Der Spaziergang
„Ich bitte sie, Danny! Ich bin nur ein halbwegs erfolgreicher Psychologe, der verzweifelt versucht sich selbst zu therapieren! Wie soll ich denn die Welt verbessern?“, sagte Abe zu seinem besten Freund, bei einem ihrer Spaziergänge.
Die Angewohnheit, sich zum spazieren gehen zu treffen, war sicher nicht die verbreitetste Methode sich zu verabreden, doch Abe und Danny waren Männer der alten Schule.
Und mit Sicherheit konnten sie sich auf diese Art und Weise von ihren Problemen erleichtern, auch wenn sie nur darüber sprachen. Man könnte sagen, sie teilten das, was sie beschäftigte, und das war die Essenz ihrer ewig währenden Freundschaft.
„Na ja, eigentlich kann doch jeder etwas zur Verbesserung der Welt beitragen, oder etwa nicht?“
„Theoretisch gesehen schon. Praktisch gesehen ist das ein Wunschdenken, dass die Menschen mit sich herumtragen, um nicht das Gefühl zu haben, sie seien all dem wahllos ausgesetzt.“
„Dein Pessimismus ist zum verzweifeln, Abe.“
„Danke.“
Die beiden Herren hatten nun den kleinen See nahe Trenchtown fast einmal umrundet.
„Mensch, ich brauch’ ne Pause!“, sagte Danny.
Sein Knie machte in letzter Zeit immer häufiger Beschwerden, und wenn er es nicht bald über sich bringen würde, den Orthopäden aufzusuchen, würde er in absehbarer Zeit einen Gehstock benutzen müssen.
„Wir können uns ja kurz dorthin setzen“, sagte Abe und zeigte auf eine Bank, von der aus man einen wunderschönen Blick auf den See hatte.
Weit waren sie nicht weg von Trenchtown, denn sie konnten die Kirchenglocken 16.00 schlagen hören, doch hier schien es, als seien sie in einer eigenen Welt.
Eine Art Paralleluniversum, in dem man seine Gedanken mit jemandem teilen konnte, der sie wirklich verstand.
Stöhnend setzte Danny sich auf die Parkband am See und hielt sich mit beiden Händen das schlimme Knie, als ob es etwas helfen würde.
„Ja, jetzt sieh mich nicht so an. Ich weiß, ich sollte nicht immer die Termine absagen.“
„Danny, wenn wir diese Sache mit dem Spazierengehen fortsetzen wollen, dann musst du etwas machen.“
„Ich weiß doch. Aber die wollen mir eine Spritze geben! Abe, wenn ich etwas mehr hasse als meine Ex-Frau, dann sind das die gottverdammt langen Spritzen beim Orthopäden!“
„Ja, ich verstehe. Aber gut, ich würde dich auch im Rollstuhl schieben.“
„Natürlich würdest du das…“, antwortete Danny und knuffte Abe so fest in die Schulter, wie er es von einem alten Knaben wie ihm nicht erwartet hätte.
„Zurück zum Thema. Wo waren wir denn stehen geblieben?“
„Ich glaube bei der Verbesserung der Welt, oder nicht?“, antwortete Abe und blickte auf den See hinaus. Er hatte eigentlich keine große Lust weiter über dieses Thema zu sprechen. Immerhin betrübte ihn sogar sein eigener Pessimismus, wenn es um die Verbesserung der Welt ging.
„Jeder kann etwas tun, Abe. Absolut jeder.“
„Ja, sicher. Und wie sieht dieses Tun in der Praxis aus? Sollen wir die grauen Panther wählen? Werden die die Welt verbessern?“
„Nein, du verstehst das falsch. Es geht dabei nicht um Wahlen oder Politik. Viel wichtiger ist, dass es darum nicht geht, verstehst du, was ich sagen will?“
„Dann geht es also darum, das System zu stürzen. Und wir zwei machen das!“.
Abe machte eine stolze Geste, wie auf dem berühmten Porträt von Napoleon, mit der Hand im Mantel.
Er starrte eine Weile steif in den Himmel, und tatsächlich konnte er diese Führer-Mimik gut parodieren.
Danny lachte.
„Nein, du Vollidiot! Es geht auch nicht darum das System zu stürzen. Hast du denn gar nichts in der Schule gelernt?“
„Ich bin Psychologe, Danny. Ich war nie in der Schule. Und wenn ich mal da war, war ich in allen Fächern so schlecht, dass man mich eigentlich als nicht anwesend ansehen könnte.“
„Weißt du, das ist immer wieder das Interessante bei weltlichen Menschen. Ständig bewegen sich ihre Gedanken in einem ganz bestimmten Feld. Dieses Feld haben sie sich meistens nicht mal selber ausgesucht, sondern der Lauf ihres Lebens hat ihnen dieses Feld gegeben. Du erinnerst mich gerade an die Kartoffeln, die ich heute Mittag gegessen habe. Die haben auch nicht über den Tellerrand geschaut. Und als sie es hätten tun können, waren sie sowieso so gut wie verspeist.“
„Beängstigend, wie du mich mit deinem Mittagessen vergleichst, Danny. Ich hoffe du hast keinen Ketchup dabei, bevor du mich auch noch verschlingst.“
„Keine Angst, das war nur eine Metapher mein Freund.“
„Da bin ich aber beruhigt“, sagte Abe.
