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Der Schatten
»Kommen Sie näher, setzen Sie sich, bitte.
Bitte. Nur zu.
Ich habe Sie mir anders vorgestellt.«
»Wie?«
»Nicht so ... menschlich, wenn Sie dieses Wort gestatten. Darf ich mehr Licht machen?«
»Wenn es sein muss.«
Der alte Mann betätigte den Schalter für das große Deckenlicht. Das hatte er bisher noch nie getan. Er wandte sich wieder seinem Gast zu:
»Danke. Ich habe gar nicht mehr damit gerechnet, dass Sie kommen.«
»Nun bin ich hier.«
»Allerdings. Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Es gibt da etwas, was mich ... stört. Sehr sogar. Zwei meiner ... Lagerhäuser sind abgebrannt, drei meiner Männer dabei umgekommen.«
»Das interessiert mich nicht. Um wen geht es?«
Der alte Mann war etwas irritiert, ließ sich aber nicht aus der Fassung bringen.
»Nun gut. Der Betreffende scheint ein Feuerelementar zu sein. Oder ein niederer Dämon.«
»Ich kümmere mich darum.«
»Gut, dann nehme ich an, dass wir ein Abk... Mhm.«
Der alte Mann sah auf - sein Gast war verschwunden. Er betätigte den Knopf der Sprechanlage.
»Ja?«, dröhnte es aus dem Lautsprecher.
»Lukas? Kommen Sie bitte herein«, sagte der alte Mann.
Es dauerte keine drei Herzschläge, als leise die Tür geöffnet wurde und ein breitschultriger, schwarz gekleideter Mann das Zimmer betrat. Er sah seinen Chef mit hochgezogener Augenbraue an.
»Bisher war er nicht hier«, sagte der Leibwächter.
Der alte Mann lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen aufeinander.
»Oh, doch, das war er, Lukas.«
Lukas war verblüfft. »Niemand ist an mir vorbeigekommen, Boss. Niemand. Das schwöre ich.«
Der alte Mann lächelte.
Der Schatten war in die Stadt gekommen.
Er ging über den regennassen Asphalt und seine Schritte machten leise, saugende Geräusche.
Die Luft pulste ihm entgegen, Musik, laut und ungestüm, so dass er sie auf seiner Haut spüren konnte. Er ging auf die beiden Türsteher zu und diese musterten ihn nicht einmal; wie ein Windhauch war er an ihnen vorbei.
Der Druck wurde massiver, Schweiß, Musik drückte gegen sein Gesicht, Luft war materiell, wie eine Barriere. Er bewegte sich durch die eng aneinander tanzenden Leiber und sie machten ihm Platz, schufen einen schmalen Raum dort, wo kein freier Raum möglich schien.
Er ging durch die Menschen und schlug gewaltlos eine Schneise durch die tanzenden Körper, die sich hinter ihm wieder vereinigten, so als wäre er nie da gewesen.
Der Schatten zog weiter.
Er hielt direkt auf eine schmale Tür zu, die neben der Bar, in der fahlen Dunkelheit lag, dort, wo selbst grelle Neon- und Stroboskoplichter der nahen Tanzfläche diese nicht vertreiben konnten. Zwei große, schwarz gekleidete Gestalten schälten sich aus der Finsternis, als der Schatten auf die Tür zutrat. Sie trugen dunkle Sonnenbrillen und hatten die massigen Hände vor dem Schritt verschränkt.
Sie sahen den Schatten nicht, als er die Hand ausstreckte, um die Tür zu öffnen, doch der Hund neben ihnen tat es und knurrte.
Der Schatten hielt inne und die beiden Männer bemerkten ihn, zuckten zurück vor Schreck, fassten sich aber im selben Herzschlag wieder und musterten ihn durch ihre dunklen Brillen. Der Hund knurrte weiter.
»Dämonenbrut«, nuschelte der eine von ihnen und trat auf den Schatten zu.
Der Schatten legte den Kopf schief und beobachtete den näher kommenden Mann mit seinen hellen Augen.
