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Der Reismann

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04.01.2004
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Der Reismann

Chang lächelte den letzten Gästen zu, die das Restaurant verließen. Die Letzten? Eine Gruppe von zwanzig Personen hatte sich für zweiundzwanzig Uhr angemeldet. Er warf einen Blick auf seine digitale Plastikarmbanduhr: 22:47. Normalerweise würden sie bald schließen, aber weitere zwanzig verkaufte Gerichte bedeuteten mehr Einnahmen, aber auch mehr Arbeit. In letzter Zeit kamen immer weniger Gäste, das Geld konnten sie alle gut gebrauchen. Er seufzte, spürte den Schmerz in seinem Rücken, die Müdigkeit in seinen Füßen. Seit halb elf Uhr morgens hatte er Bestellungen aufgenommen, Teller und Gläser hin und her getragen, die Tische neu gedeckt, an der Theke gestanden und auf den Wink eines Gastes wieder losgelaufen. Der Samstag war der geschäftigste Tag, Mittags raschelten Menschen mit großen Einkaufstüten herum, abends drängelten sie sich um das Buffet. Er schaute noch einmal auf seine Uhr. Ob die Gäste noch kommen würden? Er musste daran denken, dass es in Fuxin wieder ein schweres Bergwerkunglück gegeben hatte. Diesmal mit über zweihundert Toten. Mindestens hundert Witwen und Waisen, die trauern und denen der Mann fehlt, der sie ernährt. Väter und Mütter, die die Unterstützung im Alter vermissen. Chang rechnete aus, wie viel Geld er in sein Heimatland schicken könnte, wenn – da öffnete sich die Tür und eine Gruppe junger Leute polterte herein, rückte Tische und Stühle. Nach der Stille wunderte er sich einen Augenblick lang über die Lautstärke der Menschen in diesem Land, dann hatte Chang keine Zeit mehr zum Denken, spürte seinen Rücken und seine Beine nicht mehr, flitzten nur noch mit seinen Kollegen hin und her.

Inzwischen war es Mitternacht, das Essen war serviert, seine Kollegen und Kolleginnen waren nach Hause gegangen, Weng war schon um neun Uhr morgens auf dem Großmarkt gewesen, um frisches Gemüse zu kaufen, er hatte sich kaum noch auf den Beinen halten können. Die Frauen mussten nach den Kindern sehen. Einige Gäste blickten sich um, murrten, wollten wahrscheinlich noch etwas zu Trinken bestellen. Chang stand hinter der Kasse und schaute aus dem Fenster. In China würde jeder Gast die kleinen Zeichen verstehen und sich höflich verabschieden. Er machte sich keine Gedanken über seine Gäste, hört nicht ihre Gespräche über die Ausbeutung der Dritten Welt, er spürte nur noch die bleierne Müdigkeit in seinen Knochen. So wie er nicht mehr merkte, dass er sich im Laufe der Jahre ihrem Verhalten immer stärker angepasste hatte, er lächelte weniger als früher. Dabei war er zufrieden in diesem fremden Land. Er brauchte nicht mehr in einem Bergwerg zu schuften, in dem die Sicherheitsvorschriften nur auf dem Papier existierten. Seine Frau Li und er hatten eine Wohnung mit Zentralheizung und vor allem durften sie hier zwei Kinder haben. Bei dem Gedanken an Sun und Yin lächelte er wieder. Wenn sie weiterhin so gute Zeugnisse nach Hause brächten, würden sie studieren können und es eines Tages besser haben als er. Vielleicht würden seine Kinder ihn sogar einmal in ein Restaurant einladen. Ob die Sehnsucht nach den Reisfeldern dann nachlassen würde?
Chang schaute wieder auf seine Uhr: 1:22. Seine Müdigkeit schien die Minuten wie eine graue Kaugummimasse zu einer Ewigkeit auseinander zu ziehen. Er hatte das Licht im vorderen Bereich gelöscht, die Musik ausgeschaltete. Endlich kamen die letzten Gäste, bezahlten, verabschiedeten sich voneinander. Sein Kopf hatte Mühe, die Preise der Gerichte zu finden, doch seine Hände bewegten sich von alleine. Geschafft! Morgen würde er wieder um neun Uhr aufstehen müssen – nein heute! Er blickte den letzten Gästen nach – und sah die Gläschen mit den Abschieds-Cocktails, rief ihnen hinterher, entschuldigte sich. Einige murrten, andere kamen zurück, tranken. Als sie schon halb in der Tür waren, hörte er eine näselnde Stimme: "Auf Wiedelsehen, Hell Leismann!". Als sich die Tür hinter ihnen schloss, erstarb das Lachen.
'Reismann', dachte Chang. 'Ein schöner Name für mich!'
Er lächelte.

