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Der silberne Engel
Vor ihm kniete ein Engel.
Er hielt den Kopf gesenkt, seine Finger tanzten spielerisch über den leblosen Körper seiner Mutter. Das Blut benetzte seine Haut, vergänglich. Ganz anders als die silbernen Federn des Engels, die in schier endloser Anzahl den Boden bedeckten. Sie leuchteten in der Dunkelheit, ein Funke göttlichen Lichts gefangen an einem Schauplatz des Grauens.
Nobu schenkte den silbernen Federn keinen einzigen Gedanken. Seit dem Tod seiner Mutter waren fünfzehn Jahre vergangen und noch immer tauchten die Federn überall auf. Dass sie des Morgens in seinem Bett lagen, erschreckte ihn nach all der Zeit kaum noch.
Ein Blick auf die Wanduhr zeigte ihm, dass er zu spät war und darum zog er sich nur schnell die abgenutzten Schuhe über seine dreckigen Füße, bevor er eilig die Treppe hinunter stürzte. Das Laternenfest war ein besonderes Fest. Sicher waren schon alle in Feierlaune und Nobu hatte nicht vor, sie ihnen mit seinen alten Geschichten zu verderben. Nach fünfzehn Jahren sorgte sich kaum noch jemand um ihn. Irgendwann einmal hatte jemand seine Eltern getötet, na und? Das Mitgefühl der Menschen war vergänglich. Irgendwann musste man mit Verlusten leben lernen und Nobu hatte es getan.
Es war Nacht, als er den Dorfplatz betrat und doch war alles hell beleuchtet. Nobu kam es vor wie ein Wachtraum. Überall saßen Menschen, deren Gesichter er nicht erkannte. Er hörte nur, wie sie sangen und tanzten und er sah, wie sie aßen und tranken. Nobus Bewegungen wurden mechanisch, als er auf eine Kindergärtnerin zutrat. Er wusste nicht, wieso er es tat, aber es kam ihm richtig vor. Dass er auch ihr Gesicht nicht sah, fiel ihm kaum auf. Er nahm nur wortlos den Zettel entgegen, den sie ihm in die Hand drückte und las ihn nicht durch. Nobu kannte seine Aufgabe und trotzdem ängstigte sie ihn. Alleine der Gedanke, mit den Kindern in den Wald zu gehen, sorgte dafür, dass seine Eingeweide sich zusammenzogen. Es war wie eine Vorahnung von etwas, dass bereits passiert war und irgendwie war ihm, als würde es immer wieder passieren. Jahr für Jahr, am immergleichen Tag.
Als Nobu auf eine kleine Kindergruppe zutrat, zwang er sich, seine Anspannung zu überspielen. Zumindest die Kinder hatten einen schönen Tag verdient. Den letzten, ging es ihm durch den Kopf, doch er verdrängte den Gedanken schnell wieder und musterte sie stattdessen. Kurz überlegte er, ihnen von der eigentlichen Tradition des Laternenfests zu erzählen, aber der Zusammenhalt sowie das Licht - all das schien ihm lächerlich weit entfernt und so sehr er auch versuchte, darüber zu sprechen, er schaffte es nicht. Ihm war, als stünde er alleine in einem Dorf, als ein Außensteher, betreut mit einer Aufgabe, der er nicht gewachsen war.
Die Worte, mit denen er die Kinder letztlich ansprach, schienen ihm vorgegeben zu sein. Das Lächeln, das sich dabei auf seinen Lippen formte, tat dies ohne sein zutun. „Jetzt nimmt sich jeder eine Laterne.“ Seine Stimme fühlte sich fremd an, so als hätte er seit Monaten mit niemandem mehr gesprochen. „Einige von euch sind schon öfter dabei gewesen, aber die Regeln gelten für alle. Keiner entfernt sich von der Gruppe! Ihr könntet stolpern und euch verletzen und vor allem ...“ Nobus Blick fiel auf einen hochgewachsenen, blonden Jungen. Er wusste, dass er ihn kannte, doch so sehr er seinen Blick auf fokussierte, das Gesicht des Jungen blieb verschwommen. „...dürfen wir die Sache vom letzten Jahr nicht wiederholen, ist das klar.“
„Ja, ja“, sagte der Junge und so wie sein Gesicht ihm nicht bekannt vorkam, klang auch die Stimme seltsam fremd. Wie eine verlorene Erinnerung oder eine Vision. Der Junge marschierte mit den restlichen Kindern voraus in den Wald und Nobu folgte ihnen, ohne es weiter zu hinterfragen. Gemeinsam stapften sie den abgesicherten Pfad entlang. Hier kann ihnen gar nichts passieren, sagte Nobu sich wieder und wieder, als die Unruhe in ihm weiter anwuchs. Am Vortag erst war er mit einigen Dorfbewohnern den meterhohen Stacheldrahtzaun abgegangen, der das Waldstück von wilden Tieren und umherstreifenden Banditen schützte und trotzdem stutzte er. Noch bevor er den Blick über den Zaun schweifen ließ, wusste er um das mannsgroße Loch, das in ihn gerissen worden war.
