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Der Schaukelthron
Bestimmt hast du dir schon einmal gewünscht, ein König oder eine Königin zu sein. Du denkst sicher, Könige seien immer glücklich, weil sie alles besitzen, was man sich nur wünschen kann, und weil alle Leute tun müssen, was sie sagen.
Nun, ganz so einfach ist die Sache nicht. Heute erzähle ich dir die Geschichte von einem König, der unglücklich war.
Dieser König regierte sein Reich schon seit vielen Jahren. Tagein, tagaus saß er auf seinem großen, hölzernen Thron. Der Thron stand am Ende eines langen, prachtvollen Saales. Dort empfing der König von morgens bis abends Leute, die etwas mit ihm besprechen wollten.
Manche baten den König um Hilfe, weil sie arm waren und die Miete für ihre Wohnung nicht bezahlen konnten. Denen ließ der König, der ein guter Mensch war, Geld aus seiner Schatzkammer geben.
Andere Leute beschwerten sich über die Steuern, die sie zahlen sollten. Der König versprach, daß die Steuern weniger werden würden.
Die Berater des Königs klagten, daß nicht mehr genug Geld in der Schatzkammer sei. Sie schlugen auch ständig neue Gesetze vor, die der König erlassen sollte. Und immer gab es irgend etwas, um das sich der König kümmern mußte.
Manchmal hatte er das Gefühl, daß niemand in seinem ganzen Reich etwas ohne ihn tun könne. Aber er beschwerte sich nicht darüber, denn er war ja der König, und alle diese Dinge gehören zu den Aufgaben eines Königs.
Nein, beschweren tat er sich nicht. Aber unglücklich war er. Wie gerne hätte er einmal etwas getan, das Spaß machte! Leider blieb ihm dazu überhaupt keine Zeit.
So ging es sehr lange weiter. Die Berater des Königs merkten natürlich, wie unglücklich er war. Doch sie kannten nicht den Grund dafür. Und sie wagten nicht, danach zu fragen.
Sie begannen, das Land nach Menschen abzusuchen, die glücklich waren.
Der glücklichste Mensch, den sie fanden, war ein kleiner Junge namens Florian. Also brachten sie Florian – oder Floh, wie alle seine Freunde ihn nannten – zum König.
„Majestät“, sagte einer der Berater zum König, „dieser Junge ist der glücklichste Mensch in Ihrem Reich. Das sagen alle, die ihn kennen. Den ganzen Tag über lacht er und ist fröhlich.“
Tatsächlich lächelte Floh den König so fröhlich an, daß diesem ganz warm ums Herz wurde.
Der Berater wandte sich an Floh: „Verrate dem König, was dich glücklich macht!“
Floh dachte darüber nach. Schließlich sagte er: „Keine Ahnung. Ich tu’ einfach immer, wozu ich gerade Lust hab’.“
„Tja“, seufzte der König laut, „als König kann man das leider nicht. Erzähl’ uns trotzdem, was das so für Sachen sind, die du tust.“
„Also, meistens spiele ich natürlich draußen. Mit meinen Freunden. Aber ich kann mich auch alleine beschäftigen! Zum Beispiel mit meiner Eisenbahn. Oder ich hör’ mir Kinderlieder an. Oder guck’ Bücher an.“
Traurig schüttelte der König den Kopf.
„Alles das kann ich nicht tun“, erklärte er. „Ich muß ja ständig auf dem Thron sitzen und mit irgendwelchen Leuten reden.“
Da hatte Floh plötzlich eine Idee. Seine Augen leuchteten richtig, und er grinste beinahe von einem Ohr bis zum anderen.
Flink hüpfte er die drei Stufen hinauf, die zum Thron emporführten.
Er sagte: „Was ich eigentlich am liebsten mache, ist...“
Doch er beugte sich etwas heran und flüsterte dem König ins Ohr.
Dem König schien die Idee zu gefallen. Er nickte. Dann grinste er ebenfalls. Und schließlich klatschte er vor Vergnügen sogar in die Hände.
Bald darauf wunderten sich die Menschen im Palast gewaltig. Denn der König ließ einen Handwerker kommen. Der mußte unter dem Thron hölzerne Kufen anbringen. Der Thron sah jetzt aus wie ein riesiger Schaukelstuhl – und eigentlich war er das auch.
Floh hatte dem König nämlich erzählt, wie gerne er auf seinem Schaukelpferd ritt, wenn er alleine war. Und der König hatte eingesehen, daß er das auch tun konnte. Es würde ihn nicht von seinen Aufgaben als König abhalten.
Aber es würde sehr, sehr viel Spaß machen.
Von diesem Tag an war der König wieder glücklich. Die Menschen sagten, er sei der beste König, der je dieses Reich regiert habe. Wenn er auch etwas wunderlich sei.
Denn den ganzen Tag über, während er Leute empfing und mit ihnen sprach und Gesetze erließ, schaukelte er.
Manchmal schaukelte er langsam und nachdenklich.
Manchmal, wenn er sich ärgerte, schaukelte er etwas heftiger.
Aber meistens schaukelte er wild und vergnügt. Er schaukelte so wild, daß seine Berater fürchteten, der Thron würde umkippen. Doch der König amüsierte sich dabei prächtig.
Zum Dank für seinen großartigen Einfall durfte Floh den König besuchen, wann immer er wollte. Gelegentlich sah er ihm beim Regieren zu.
Der König ließ für Floh auch ein eigenes Spielzimmer im Palast einrichten. Dort konnte Floh mit den herrlichsten Spielsachen spielen. Oft brachte er seine Freunde mit.
Und manchmal – ganz selten nur -, wenn der König etwas weniger zu tun hatte, besuchte er Floh und seine Freunde im Spielzimmer. Die Arbeit ließ er dann einfach für eine halbe Stunde liegen. Er hatte nämlich herausgefunden, daß Spaß noch viel wichtiger ist, als er gedacht hatte.
Selbst für einen König.