 
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Hallo,
Ich gestehe gleich, dass es ein Gegenstück zu gbwolfs
Reisfrau
sein soll. Ihre Version ist viel poetischer! Oh, Felsenkatze hat auch schon eine geschrieben! Kind Und gnoebels ist am lustigsten: Herr Meier...

Allen Unbeteiligten verrate ich auch, dass nach der Lesung in GE die Idee entstand (ratet mal wo!) eine KG mit dem Titel "Die Reisfrau" zu schreiben. Die Geschichten sollten jedoch auch für sich alleine verständlich sein. Bei mir hat die Reisfrau eine Geschlechtsumwandlung durchgemacht. Das Unglück in Fuxin hat leider am Montag tatsächlich stattgefunden.
liebe Grüße
tamara

 

Hi tamara,

aus gegebenem Anlass, was?
Tja, als Betroffene kann ich leider nicht so recht kritisieren. Außer, das manche Leute einfach blind sind. Das hast du sehr schön herausgestellt.
Auch die kulturellen Unterschiede (immer lächeln, kleine Andeutungen gegen deutliche Zeichen) hast du schön herausgearbeitet.

Eine Alltagsszene, aber gerade deswegen gesellschaftlich relevant.
Schön und flüssig zu lesen, hat mir gefallen.

Gruß,

Ronja

 

Hallo Felsenkatze,
danke fürs Lesen. Scheint dir doch gefallen zu haben. Freut mich!
Gruß
tamara

 

Hallo tamara,

wir waren auf 22.30 angemeldet :D . Und mehr als 20 Leute (an unserem Tisch saßen ja schon zehn, der andere war viel größer).
Nein, ist mir ganz recht, dass du das nicht ganz direkt auf uns zugemünzt hast, denn die Bemerkung kam ja echt nicht von uns... aber zur Geschichte.

Die Idee ist nicht schlecht und auch einigermaßen subtil umgesetzt. Bis auf:

Er war glücklich, [...] dass er nicht mehr in einem Bergwerg schuften musste, in die Sicherheitsvorschriften nur auf dem Papier existierten.
und
und er würde einmal im Leben bedient werden.
hast du die Aussage gottseidank nicht so überdeutlich transportiert.

Dann hab ich da noch was:

Das Essen war servierte,
ohne e

und noch eine Frage, ob es Absicht war, dass die letzten Sätze der einzelnen Absätze immer so gleich klingen, dass nimmt dem an sich schönen Schlussatz eigentlich die Wirkung.

Als sie schon halb in der Tür waren, hörte er eine näselnde Stimme: "Will wollen mehl Leis, Hell Leismann!".
Das fand ich irgendwie unglaubwürdig. Vielleicht fällt dir noch eine bessere Möglichkeit ein, den Spitznamen zu verpacken.

Ansonsten wars gute, solide tamara-arbeit, wie von dir gewöhnt. Nicht schlecht, könnte aber besser sein.

lieben Gruß,

Anea

P.S.: Schon die vierte Geschichte mit Reismenschen entdeckt?

 

Liebe Anea,
wer sagt denn, dass wir das waren? :D Ich möchte niemanden kritisieren oder ähnliches. Einfach nur einmal eine Situation aus der Perspektive eines Anderen schildern.
Stimmt, die beiden Stellen sind zu plump werde ich morgen ausbügeln. Die Hänselei auch, da ist mir noch nichts Besseres eingefallen.
Ja, es war Absicht, dass die letzten Sätze der einzelnen Absätze immer gleich klingen. Du meinst also, dass das dem an sich schönen Schlusssatz (Danke!) eigentlich die Wirkung nimmt? Mist!

