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Der Seiltänzer
Ich stehe auf dem kleinen Podest, an dem das Seil auf meiner Seite befestigt ist, und setze langsam meinen rechten Fuß auf diesen dünnen, mich vor dem Absturz bewahrenden Faden. Das Seil ist über einem tiefen Abgrund gespannt, so tief, dass der Boden des Abgrundes auch von ebener Erde nicht mehr zu sehen ist. Doch ich wollte das Seil noch etwas erhöhen und ließ es an diese Podeste knüpfen. Dem Publikum hätte ein Seiltanz über den Abgrund allein sicherlich gereicht, doch ich wollte meinen persönlichen Rekord aufstellen und die Distanz zum harten, steinigen, todbringenden Boden noch vergrößern und so mein Kunststück gefährlicher gestalten.
Ein wenig unsicher bin ich schon beim Betreten des Seils, immerhin weiß ich nicht, wer es auf der anderen Seite des Abgrundes befestigt hat und ob es überhaupt sicher befestigt ist. Ich kann auch unmöglich bis zur anderen Seite hinüberblicken, um so die Stabilität der Konstruktion wenigstens aus der Ferne zu prüfen. Zu groß ist der Abgrund, zu weit der Weg bis zur gegenüberliegenden Seite und zu grau ist die Witterung heute, um in die Ferne blicken zu können. Es scheint mir auch so, als würde ich das erhoffte Podest erst kurz vor dem Ziele überhaupt erblicken können.
Ich stehe nun mit beiden Füßen auf dem Seil und habe mich schon ein beträchtliches Stück vorgewagt, doch habe ich nicht einmal die Hälfte meines Weges bewältigt. Da mir der Orientierungspunkt nach vorn fehlt, schaue ich verunsichert in die Tiefe, doch sehe den Boden natürlich nicht. Ist es der Nebel im Abgrund der die Sicht versperrt oder ist das Seil zu hoch gespannt, so dass es auch mit den besten Augen nicht möglich wäre den Boden zu erblicken? Ich weiß es nicht und richte meinen Blick, um dem Schwindelgefühl zu entgehen, nach oben.
Die Sterne funkeln zwischen der Wolkendecke hindurch und der Mond strahlt sein kühles Licht auf den kleinen, mutigen Seiltänzer. Sie sind schön diese Sterne, doch noch immer sehr weit entfernt, obwohl das Seil schon sehr hoch gespannt ist.