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Der Reismann
Chang lächelte den letzten Gästen zu, die das Restaurant verließen. Die Letzten? Eine Gruppe von zwanzig Personen hatte sich für zweiundzwanzig Uhr angemeldet. Er warf einen Blick auf seine digitale Plastikarmbanduhr: 22:47. Normalerweise würden sie bald schließen, aber weitere zwanzig verkaufte Gerichte bedeuteten mehr Einnahmen, aber auch mehr Arbeit. In letzter Zeit kamen immer weniger Gäste, das Geld konnten sie alle gut gebrauchen. Er seufzte, spürte den Schmerz in seinem Rücken, die Müdigkeit in seinen Füßen. Seit halb elf Uhr morgens hatte er Bestellungen aufgenommen, Teller und Gläser hin und her getragen, die Tische neu gedeckt, an der Theke gestanden und auf den Wink eines Gastes wieder losgelaufen. Der Samstag war der geschäftigste Tag, Mittags raschelten Menschen mit großen Einkaufstüten herum, abends drängelten sie sich um das Buffet. Er schaute noch einmal auf seine Uhr. Ob die Gäste noch kommen würden? Er musste daran denken, dass es in Fuxin wieder ein schweres Bergwerkunglück gegeben hatte. Diesmal mit über zweihundert Toten. Mindestens hundert Witwen und Waisen, die trauern und denen der Mann fehlt, der sie ernährt. Väter und Mütter, die die Unterstützung im Alter vermissen. Chang rechnete aus, wie viel Geld er in sein Heimatland schicken könnte, wenn – da öffnete sich die Tür und eine Gruppe junger Leute polterte herein, rückte Tische und Stühle. Nach der Stille wunderte er sich einen Augenblick lang über die Lautstärke der Menschen in diesem Land, dann hatte Chang keine Zeit mehr zum Denken, spürte seinen Rücken und seine Beine nicht mehr, flitzten nur noch mit seinen Kollegen hin und her.
Inzwischen war es Mitternacht, das Essen war serviert, seine Kollegen und Kolleginnen waren nach Hause gegangen, Weng war schon um neun Uhr morgens auf dem Großmarkt gewesen, um frisches Gemüse zu kaufen, er hatte sich kaum noch auf den Beinen halten können. Die Frauen mussten nach den Kindern sehen. Einige Gäste blickten sich um, murrten, wollten wahrscheinlich noch etwas zu Trinken bestellen. Chang stand hinter der Kasse und schaute aus dem Fenster. In China würde jeder Gast die kleinen Zeichen verstehen und sich höflich verabschieden. Er machte sich keine Gedanken über seine Gäste, hört nicht ihre Gespräche über die Ausbeutung der Dritten Welt, er spürte nur noch die bleierne Müdigkeit in seinen Knochen. So wie er nicht mehr merkte, dass er sich im Laufe der Jahre ihrem Verhalten immer stärker angepasste hatte, er lächelte weniger als früher. Dabei war er zufrieden in diesem fremden Land. Er brauchte nicht mehr in einem Bergwerg zu schuften, in dem die Sicherheitsvorschriften nur auf dem Papier existierten. Seine Frau Li und er hatten eine Wohnung mit Zentralheizung und vor allem durften sie hier zwei Kinder haben. Bei dem Gedanken an Sun und Yin lächelte er wieder. Wenn sie weiterhin so gute Zeugnisse nach Hause brächten, würden sie studieren können und es eines Tages besser haben als er. Vielleicht würden seine Kinder ihn sogar einmal in ein Restaurant einladen. Ob die Sehnsucht nach den Reisfeldern dann nachlassen würde?
Chang schaute wieder auf seine Uhr: 1:22. Seine Müdigkeit schien die Minuten wie eine graue Kaugummimasse zu einer Ewigkeit auseinander zu ziehen. Er hatte das Licht im vorderen Bereich gelöscht, die Musik ausgeschaltete. Endlich kamen die letzten Gäste, bezahlten, verabschiedeten sich voneinander. Sein Kopf hatte Mühe, die Preise der Gerichte zu finden, doch seine Hände bewegten sich von alleine. Geschafft! Morgen würde er wieder um neun Uhr aufstehen müssen – nein heute! Er blickte den letzten Gästen nach – und sah die Gläschen mit den Abschieds-Cocktails, rief ihnen hinterher, entschuldigte sich. Einige murrten, andere kamen zurück, tranken. Als sie schon halb in der Tür waren, hörte er eine näselnde Stimme: "Auf Wiedelsehen, Hell Leismann!". Als sich die Tür hinter ihnen schloss, erstarb das Lachen.
'Reismann', dachte Chang. 'Ein schöner Name für mich!'
Er lächelte.