»Es ist gut, Karak«, flüsterte eine Stimme. Die Tür war einen Spalt aufgeschlagen und durch die schmale Öffnung drang gelbliches Licht und süßlicher Geruch.
Der große Mann in schwarz hielt augenblicklich in seiner Bewegung inne und trat wieder zurück auf seinen alten Platz, starr und regungslos wie vorhin.
Und der Schatten trat durch die Tür.
Sie trug viele Namen, die meisten davon waren sehr schön.
Doch da, wo sie herkam, nannte man sie Gara.
Sie hatte makellose Haut, in der Farbe von Bronze, von der Farbe frischer Milch, ihre Hände konnten zart und rosafarben sein oder dunkel und braun wie frisch gemahlener Kaffee, ihre Augen funkelten im grellen Himmelblau eines Saphirs bis hin zum Weinrot eines Rubins, ihre Haare waren lockig oder glatt, lang oder kurz, manchmal trug sie Kleider aus feinster Seide, manchmal Leder, das schwarz und traurig schimmerte. Sie hatte lange, spitze oder kleine, runde Ohren, eine gespaltene Zunge und manchmal sogar zwei.
Sie konnte alles sein, was man sich wünschte, denn die Augen sehen nur, was der Geist sie sehen lässt.
Sie stand in einer der vielen Türen in den schummrigen, engen Gängen von Meister Glims Hallen und wartete, in ihrer Hand eine langstielige Zigarette, deren Duft süßlich-betörend war.
Irgendwo aus dem Inneren der vielen Flure, Gänge und Zimmer, drang zarte Musik, ein Zupfinstrument, nur ganz leise und Gara musste den Atem anhalten, sie zu hören.
Schritte im Gang. Gara versteckte schnell die Zigarette und wartete.
Meister Glim kam um die Ecke, seine kleine, gedrungene Gestalt in eine weite, bestickte Robe gehüllt, die kleinen Beinchen in Leinen gewickelt. Sein Bart war lang, aber gepflegt, sein Haar zu vielen Zöpfen geflochten. Umgeben von einer roten Wolke aus Wärme.
»Hier entlang«, sagte er und Gara erblickte seinen Gast.
Ein großer, dünner Mann, der vor allem eines war: grau.
Grau war sein Geruch, grau war sein Gewand, grau sein Gesicht, grau seine Augen, grau seine Seele, als Gara sich anschickte, diese zu berühren, da spürte sie nur Kälte. Und etwas Undurchdringliches, wie eine Barriere aus Stein, die sie mit ihren feinen Fühlern nicht durchdringen konnte.
Meister Glim ging an ihr vorbei und strich ihr mit seinen beringten, rot umwölkten Fingern kurz über das Kinn, doch Gara hatte keine Augen für ihn, sondern nur für den Fremden.
Dieser musterte sie und sein durchdringender Blick traf sie wie eine Ohrfeige. Sie trat zurück in ihr Zimmer und schloss die Tür. Sie ließ sich auf ihr Bett sinken und vergrub sich in den Kissen.
Lange war es her, dass sie aus dem Reich jenseits des Wassers hierher gekommen war, in diese Welt, in die Hallen von Meister Glim.
Niemals hatte jemand ihre wahre Gestalt erblickt.
Bis heute.
Glim führte den Schatten in sein Büro, das im Zentrum des großen Gebäudes lag, weit unter der Erde, dort, wo Glim sich am wohlsten fühlte. Er mochte das schummrige Licht dort unten. Und wie jeder echte Zwerg fühlte er sich der Erde nur dann besonders verbunden, wenn sie über und um ihn war.
Glim ließ sich in seinen mit Leder gepolsterten Sessel hinter dem Eichenschreibtisch fallen und lächelte gewinnend.
