in eine neue Runde und brachte allen etwas Neues. Aber nicht nur die Jahre erneuerten die Dinge, sondern auch die Tage und Stunden. Das romantische und freiheitsliebende Leben auf der Straße, war oft nicht das, was die Menschen sich darunter vorstellten. Die Dinge, die dieses Leben wirklich bezeichneten geschahen Nachts, fernab von den Augen der Passanten. Vor zwei Tagen hatten Stefan einen guten Tag. Die Leute auf der Straße hatten ihm viel Geld zugesteckt, wahrscheinlich weil es die erste wirklich schöne Zeit des Jahres gewesen war. Sie lächelten ihn an, warfen eine Münze in den kleinen Hut, den er vor sich stehen hatten und eilten mit einem reinen Gewissen weiter. Stefan hatten sie schon nach einer einzigen Minute wieder vergessen. Er nahm dann schnell das Geld und ließ es in seiner alten, speckigen Kordhose verschwinden, damit niemand sehen konnte, dass er schon ein paar Euro besaß. Größeres Leid versprach auch größeres Mitleid. Ein Leitsatz, den Stefan ständig befolgte und so konnte er sich am gleichen Abend ein kleines Zimmer nehmen. Dies war ein Luxus, den er sich ein- oder zweimal im Jahr gönnte. Es war eine kleines Zimmer gewesen. Die Wände waren feucht und in den Ecken zeigten sich Spuren von Schimmelpilzen, aber das Wasser in der Dusche, die es draußen auf dem Flur gab, war wunderbar warm. Stefan hatte sich fast eine ganze Stunde unter das fließende Wasser gestellt und dabei zugesehen, wie der Schmutz auf seinem dürren Körper mit dem kostbaren Nass in der Tiefe des Abflusses verschwand. Seine Gedanken kreisten dabei um den letzten Winter. In dieser Zeit schienen die Geldbeutel der Menschen immer besonders leer und man konnte froh sein, wenn die Münzen am Ende eines Tages für etwas Essbares reichten. An eine warme Dusche und das damit einhergehende Glückgefühl war nicht zu denken. Man war schon glücklich, wenn man nach einer kalten Nacht am nächsten Morgen lebendig aufwachte. Nicht alle taten das. Stefan hatte erst einen Winter auf der Straße erlebt und bereits zwei Freunde an den Frost verloren. Nicht selten war daran jedoch der Alkohol schuld. Sie tranken alles was sie finden konnten, genossen die Wärme in ihrem Inneren und schliefen dann irgendwo ein. Meist auf einem ungeschützten Bürgersteig, dort wo der Winter seine kalte Hand ohne Probleme über sie legen konnte.
Die Menschen wandelten meist mit einer selbst verordneten Blindheit an Bettlern wie ihm vorbei. Sie taten so, als existierte Stefan nicht, oder sie stellten sich vor, er gehöre genauso zum Bild der Stadt, wie die Straßenlaternen oder Mülleimer.
Aber es gab auch jene, die auf ihn aufmerksam wurden. Sie schenkten ihm davon mehr, als er es sich wünschte. Wenn die Straßen leer wurden, waren meist nur noch Menschen wie er, oder einige Jugendliche unterwegs, die von ihren Partys auf dem Weg nach Hause waren.
In der Nacht nach der Dusche und dem warmen Bett hatte Stefan sich eine stille Ecke hinter einem kleinen Straßenstand gesucht, um zu schlafen. Schon von weitem hörte er die unartikulierten Stimmen der Halbstarken und als sie ihn entdeckten, hielten sie an. Erst waren es nur ein paar argwöhnige Blicke, doch es dauerte nicht lange und der erste von ihnen bezeichnete Stefan als einen dreckigen Penner. In ihrem Rausch kamen sie auf ihn zu und stießen ihn mit ihren Schuhen an. Einige lachte höhnisch, was sie noch mehr anspornte. Stefan hatte Glück. Unter ihnen waren auch ein paar junge Mädchen, die zwar mitlachten, die Jungs aber drängten weiterzugehen, weil sie sich wohl doch etwas unwohl dabei fühlten. Manchmal hatte man dieses Glück nicht. Dann traten sie auf einen ein, bis man sich vor ihren Füßen erbrach, womit dann auch die letzte Romantik des Straßenlebens verschwand.