„Was ist los?“, fragte eines der Kinder. Nobu sagte nichts, er strich nur mit der Hand über die losen Drahtfäden, als er im Schein seiner Laterne etwas glitzern sah. Eine einzelne Feder. „Silber“, murmelte er mehr zu sich selbst. Hinter ihm tuschelten die Kinder und einige begannen zu weinen. Nobu wollte sie beruhigen, als eines der Mädchen auf eine Stelle im Dunkeln deutete. Er kniff die Augen zusammen, um etwas auszumachen, aber er hatte sich zu sehr an das Licht der Laternen gewöhnt. „Kommt hinter mich!“, rief er den Kindern zu.
Allmählich erkannte Nobu die Gestalt eines Mannes. Er hatte merkwürdiges Haar. Zwar kannte Nobu Leute, die sich die Haare grün, pink oder lila färbten, aber die veilchenblauen Haare des Mannes leuchteten, wie phosphoreszierende Spielzeuge es im Dunkeln taten. Die smaragdgrünen Augen blitzten Nobu feindselig entgegen.
„Geht zurück ins Dorf!“, befahl Nobu den Kindern, aber sie rührten sich nicht.
„Wie lange willst du dieses Spiel noch spielen?“ Das aggressive Grollen ließ Nobu erstarren. Er wagte einen Blick auf den Mann. Er kam ihm nicht wie ein Bandit vor mit seiner roten Weste und der einfachen Jeans. Außerdem sah Nobu keine Waffen an ihm.
„Ich werde dir nichts tun“, sagte Nobu und hob die Hände. „Lass mich nur die Kinder ins Dorf schicken, dann können wir reden!“
„Die Kinder?“ Der Mann lachte. „Welche Kinder?“
Nobu wurde unruhiger. Er wollte sich umdrehen und nach den Kindern sehen, doch er wagte es nicht. „Was soll die Frage?“ Seine Stimme zitterte.
Der Mann nickte in Richtung der Kinder. „Vergewissere dich nur selbst“, sagte er. Nobu verharrte ein paar Sekunden an Ort und Stelle. Dann ganz langsam drehte er sich um und sah hinter sich nichts als die Dunkelheit des Waldes. „Fünfzehn Jahre ist es her“, sagte der Mann.
Nobu verstand es nicht, aber gleichzeitig wusste er es. Irgendwie hatte er es immer gewusst und als er sich an den Kopf fasste und zwei Schritte nach hinten trat, blitzten Bilder vor seinem geistigen Auge auf. Kleine Totenköpfe, verstreut im Wald, Knochen, verzehrt und verzerrt von wilden Tieren und überall waren silberne Federn, sie bedeckten den gesamten Waldboden. „Was hast du getan?“, keuchte er.
Der Mann neigte seinen Kopf. Eine gewisse Unzufriedenheit lag in seiner Mimik. „Siehst du es nicht?“
„Was hast du mit den Dorfbewohnern gemacht!“, schrie Nobu und als der Mann auf ihn zutrat, wich er vor ihm zurück. Doch gleichzeitig breitete er seine Arme aus. „Ich lasse dich nicht vorbei!“
„Was willst du noch beschützen, Nobu? Ist nicht schon alles verloren? Komm mit mir.“
Nobu graute, als die Jacke des Fremden sich immer mehr anspannte. Irgendetwas brach aus seinem Rücken, wuchs immer stärker an. Der Stoff der Jacke hielt dem Druck nicht stand und riss. Er gab den Blick frei auf zwei prächtige, silberne Flügel, die aus dem Rücken des Mannes ragten.
Nobu sackte in sich zusammen. Er spürte die Tränen in seinen Augenwinkeln, blinzelte sie weg und ließ zu, dass sie ihm über die Wangen rollten. „Bist du der Engel?“, fragte er hoffnungsvoll. „Hast du sie getötet? Bist du der Engel, der sie alle getötet hat?“
„Das wünscht du dir?“, fragte der Mann und als er seine Hand hob, blieb Nobu die Luft weg. Die Erinnerungen trafen ihn wie ein Fleischhammer, sie zerrissen das letzte Bisschen an Integrität, dass ihm geblieben war. „Wenn es so leichter ist, dann soll es so sein. Und jetzt komm, es ist an der Zeit.“
Nobus Tränen wurden zu Blut, als sie lautlos zu Boden tropften und die silbernen Federn rot färbten. Vor seinen Augen verschwamm das Bild und ließ nichts zurück, als ausdruckslose Dunkelheit.