»Nimm doch Platz«, bat er den Schatten. »Karak vorhin hat das nicht so gemeint. Er kennt dich nicht.«
»Du hattest keine Oger, das letzte Mal, als ich hier war.«
»Nein«, gab Glim zu. »Die Oger am Eingang sind neu. Aber sie sind zuverlässig, stellen keine Fragen und arbeiten billig.«
»Du wusstest, dass ich kommen würde, nicht?«
»Ein paar Kobolde vom Flughafen haben es mir geflüstert«, gab Glim zu. Eines der sechs Telefone auf seinem Tisch klingelte. Glim warf einen Blick auf das Display und winkte ab. »Immer diese lästigen Bittsteller«, grummelte er.
»Ich bin hier, um etwas zu erfahren«, sagte der Schatten.
»Nur zu, wenn ich dir helfen kann, dann werde ich es tun.«
»Es geht um diese Brände.«
»Mhm, nichts Besorgniserregendes.«
»Weißt du, wer dahinter steckt?«
Glim kratze seinen üppigen Bart und goss aus einer tönernen Karaffe eine goldene Flüssigkeit in ein Glas. Er nahm einen kleinen Schluck.
»Man hört verschiedene Dinge«, sagte er. »Genau kann ich dir das auch nicht sagen.«
»Ein Dämon?«
Glim lachte. »Nein, kein Dämon. Vielleicht ein Feuerelementar. Nicht mehr. Harmlos.«
»Das ist mir egal.«
Glim nickte und vermied es, dem Schatten ins Gesicht zu sehen. »Ein harmloses, kleines Geschöpf, das sich in dieser Welt nicht zurechtfindet. Kein Dämon.«
»Glim.«
Glim nickte schwer.
»Ich kenne jemanden, der dir vielleicht helfen könnte.«
»Wer?«
»Michael.«
»Mhm, ich traf ihn einst. Ist er noch auf Erden?«
»Er war nie weg.«
»Gut, dann werde ich ihn aufsuchen. Ich danke dir, Glim.«
»Ja.«
Der Schatten war verschwunden.
Glim nahm einen Schluck von dem Bier. Es war schon einige Jahre alt, war in den Hallen seiner Ahnen gebraut worden und normalerweise schmeckte es ganz ausgezeichnet.
Das Telefon klingelte erneut.
Glim hörte es nicht.
Lange war es her, dass er ein Abkommen mit dem Schatten geschlossen hatte. Manchmal war er froh darüber.
Nicht heute.
»Was muss man eigentlich tun, um hier etwas zu trinken zu bekommen?«, dröhnte Michael und schob sein leeres Glas über die Theke.
»Schon gut, schon gut«, murmelte der Barkeeper und goss Wodka in das leere Glas.
»Na also«, sagte Michael und leerte das Glas in einem Schluck.
Er rutschte unruhig auf seinem Barhocker hin und her. Langsam drehte er den Kopf nach hinten.
»Was willst du?«, fragte er den Schatten.
»Es geht um eines der Geschöpfe, für die du die Verantwortung hast«, erklärte der Schatten.
Michael drehte sich wieder um und spürte den unangenehmen Blick des Schattens im Rücken.
»Ich habe keine Verantwortung - für niemanden«, murrte er.
»Sag mir, wo er ist«, forderte der Schatten.
Michael schloss die Augen. Er wünschte sich, nüchtern zu sein. Langsam stand er auf und streckte die gewaltigen Flügel.
Die Gäste der Bar und der Barkeeper bemerkten nichts davon. Sie arbeiteten weiter, ungerührt.
Langsam drehte Michael sich um, sein flammendes Schwert in der Hand.
»Mit deinen Feuerspielchen kannst du Menschen beeindrucken, nicht mich«, sagte der Schatten. »Sag mir, wo das Geschöpf ist, das ich suche, oder ich nehme mir, was ich will.«
»Ich bin betrunken genug, es darauf ankommen zu lassen«, sagte Michael und grinste.
Er schoss auf den Schatten zu, das Flammenschwert surrte durch die Luft, als es den Körper des Schattens traf, glitt es durch ihn hindurch, als wäre da nichts.
Michael starrte den Schatten etwas verdutzt an, hieb aber ein zweites Mal zu, durchschnitt den Schatten von Kopf bis Fuß, aber wieder: nichts.