Stefan saß an diesem Tag wie immer vor einem kleinen Schuhladen direkt gegenüber des VMN Gebäudes. Die Menschen, die dort hineingingen, waren die Interessantesten, denn ihre Gesichter zeugten meist von großem Schmerz. VMN versprach ihnen diesen Schmerz zu nehmen. Man ging hinein, nahm alles mit, was einem an schmerzlichen Erinnerungen geblieben war und die Herren und Damen dort sorgten dafür, dass man all das vergaß. Es war eine Prozedur von etwa einer Stunde. Ein paar Spritzen, ein paar elektronische Stöße und ein paar Ersatzerinnerungen aus dem Computer und all das böse, was einem passiert war, wurde vergessen. Manchmal erwischte sich Stefan dabei, wie er sehnsuchtsvoll die großen Buchstaben anstarrte. Das Vergessen versprach einem das Leid zu nehmen. Was Stefan damals getan hatte, was ihn auf die Straße gebracht hatte, war etwas, von dem man nicht gerne erzählte und an das man nicht gerne dachte. Aber wenn er sich wieder daran erinnerte und er den Schmerz in seinem Inneren fühlte, bekamen diese drei Buchstaben eine andere Bedeutung als ihre ursprüngliche. Vergiss mein nicht.
Stefan wurde ganz besonders auf einen Mann aufmerksam, der bereits zum dritten Mal an ihm vorbeischlenderte. Seine Gesicht spiegelte Unentschlossenheit wieder und jedes Mal warf er einen flüchtigen Blick durch die glänzenden Glastüren von VMN. Er zog sein linkes Bein ein wenig nach und wahrscheinlich war es das, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte, denn sein Gang erinnerte ihn an John Wayne. Stefan musste automatisch grinsen, als er an den Duke dachte. Er drehte sich jedes Mal in seine Richtung, wenn er vorbeikam, wobei der große, blaue Fleck, der sich auf seiner Brust abzeichnete schmerzte. Dort hatten sie ihm am häufigsten getroffen, aber ohne ihm etwas zu brechen.
Als der Mann ein viertes Mal an Stefan vorbeikam, sprach er ihn an.
„Entschuldigen Sie bitte. Hätten Sie vielleicht ein paar Euro für mich?“
Der Mann hielt kurz inne und blickte Stefan verwirrt an, so als müsste er erst nachdenken, was genau diese Worte zu bedeuten hatten.
„Nein,“ stotterte er verlegen, „tut mir Leid“, wobei er vermied Stefan anzublicken.
„Ich hab heute aber noch nichts gegessen.“
Wieder blickte ihn der Fremde an, aber diesmal sah Stefan so etwas wie Mitleid in seinen Augen. Mehr Leid, mehr Mitleid.
Und schließlich verschwand seine Hand in der linken Jackentasche und förderte ein paar Münzen zum Vorschein. Er ging auf Stefan zu und drückte ihm genau drei Euro und fünfzig Cent in die geöffnete Hand.
„Danke, Mann,“ bedankte sich Stefan mit einem Blick auf die in der Sonne blinkenden Münzen. „Ich werd mir nen Berliner davon kaufen. Hab fast vergessen, wie son Ding schmeckt. Haben Sie auch schon mal was vergessen?“
Der Fremde warf wieder einen Blick durch die Türen von VMN, hinter denen jetzt zwei junge Frauen standen, die ihn anlächelten. Es war ein einladendes Lächeln, als würden sie ihn kennen und erwarten.
„Ich wünschte, ich würde es tun“, antwortete er.
„Vergessen? Wenn man vergisst, weiß man auch nicht mehr, was man mal hatte. Scheiße Mann, wenn ich nicht mehr wüsste, wie das Leben so sein kann....“ Die letzten Worte konnte der Mann nicht verstehen, denn Stefan richtete sie nur an sich selbst. Er senkte dabei seinen Kopf und nuschelte unverständlich in seinen langen Bart.