Ansonsten wars gute, solide tamara-arbeit, wie von dir gewöhnt. Nicht schlecht, könnte aber besser sein.
He, danke! Normalerweise schreibe ich viel längere Geschichten! Das hier ist doch eine Art Mini-Challenge!
Wo ist der vierte Reismensch? Finde ich nicht! :heul:
Danke erst einmal und lieben Gruß
tamara

 

Hallo ihr Lieben,

ich würde ja gerne auf eure Reisgeschichten antworten, aber irgendwie habe ich das Gefühl, die sind nur für GS-Eingeweihte :confused:

 
Zuletzt bearbeitet:

@Coleratio:
Nein, lass dich von den Kommentaren nicht irritieren, gnoebels Geschichte kenne ich noch nicht. Alle anderen kann man auch einfach so lesen.
Gruß
tamara

PS: Stell dir vor, du gehst essen und ärgerst dich (vielleicht auch zu Recht), weil die Bedienung dich deiner Meinung nach nicht genügend zuvorkommend bedient. Was könnte ich deren Kopf vorgehen?
Ich finde, gesellschaftliche Themen können auch durch kleine Ereignisse ausgelöst werden. Es muss nicht immer ein Selbstmord sein oder Alkoholikereltern etc.

 

Hi Tamara,

aha, eine Reisgeschichte als Minichallenge, nicht schlecht.
Gibts auch eine Jury? :D

Zu deiner Geschichte.
Sie besteht mehr aus Gedanken, als aus Handlung.
Ich glaube zu bemerken, dass du "nur" einen Aufhänger für den Titel Reismann gesucht hast.
Es fehlt das Leben.

Mir ist Stilistich noch was aufgefallen:

In letzter Zeit kamen immer weniger Gäste, das Geld konnten sie alle gut gebrauchen. Aber auch mehr Arbeit.

Lies dir diesen Satz einmal genau durch.
Er sagt aus, dass immer weniger Gäste kommen, da sie ihr Geld selber gebrauchen, weil sie zu wenig Arbeit haben.
Ich glaube aber, du wolltest ausdrücken, das der Wirt das Geld gut gebrauchen kann, das allerdings mit mehr arbeit verbunden ist, oder?
So oder so, ist der Satz sehr unglücklich formuliert.

Gruppe junger Leute kam polterte herein,
polternd

würden sie studieren können und es eines Tages besser haben als er. Vielleicht würden seine Kinder ihn eines Tages sogar
einmal zu viel

Tablett mit den Abschieds-Cocktails, rief ihnen hinterher, entschuldigte sich. Einige murrten, andere drehten sich um, tranken.
Hier würde ich schreiben: ... kamen zurück

Tja, der arme Kerl muß hart arbeiten für sein Geld.
Aber weißt du was?, das müssen wir auch :D

Wenn mir Abends die Füße weh tun und mein Rücken streikt, habe ich eine gute Kasse gemacht.
Und man sollte froh sein, wenn man das in der heutigen Zeit sagen kann.

Schätze du hast die KG ruckizucki geschrieben ;)
Tut mir leid, aber du kannst es besser.

lieben Gruß, Irma

 

@Coleratio:
Erst einmal danke fürs Lesen und deine ehrliche, konstruktive Kritik! Ich habe über diesen Text schon gründlich nachgedacht und ihn mehrmals überarbeitet, aber ich muss zugeben, dass es eine Reaktion auf gbwolfs KG ist. Das ist nicht mein Stil, das stimmt wohl, vielleicht sollte ich diese KG wieder löschen lassen. Hat mir trotzdem Spaß gemacht, sie zu schreiben, mal was anderes.
Dass andere für ihr Geld auch hart arbeiten müssen, das habe ich doch gar nicht bestritten! Hm, tut mir Leid, wenn du oder jemand anders sich angegriffen gefühlt hast.
Der Satz mit der Arbeit bezieht sich auf den vor-vorherigen. Das kommt davon, wenn man beim Überarbeiten etwas einfügt.
liebe Grüße
tamara

 

Hallo tamara,

die Geschichte zeigt, wie sehr jemand schuftet, wie die Pflicht erfüllt wird, ganz gleich welche Dramen die Gedanken beschäftigen. Du zeigst ein Arbeiterdenkmal, doch nicht ein heroisierendes, sondern eines der kleinen Leute, die über die Runden kommen wollen.
Die Hänselei am Schluss finde ich wichtig: Die Leute, die bedient wurden, vielleicht selbst einen schweren Arbeitstag hinter sich hatten, wechseln gewissermaßen die Seite.
Der „Reismann“ wirkt etwas naiv durch die positive Aufnahme der Hänselei, aber auch verletzlich - oder versteht er gerade in Nicht-Naiver-Weise den Spott in eine Ehrung umzuwandeln? (Vielleicht ist es auch nur eine kulturelle Fehlinterpretation von ihm, schließlich ist Reis ein asiatisches Glückssymbol.

Ein wenig gestört haben mich die Zeitangaben, die kann man sicher auch in den text integrieren - wie oft habe ich bei Fließbandarbeit auf die Fabrikuhr geschaut!