»Genug?«, fragte der Schatten.
Michael ließ sein Schwert sinken.
»Ich bin dran«, sagte der Schatten.
Die Flügel fühlten sich warm an, als der Schatten Michael aus der Bar zerrte. Er schleifte ihn in eine der Gassen neben der Kneipe und nahm ihm das Flammenschwert aus der Hand.
Er setzte es an die Flügel und die milchweißen, glänzenden Federn begannen zu verbrennen, wurden schwarz, schrumpften. Michael schrie.
»Nein, nein«, winselte er. »Nicht ... nicht ... meine Flügel ... bitte ... nicht die Flügel.«
»Wo?«, sagte der Schatten.
»Nicht ... die Flügel ... bitte.«
»Wo?«
Neu. Alles neu - so neu.
Flammen. Flammen. Flammen.
Feuer.
Der Elementar gebar sich selbst aus dem Feuer.
Feuer. Feuer.
Der Elementar streckte seine Fühler aus. Holz brannte, wurde von ihm verzehrt. Er kostete die Erinnerungen, die darin waren, saugte die Ruhe und Stille auf, die darin war, kostete von der uralten Seele der Pflanze, aus der das Holz gewonnen worden war, spürte das Wissen, das Leben, das darin gewesen war.
Dies war anders als das ewige Feuer, das er kannte.
Erneut leckte er am Holz, berauschte sich an dem Gefühl, leckte weiter, mehr, mehr.
Mehr. Neu.
»Hallo.«
Ja? Ja? Wer bist du? Du ... bist kein Feuer? Brennst nicht?
»Ich bin gekommen, um dich zu vernichten«, sagte der Schatten.
Warum, Wesen-aus-nicht-Feuer?
»Weil man es mir auftrug.«
Der Schatten trat durch die Flammen.
»Ah, da sind Sie ja wieder.«
Der alte Mann lächelte, um die Angst zu überspielen. Die Deckenlichter waren an. Der alte Mann hatte Angst vor der Dunkelheit.
»Ja, ich bin hier«, sagte der Schatten.
»Waren Sie erfolgreich?« Der alte Mann räusperte sich.
»Das war ich.«
»Dann ist mein Problem beseitigt?«
»Ja. Mein Geld?«
»In bar, richtig?«
Glim betrat sein Büro und wusste sofort, dass etwas anders war.
Auf seinem Schreibtisch war ein kleiner Kasten aufgebahrt.
Glim ging vorsichtig näher. Es war eine kleine Holzkiste, reich verziert mit unzähligen Symbolen. Sanft strich der Zwerg mit seinen kleinen, rauen Fingern über das Holz.
Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen.
Er nahm ein Telefon zur Hand und wählte eine Nummer. Nach einer Weile hob jemand am anderen Ende ab.
»Horb?«
»Glim? Alter Steinbeißer, wie geht es dir?«
»Man klagt nicht, man klagt nicht, Horb. Wie geht es der Frau?«
»Ihr Bart wird langsam länger als meiner.«
»Hört man gern«, sagte Glim.
»Ich hab gehört, du lässt nun auch Menschen in deine Hallen?«
»Aber nur in abgetrennten Räumen, Horb.«
»Dachte ich mir schon, aber trotzdem ziemlich gewagt.«
»Mit keiner anderen Spezies kann man so viel verdienen. Seit die Elfen nicht mehr so häufig kommen ... Eine Frage, Horb.«
»Ich wusste, dass du dich nicht nur nach dem Wohlbefinden, meiner Frau erkundigen wolltest, du alter Gauner.«
»Ich bin so durchschaubar, nicht? Horb, hast du noch diese Müllverbrennungsanlage?«
»Ja, natürlich, als ob du das nicht wüsstest.«
»Wie viel wäre dir ein Feuerelementar wert, Horb?« Wieder strich Glim beinahe zärtlich über die dunkle Kiste auf seinem Schreibtisch. »Ich könnte dir da nämlich ein Angebot machen, dem du nicht widerstehen kannst ...«