Fragende Blickte ruhten nun auf Stefan, aber der Fremde sprach trotzdem weiter: „Nein, nicht wirklich. Möchten Sie nicht gerne vergessen? Wie wäre es, wenn Sie nicht mehr wüssten, warum Sie auf der Straße gelandet sind. Ich mein, irgendetwas schlimmes muss ja passiert sein und wenn Sie nicht mehr daran denken würden, hätten Sie vielleicht die Kraft aufzustehen und ein neues Leben zu beginnen.“
„Will ich das denn? Dann würd ich doch die selben Fehler wieder machen, oder nicht? Ich währ doch total dumm und nichts würde besser.“
Nachdenklich blickte der Mann zu Boden, ohne zu antworten.
„Was haben Sie denn gemacht? Warum vergessen?“
„Hmm“, begann er, „vielleicht haben Sie recht. Wissen Sie; es geht um eine Frau, wie meistens. Ich war über ein Jahr mit ihr zusammen und habe versucht ihr alles zu geben. Ich mein, ich habe wirklich versucht das Beste in ihrem Leben zu sein und dann, von heute auf morgen, macht sie mit mir Schluss. Ich wäre nicht für sie da gewesen. Ich hätte ihr nicht geben können, was sie braucht. Und das alles schickt sie mir mit einer kalten e-mail. Es hat mein Herz zerrissen. Oh ja, es hat schwere Zeiten zwischen uns gegeben, aber die waren für mich nicht von Bedeutung, denn es gab auch viele schöne. Nun ja, auf jeden Fall will ich es, will ich sie, vergessen.“
Stefan drehte gedankenverloren die Euromünzen in seinen schmutzigen Händen.
„Und Sie waren der Unschuldsengel?“
„Nein. Sicherlich nicht. Ich hätte vieles anders machen können.“
„Das mein ich. Wenn Sie jetzt vergessen, machen Sie den selben Mist doch nur wieder?“
„Nein. Ich war dumm.“
„Aha.. Gibst da keine Eltern oder so, die da noch ein Wort mitzureden haben?“
Der Mann drehte sich von Stefan weg. „Nein, ich erinnere mich kaum an meine Eltern.“
Dann wandte sich der Fremde ganz ab und ging merkwürdigerweise entschlossen auf die Glastüren zu, die ihm von den jungen Frauen aufgehalten wurden. Die anderen Leute auf der Straße beachteten ihn gar nicht.
„Guten Tag, Herr Radermacher. Wie geht es Ihnen?“, schallten ihm die hellen Stimmen simultan entgegen. Das sie seinen Namen kannten, schien ihm gar nicht aufzufallen.
Dann schlossen sich die Türen für genau eine Stunde und der Mann kam wieder heraus. Seine Augen blickten ein wenig leer vor sich hin, als wäre er woanders.
„Haben Sie mal nen Euro für mich?“, rief ihm Stefan zu.
Herr Radermacher kam auf den Bettler zu und suchte in seiner Jackentasche.
„Nein, tut mir Leid. Ich habe leider kein Kleingeld.“
Stefan blieb hartnäckig. „Bitte, mein Guter. Wissen Sie? Meine Frau hat mit mir nach über einem Jahr einfach so in einem Brief Schluss gemacht. Dabei habe ich ihr alles versucht zu geben, aber ich konnte es nicht. Und nun weiß ich nicht mehr ein, noch aus. Sie hat alles von mir genommen.“
„Hmm, das klingt aber nicht sonderlich hart“, bemerkte der Mann trocken, „solche Dinge vergisst man schnell. Machen Sie sich da mal keine Sorgen und Geld kann Ihnen dabei auch nicht weiterhelfen. Außerdem kommen solche Sachen schnell wieder in Ordnung.“
„Verstehe“, murmelte Stefan vor sich hin und blickte ihm kopfschüttelnd nach. Das nächste Mal, hatte er sicherlich wieder ein paar Euros bei sich, wie jedes Mal.