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Der sichere Staat
Der kleine Junge läuft ihm entgegen.
"Papa! Papa!"
Noch hat er seinen Schlafanzug an. Den blauen. Schließlich ist Dienstag.
`Und Morgen ist es der rote. Am Donnerstag der gelbe`,
denkt der Mann.
Er lächelt. Muss sich dazu zwingen. Die Freude seines Sohnes macht ihn traurig.
"Heute werd ich erwachsen, Papa!", ruft der Junge.
´Wie viele andere zwölfjährige Kinder auch`,
denkt der Mann resigniert.
Er geht in die Knie. Breitet seine Arme aus und fängt den zwölfjährigen ab. Steht auf. Drück ihn an sich. Dreht sich im Kreis.
Der Kleine quiekt vergnügt.
"Ja. Heute wirst du erwachsen", murmelt der Vater leise.
`Diese Schweine. Mein armer Schatz. Lebwohl.`
Dann setzt er ihn behutsam wieder auf den Boden. Laminat. Bodenheizung.
"Jetzt aber schnell. Sonst kommen wir zu spät", ruft die Mutter aus der Küche.
Der kleine Junge nimmt die große Hand seines Vaters. Zieht ihn durch den Flur in die Küche.
Die Frau sitzt fertig angezogen am runden Glastisch.
Verstohlen wischt sie sich eine Träne aus den Augenwinkeln.
´Dienstag. Ja. Und sie trägt den blauen Hosenanzug.`
Und in Gedanken sieht er auch sich schon den Blauen anziehen. Wie seine Nachbarn, seine Arbeitskollegen, sein Chef. Alle. Gemäß dem Grundsatz der Gleichheit.
Der Autokoch serviert die heutige Mahlzeit.
`Dienstag, Ja`
Er ist verbittert.
Den gleichen Nahrungsbrei aus Algenkonzentrat und Sojamehl wie jeden Dienstagmorgen. Dazu Fleischsurrogate. Geschmacksemulgatoren. Zwei Gläser Wasser für jeden.
Der Junge nimmt Platz. Der Vater auch.
Alle nehmen den Löffel in die Hand.
"Lasset uns beten", murmelt der Mann.
Seine Frau sieht ihn böse an und schüttelt den Kopf, blickt ihren Liebling an und sagt:
"Zuerst unsere Danksagung".
Das Radio piepst 7Uhr30. Offizielle Frühstückszeit. Der Fernseher springt an.
Das große gutmütige Gesicht des Präsidenten erscheint.
`Und er sieht aus, wie seit vierzig Jahren. Unverändert. Nicht gealtert. Wie ein großzügiger Vater`
Und obwohl etwas in ihm dieses Bild hasst, diese Autorität, die tägliche Angst vor ihr, das System, liebt er es doch auch. Er weiß warum.
`30 Jahre Konditionierung. Doch dass reichte nicht. Jetzt nehmt ihr uns auch unsere Kinder. zur Sicherheit aller.`
"Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger.", beginnt der Präsident.
"Lasst uns alle Dank sagen. Dank dafür, dass wir alle zu Essen haben. Dass es uns gut geht. Dass es keine bösen Terroristen, keine Gesetzlosen, keine Gefahr gibt. Sprecht mir nach, wenn ich uns allen dafür danke. Danke für ein Leben ohne Leid, denn ich tue was mein Staat von mir verlangt." Sie sprechen nach: "Danke für ein Leben ohne Leid, denn ich tue, was mein Staat von mir verlangt" Nur der Junge klingt vergnügt dabei.
`Nicht zu den Kameras sehen`
,denkt der Mann und zwingt sich den Präsidenten im Fernsehen fröhlich anzulächeln.
"Danke für ein Leben ohne Gefahr, denn mein Staat schützt mich vor Terroristen", die Fernsehstimme wird eindringlicher. Irgendwie suggestiv.
"Danke für ein Leben ohne Gefahr, denn mein Staat schützt mich vor Terroristen"
Er sich der Manipulation bewusst - und der Tatsache, dass er diesem Mantra glaubt. Er wiederholt es seit 40 Jahren.
Nach einigen Danksagungen sollte das Gesicht verschwinden, der Fernseher ausblenden. Doch heute nicht. Heute ist der Männertag.
"Heute wird für alle die Frühstückszeit um eine halbe Stunde verlängert. Wir alle wissen, dass dieser Tag ein besonderer Tag ist. Ein Feiertag. Sie müssen nicht zur Arbeit, und ihr liebe Kinder: nicht zu Schule! Heute werden viele von uns Erwachsen." Und seine Betonung zeigt deutlich, dass das eine große Ehre ist.
"Ja - und ihr könnt stolz auf euch sein. Heute Abend schon, seit ihr vollwertige Mitglieder unseres Staates. Seid groß wie Mama und Papa. Dürft arbeiten wie die Grossen. Wählen wie die Grossen, und Mama und Papa dürfen euch nicht mehr schimpfen! Und wenn sie es einmal vergessen und euch falsche Dinge sagen, über andere Schlechtes reden oder nicht ihre Arbeit tun wollen; dann sagt ihnen, dass ihr jetzt erwachsen seid - und es eurem Lehrer melden müsst!"
Der kleine Junge strahlt lächelnd seinen Vater an.
"So groß wie Du!", gluckst er.
Das Bild verschwindet. Schweigend verzehrt der Mann, dass ihm zugedachte Frühstück.
Nachher muss er seinen Sohn in das Institut bringen.
Wo sie einen Mann aus ihm machen.
Wo sie die 12jährigen in helle Säle voll fröhlicher Musik bringen.
Wo sie einen nach dem anderen zur Behandlung holen.
Ihnen eine "Grosmachspritze" geben.
Den betäubten Kinder den Schädel öffnen und an ihrem Gehirn operieren.
Sie zu voll funktionierenden, braven, ja-sagenden Bürgern dieses Systems machen.
Keine Gewalt.
Keine Kriminalität.
Keine Individualität.
Keine Abweichler.
Kein Terror.
Keine eigene Meinung.
Keinen Sohn mehr.
Der Mann weint. Tränenlos. Die Kameras surren leise und zufrieden. Übertragen an die Verwaltungen. Zeichnen auf. Überwachen.
In Millionen Haushalten gleichzeitig die gleiche Szene.