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Der Tag an dem ich kündigte
Der Tag, an dem ich kündigte
Der Tag an dem ich kündigte
Obwohl es alles andere als eine schöne Erinnerung ist, kommt sie fast täglich in mir hoch, kocht tief in mir und zu genau den falschen Momenten schwappt sie wellenschlagend über und quält mich mit siedend heißen Schmerz. Genau wie jetzt.
Ich weiß es alles noch ganz genau. Alle Schüler standen auf und verließen rasch den Raum, ihn aber hielt ich auf und stellte ihn zur Rede. Seine langen dürren Hände schoben eine Strähne seiner hellen, ungekämmten Haare hinter ein Ohr und dann hob er sein blasses Gesicht langsam mit einem fragenden Blick zu mir. Sein Kinn und seine Oberlippe waren unrasiert und der lichte, blonde Flaum saß wolkenhaft und unregelmäßig auf seiner weißen, schimmernden Haut, die den platten kleinen Mund umgab. Zwischen zwei gefährlich hervorstechenden Wangenknochen ragte eine lange, schmale Nase aus seinem Kopf, an deren Wurzel sich die Augenbrauen verdichteten. Die fettigen Strähnen, die seine Stirn verdeckten, hingen ihm in seinen unfassbar müden Augen, mit den großen schwarzen Pupillen, die nie still hielten.
Ich sprach ihn zum wiederholten Male auf die fehlenden Atteste für die nachmittags stattfindenden Sportkurse an, versuchte ihm den Ernst der Lage kühl und ohne Anteilnahme darzubringen, wie es von mir in meinem Job erwartet wurde. Doch schon als ich die ersten Worte an ihn richtete, wurde mir klar, dass es dieses Mal anders werden würde als die ganzen letzten Male. Sein Gesicht entglitt nicht sofort wieder meinen strengen Blicken, es hielt ihnen stand mit den müden, dunklen Augen und dem farblosen Mund. Er hörte sich mein Reden an ohne auch nur einmal seinen gequälten Blick von mir zu wenden.
Abschließend sagte ich etwas wie: „Ich werde dich nicht für’s Abitur zulassen, wenn ich nicht in den nächsten Tagen die Atteste vor mir habe!“
Und ich glaube dann sagte er diese Worte, die mich in jedem Traum verfolgen, die sich tief in mir vergruben wie schändliche Parasiten, die nicht daran dachten irgendwann wieder zu verschwinden, die sich mit trauriger Gier an meiner Seele nährten, sie zerfraßen und in Stücke rissen. Mit seiner tiefen, langsamen Stimme sprach er:
„Ich habe kein einziges Attest. Sie werden kein Attest bekommen.
Ich kann nicht zum Sport kommen, weil ich suchen muss. Ich muss meine kleine Schwester finden. Ich suche sie jeden Nachmittag. Meine Mutter erlaubt mir nicht sie morgens zu suchen, weil sie will, dass ich das Abitur schaffe, weil sie denkt, dass es nicht schwer für mich wäre. Doch zum Sport gehe ich nicht, ich will sie finden. Wie jeden Tag bis in den Abend. Sie wurde ja entführt, von Unbekannten. Vor zwei Monaten kam sie einfach nicht mehr von der Schule. Die Polizei findet sie nicht, sie ist in irgendeinem gottverdammten Keller, bei einem Perversen eingeschlossen. Ich weiß was er mit ihr macht, er bringt sie zum Schreien, er schlägt sie, er vergewaltigt sie.“ Er kam jetzt ganz nah an mein Gesicht und flüsterte, wobei sein heißer Atem in meiner Nase brannte.
„Und immer, wenn ich am Donnerstag Nachmittag nach ihr suche, denke ich mir: ‚Der Perverse dreht deiner kleinen Schwester grade ein Kabel um den Hals`, und dann stelle ich mir die Frage: ,Suchst du sie, oder gehst du zum Sport?‘. Und jedes Mal gebe ich mir die gleiche Antwort. Also fragen Sie bitte nicht mehr nach einem Attest.“
Ich versuchte die Fassung zu wahren, doch je mehr ich es versuchte, desto weiter schnürte sich meine Lunge zu. Seine schwarzen, müden Augen waren noch immer fest in meinen, sein Schmerz, seine Verzweiflung, seine Hoffnungslosigkeit, all das lag tief in ihnen und brannte sich in mir ein. Dieser Junge enthüllte seine Ängste, die ihn jede Nacht plagten und seinen Schlaf raubten und entgegnete sie meiner lächerlichen Strenge. Ich war gebrochen. Dieses Feuer in meiner Brust versengte all meine Glieder, bis sie erschlafft herunterhingen. Mein Mund war geöffnet, doch kein Lufthauch bewegte sich zwischen meinen stummen Lippen. Aus meinen Augen quollen Tränen, die ich nicht spürte und in meinem Hals lagen verklumpte Schreie, die ich nicht schrie.