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Der Seelensammler
Der Seelensammler
„Ja, ich werde mit ihr reisen,
werde ihr den Weg ins Reich der Toten weisen,
werde ihr Schatten sein und Licht,
werde sie begleiten,
so wie es seit Anbeginn meine Pflicht“
Wie jeher sage ich diese Worte wie eine Formel als Antwort auf den Ruf, der mich ereilt – in manchen Zeiten häufiger, an manchen Orten seltener.
Zu jener Zeit, an jenem Ort war es das erste Mal, dass ich den Ruf in meinem Inneren vernahm, zuerst nur leise, dann immer lauter. Und wie all die anderen Male antwortete ich mit diesen Worten, an die ich und meine Art gebunden sind.
Dann fühlte ich auch schon, wie es mich hinfort zog – weit hinweg über die karge Einöde an deren Rand ich mich auf einem abgestorbenen Baum niedergelassen hatte. Ich breitete meine glänzendschwarzen Schwingen aus und stieg leise in den dunklen Himmel dieser Nacht auf, glitt durch die Stille, während in mir der Ruf zu einem Schrei unendlichen Leidens wurde.
Unter den wachenden Augen der Sterne veränderte sich nach und nach meine Sicht, mein Flug ging blind weiter, während sich in mir die Bilder malten, deren Anblick mich immer wieder aufs Neue fröstelnd machten, trotz meines Alters.
Sie war schon fast dahingegangen, blass war ihr Antlitz, ihre Arme hingen schlaff zur Seite und dort, wo sie ihr blütenweißes Kleid berührten, dass ihren schmalen Körper sanft umspielte, war der Stoff dunkelrot verfärbt. Ihre Augen standen offen, blau strahlten sie, ohne Ausdruck – ohne Blick, und doch schien eine Träne sie zu verlassen – Reue? Glück?
Ihr Mund war nicht zu erkennen, verborgen unter dunklen Haarsträhnen, die ihr wirr ins bleiche Gesicht fielen. Wie jung mochte sie sein?
Ich brauchte mich nicht zu eilen, jene, die sich durch die eigene Hand von der Welt nahmen, werden nicht dort erwartet, wo die bunten Farben aus reinem Licht entstehen. Sie sind die Verlorenen, ihr Weg führt nicht so weit, ihre Seele führe ich in das Reich, wo die Nacht ewig weilt und kein Mond, kein Stern den Weg mehr weist.
Sie lag auf einer Steinplatte, inmitten einer Allee, deren Verlauf zu einem alten Haus führte, der Eingang vergittert durch ein mächtiges Tor. Führten ihre Schritte dorthin oder kam sie dorther als ihr Leben zu Ende ging?
Über ihr, um sie herum war alles schwarz, der Mond barg sein Antlitz, verdeckte seine Sicht mit einem schwarzen Wolkentrauerschleier. Und wie auch dort, wohin ich sie bringen musste, durchbrach kein Sternenglitzern das Schwarz.
Ich kam näher, kündigte mein Kommen mit jenem rauen Schreien an, das gefürchtet war von denen, die mich lebensfroh und todesängstlich verfluchten.
Aus der Dunkelheit um ihren Körper stieg jedoch als Antwort ein leuchtender Hauch auf, stieg höher und höher, bis er knapp einen Meter über ihr schwebte.
Dies war der Moment, an dem ich auf dem Ast, der über ihr auf dem Weg ragte, landete.
Wieder öffnete ich meinen silbergrauen Schnabel, wieder stieß ich meinen Ruf aus, und der Hauch breitete sich über ihren ganzen leblosen Körper aus, sank auf sie herab, hob sie hoch und ließ sie für einen Moment schweben, dann glitt ihr Leichnam wieder zu Boden, die Augen schlossen sich. Doch neben ihrem Körper stand sie – die bleichdurchscheinende Silhouette ihres Körpers – ihre Seele.
Ihre Augen, aus demselben Blau wie die ihres irdischen Körpers, blickten sich suchend um, bis sie mich entdeckten. Ihre bläulich schimmernden Lippen verformten sich zu einem Lächeln.