L G,

tschüß... Woltochinon

 

Hallo Woltochinon,
ein Arbeiterdenkmal für kleine Leute! Was für eine nette Interpretation, danke! Ja, eine kleine Geschichte darüber habe ich vor Augen gehabt. Wie oft gehen wir an Menschen vorbei, ärgern uns vielleicht über sie, weil sie nicht schnell, freundlich genug sind, oder ähnliches, ohne dass wir uns Gedanken über sie machen. Wenn du selber einmal am Fließband gearbeitet hast, kannst du bestimmt einiges nachvollziehen, aber ach, wer kann das nicht!
Dass Reis ein asiatisches Glückssymbol ist, habe ich gar nicht gewusst, aber es passt hervorragend! Ob er zu naiv ist, um die Neckerei nicht zu merken oder so sehr darüber steht, dass er es bewusst übersieht, habe ich allerdings ganz bewusst offen gelassen! Die Zeitangaben habe ich integriert, da war ich selber unschlüssig.
liebe Grüße
tamara

 

Hallo tamara,

oft ist es dem Kunden, der eine Dienstleistung in Anspruch nimmt, egal, wie es dem Ausübenden dabei geht. Dein Protagonist lebt sein Leben in kleiner Dankbarkeit. Das Unglück im fernen Bergwerk zeigt ihm, wie er es hätte treffen können. Allerdings hatte ich die Geschichte als ich davon las noch in China angesiedelt. Erst später wurde mir klar, dass dein Prot wohl in die Ferne ausgewandert ist.
Zur Zeit muss man ja mit der Veröffentlichung von Liedtexten höllisch aufpassen, sonst hätte ich dir den Text eines Schriftstellers und Sängers zu einer ähnlichen Problematik gepostet. ;)
Oft machen wir uns auch nicht bewusst, dass der Kulturschock, der uns bei der REise in ferne Länder oft befällt, manchmal auch fasiziniert die Menschen, die zu uns kommen auch bedallen muss. Das hast du in den kleinen Gesten gut eingefangen.

Wen war schon um neun Uhr morgens auf dem Großmarkt gewesen, um frisches Gemüse zu kaufen
"Wen" hat mich hier kurz rausgebracht, weil ich instinktiv die deutsche Lesart hatte. Dann hat der Satz natürlich keinen Sinn ergeben.
In letzter Zeit kamen immer weniger Gäste
Seit halb elf Uhr morgens war er hier fast ununterbrochen auf und ab gelaufen, hatte Bestellungen aufgenommen, Teller und Gläser hin und her getragen, frische Tischtücher gebracht.
Du erwähnst zwar, dass der Samstag der geschäftigste Tag ist, aber das Stehen während der Leerlaufphasen, das Warten auf Kunden und ermüdet oft viel mehr, als hektische Betriebsamkeit. Vielleicht lässt du ihn nicht ganz so viel laufen. ;)
So wie er nicht mehr
merkte, dass er sich im Laufe der Jahre ihrem Verhalten immer stärker angepasste hatte, er lächelte weniger als früher.
Das hat sich durch Word noch ein Zeilenumbruch eingeschlichen.
Wenn sie weiterhin so gute Zeugnisse nach Hause bringen, würden sie studieren können und es eines Tages besser haben als er.
Zeitformwechselm mitten im Satz. Wenn sie weiterhin so gute Zeugnisse nach Hause brächten, würden sie studieren können.
Seine Müdigkeit schien die Minuten mit einer wie eine graue Kaugummimasse zu einer Ewigkeit auseinander zu ziehen.
Wahrscheinlich wolltest du den Satz erst anders schreiben.
und sah das Tablett mit den Abschieds-Cocktails,
Gleich ganze Cocktails? Bei meinem Chinesen gibts immer nur ein Gläschen Pflaumenwein. ;)
Aneas Urteil von der soliden Kost kann ich mich gerne anschließen.

Liebenm Gruß, sim

 

Hallo Sim,
danke fürs Lesen, Kritisieren und die Hinweise auf die Fehler, habe ich gleich korrigiert. Wie das Universum scheinen die nie endlos zu sein! ;) Die Abschieds-Coktails sind doch diese ganz kleinen, die gibt's jetzt in Gläschen, ich hoffe, das ist dann klar.
Das Lied kenne ich bestimmt nicht, du könntest mir den Text ja in einer PM schicken, das ist ja privat und somit wohl doch noch erlaubt! ;)
liebe Grüße
tamara

 

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