Und dann starrten sie beide auf den See.
Ruhig und gelassen lag er da.
Er war ein Teil des Ganzen, genauso wie die Enten die darin schwammen, die Bäume die ihn verdeckten oder die Sonne die täglich ihre Runden über ihm drehte.
„Ein Teil des Ganzen, Abe.“
„Was?“, sagte Abe schockiert, denn genau das hatte er gerade gedacht.
„Denk dir doch mal etwas weg. Etwas an diesem See. Etwas das wir hier vor uns sehen. Es wäre nicht mehr komplett. Das Gesamtbild würde nicht mehr passen.“
„Wie darf ich das denn jetzt verstehen?“, fragte Abe nach.
„Na ja, es ist wie ein riesengroßes Puzzle. Die ganze Welt ist ein riesengroßes Puzzle mit unzählbar vielen winzig kleinen Teilen, die alle in ihrer Eigenschaft ganz besonders und einzigartig sind. So auch bei den Menschen, denn auch wir sind, was wir leider oft zu vergessen scheinen, ein Teil dieser Welt.“
„Ja, ich verstehe schon.“
„Und jedes dieser Teile hat einen Einfluss auf das Gesamtkunstwerk, auf das sensible Megapuzzle, das du dir am Ende an die Wand nageln kannst.“
Abe sagte nichts und lauschte nur den Ausführungen seines alten Freundes.
„Ich meine, es sind manchmal nicht die Dinge, von denen wir glauben, sie würden etwas verändern, die es auch wirklich tun. Wir vergessen, dass Alles was wir tun eine Auswirkung auf das Gesamtbild hat. Das ist das Wesentliche. Wenn du das begreifst, dann kannst du dir so vieles erleichtern. Sei es das morgendliche Hallo zur Nachbarin, sei es ein weiterer austherapierter Patient, der sich in der Waschküche erhängt, oder die totale Revolution. Alles ist von Bedeutung, Abe.“
„Ja, ich verstehe“, sagte Abe und schaute nachdenklich auf seine Armbanduhr.
„Oh, verdammt. Schon so spät. Entschuldigung, aber ich habe um sechs noch einen Termin mit einem meiner Patienten.“
„Ja, sicher. Geh nur.“
„Ich danke dir, Danny. Ich wünschte, du könntest mal mit meiner Ex-Frau sprechen. Vielleicht lässt sie mir dann doch meinen Sohn.“
„Aber du weißt, dass das nicht geht, Abe.“
„Natürlich“, sagte er und eine Träne kullerte über seine Wange.
Ein seltsamer Anblick war es schon, wenn ein erwachsener Mann sich das Weinen verkneifen musste.
„Ich wünsche dir alles erdenklich Gute“, sagte Danny.
„Danke, ich dir auch. Wir sehen uns wieder, ich werde kommen. Lass es dir gut gehen da oben.“
„Ja, dann bis nächstes Mal.“
Abe wendete sich ab und ging zügig Richtung Trenchtown zurück.
„Alles ist von Bedeutung, mein Junge! Vergiss das nicht!“.
Noch ein letztes Mal drehte Abe sich um und schaute zu Danny zurück. Er musste immer weinen, wenn er wieder ging, doch die Gewissheit, er würde auch nächstes Mal wieder dort sein, tröstete ihn.
Danny verschwamm, wie Nebel der vom Wind verweht wird.
Auf dem Weg zurück in die Stadt, hatte Abe stets die gleichen Gedanken.
Danny war ein alter Freund von ihm, und vor vier Jahren war er in diesem See gestorben.
Ein entlaufener Hund hatte ihm beim Angeln ins Knie gebissen, und ließ einfach nicht los, bis Danny schließlich in den See stürzte. Es war kalt und keine Menschen waren unterwegs, und niemand konnte ihn retten, als er mit dem Kopf auf einen Stein dicht unter der Wasseroberfläche aufschlug. Er verlor das Bewusstsein und ertrank.
Das was Abe allerdings am meisten beschäftigte, war die Frage, ob er sich Dannys Anwesenheit nur einbildete, oder ob er tatsächlich mit seinem toten Freund sprach. Doch andererseits war auch das belanglos, denn er war froh, dass er es konnte, auch wenn es nicht real war. Es gab ihm Trost und Kraft in einer Welt, in der man so viel wie möglich davon brauchte.
30.07.08
Stefan