„Du bist mein Begleiter.“, sagte sie tonlos.
Ich neigte den Kopf zur Seite, zum Zeichen der Zustimmung. Sie blickte auf ihren toten Körper.
„Bist du der Tod?“
Ich ließ ein Krächzen vernehmen. Sie nickte verständnisvoll, verstand das ich nicht der Tod, nur sein Seelensammler war.
„Wohin bringst du mich?“
Ich öffnete meinen Schnabel und sagte, diesmal in menschlicher Sprache:
„In die Schatten, in die mondlose Nacht, dorthin wo all die kommen, die der Dunkelheit des Lebens nicht verzeihen konnten, sich selber aus ihm nahmen und die nun darauf warten müssen, dass ihnen ihre Welt, die die sie verließen, verzeihen. Erst dann geht die Reise dorthin, wo kein Traum je zerbricht.“
Sie senkte den Kopf.
„So wirst auch du nicht mein Befreier sein, ebenso wenig wie der Tod selbst es war.“
Ich sah wie aus ihrem Auge eine glitzernde Perle rann – die einzige Träne, die eine verlorene Seele weinen konnte.
Ich krächzte, mir war nicht erlaubt mehr in ihrer Sprache zu sprechen, doch wieder wusste sie meinen Ruf zu deuten und fing die Perle in der hohlen Hand auf.
„Ich werde sie behalten“ sagte sie. Ihre Hand suchte einen Spalt im Kleid, eine kleine Rocktasche im durchscheinenden Stoff. Sie ließ die gläserne Träne hineinfallen.
Sie würde ihr dort ein Licht sein, wie ein Stern der ihr leuchtet, dort in den Schatten, in der lichtlosen Ewigkeit. Auch wenn sie es jetzt noch nicht wusste, ich durfte es ihr nicht sagen, doch sie würde es herausfinden.
Noch einmal sah sie sich um, dann suchte ihr Blick wieder mich.
„Ich bin bereit“, sagte sie.
Ich ließ meinen krächzenden Ruf wieder über das Land hallen, und ihr schemenhafter Körper nahm die Gestalt meines Schattens an, heftete sich an mich.
Ich breitete meine Flügel aus, der aufgetauchte Mond schien auf mein samtschwarzes Gefieder, sein Licht fiel auf meinen silbrig schimmernden Schatten, ihr Antlitz.
Dann flogen wir los, glitten über die knorrigen Bäume und die moosigen Dachgiebel, immer weiter, bis wir den Horizont erreichten. Noch einmal wandte ich den Kopf um, ließ mich und meinen Schatten die Welt betrachten, ehe wir die Grenze überquerten und in die Schatten eintauchten, die ihr Reich werden würden.
Wie es meine Art war, flog ich tief mit ihr hinein, fast bis zur Grenze des wahren Lichtes, das nur für meine Augen sichtbar war. Und doch – sie würde den Weg schneller finden, wenn ihr ihre Welt vergeben hatte.
Ich krächzte und mein Schatten nahm wieder seine wahre Gestalt, ihre Seele an. Sie sank herab, und in dem schwarzen Nichts tauchte ein Baum auf, vereinzelt verwelkte Blätter bewegten sich in einem herkunftslosen Luftzug und zu seinen Wurzeln lag ein moosgrauer Teppich, der ihn weit umrundete, ein geisterhafter Ort, der zu ihrer Insel wurde. Jede Seele hat ihren Fleck, selbst die, die als verloren galten.
Ich verharrte noch einen Moment, krächzte ein letztes Mal und ließ so eine Laterne entstehen, die sich quietschend an einem der Äste bewegte. Für ihre Träne, ihr Licht.
Dann flog ich zurück, bereit auf einen neuen Ruf zu warten und wieder mit den mir gegebenen Worten zu antworten:
„Ja, ich werde mit ihr reisen,
werde ihr den Weg ins Reich der Toten weisen,
werde ihr Schatten sein und Licht,
werde sie begleiten,
so wie es seit Anbeginn meine Pflicht.“