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Der Tag

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26.08.2002
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Der Tag

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Als Karl am selben Tag, an dem er sich umbringen wollte, das Klingeln an seiner Wohnungstür hörte, ging er nachschauen, wer es war (was außergewöhnlich zu nennen ist, zumindest seit dem Vorfall mit der Rettungshubschrauberpilotin). Es war ein deutscher Sommertag, ein Montag, spätnachmittags, und der Mensch, der draußen stand, triefte vor Regen. In seinem Gesicht war Überraschung und Erstaunen zu erkennen, vermutlich ob der Tatsache, dass die Wohnungstüre Karls sich geöffnet hatte. Denn jahrelang bereits hatte der Mann versucht, herauszufinden, wer da wohnte (gemäß seinem Auftrag als Jehova-Zeuge), und aus diesem Grunde regelmäßig in Abständen von zwei Wochen Karls Wohnung aufgesucht und geklingelt.
Es ist daraus ersichtlich, dass es nicht zu Karls Gewohnheiten gehörte, die Wohnungstür zu öffnen, wenn es klingelte, und er nicht wusste, wer draußen stand. Dahinter stand Karls tiefe Überzeugung, dass nichts annähernd so Gutes dabei herauskommen konnte wie das, was er hatte, wenn er allein sich in der Wohnung befand: seine Ruhe (so dachte er). Ganz selten nur hatte er anders gehandelt, das letzte Mal ein halbes Jahr zuvor, als er im Überschwang (während des Frühstücks), nachdem er ein Klingeln vernommen hatte, zur Tür gegangen war und geöffnet hatte. Die in eine grell-orange Jacke gekleidete Frau forderte Karl ohne jedes Zögern (auch ohne sich vorzustellen oder in anderer Art einen Zusammenhang herzustellen) auf, Geld herauszurücken für die lebenswichtige Anschaffung eines neuen Rettungshubschraubers für das Rote Kreuz (dem sie anzugehören schien)... und zwar sofort. Als Karl nicht gleich einverstanden war und (gutmütig) sagte, dass er prinzipiell an der Wohnungstüre solche Dinge nicht entscheide, aber um Informationsmaterial und Bedenkzeit bat, machte sie ihm klar, dass er genug Bedenkzeit gehabt habe bis jetzt, dass es aber um Menschenleben gehe und nicht um Bedenkzeit und dass solche Ignoranten und Egoisten wie er in unerträglicher Weise am Tode vieler Unfallopfer schuld seien (die mit einem Rettungshubschrauber zu retten gewesen wären). Karl, der es bereute, die Wohnungstür geöffnet zu haben, weigerte sich weiter, so dass die Frau (und jetzt brüllte sie) ihm prophezeite, er würde an sie noch denken, wenn er selbst Opfer eines schweren Unfalls würde und dann winselnd auf einen Rettungshubschrauber angewiesen sein würde (der natürlich dann nicht kommen konnte, weil er nicht existierte). Sie war wutentbrannt gegangen (nur eineinhalb Minuten hatte es gedauert), und Karl hatte die Tür für eine lange Zeit wieder geschlossen, sogar von innen abgesperrt, um sicher zu gehen (und die Kette eingelegt).

Da ihn auch kaum Leute mit vorheriger Absprache aufsuchten, existierte er somit in einem nicht-sozialen Raum. Bis der Jehova-Zeuge auftauchte an dem Tag, der sein letzter sein sollte, und Karl in einer (was man seltsam finden könnte) gesprächigen Laune antraf. Dass es ein Jehova-Zeuge sein musste, hatte Karl sofort an dem glücksbringenden aber unsäglich hirnstromfreien Lächeln des Gastes erkannt und sich gleich gedacht: warum nicht die Gelegenheit nutzen und sich die Welt noch von einem kompetenten Mann erklären lassen, bevor man sie verlässt?
Allerdings rechnete Karl nicht im Ernst damit, die eine Information erhalten zu können, die zu den vielen Tausenden (oder in Wahrheit ungezählten) anderen Informationen hinzugefügt den Zusammenhang, die Kohärenz auf der Ebene der Wirklichkeit zweiter Ordnung herstellen würde (zumal jede Kommunikation darüber, also der Austausch überlappter Daten, eine Schnittmengenfrage dieser Ordnung wäre): den Sinn des Ganzen.
Es war mehr eine Laune, aber der Jehova-Zeuge war schnell überfordert. Karl war schon nach der Beantwortung seiner ersten (harmlosen) Frage enttäuscht.
„Woher wissen Sie, dass Gott existiert?“ fragte Karl, und der Zeuge (ein Herr Zwiebelberger) hatte die (nicht mehr weiter hinterfragbare) Antwort: „Weil er (also Gott) es gesagt hat.“
Bewiesen wurde das sogleich mit einer Bibelstelle. Die Authentizität der Aussage in der Bibel wurde bewiesen durch eine andere Bibelstelle (die Zwiebelberger aber nicht finden konnte, da sein gelber Bibelstellenmerker rausgefallen sein musste - was aber Zwiebelberger nicht lange irritierte, weil er gleich eine andere, so ähnliche Stelle fand).
„Wollen Sie noch Tee?“, fragte Karl.
„Gern“, sagte Zwiebelberger.
Aufgrund eines überwältigenden Bedürfnisses, alle theoretischen Fragen hinter sich zu lassen und endlich zum Kern des Seins zu gelangen, insistierte Karl schließlich auf der Frage, ob er, er selbst, zu den Guten oder zu den Schlechten gehöre, nur das interessierte ihn noch zu wissen, aber Zwiebelberger war auch in dieser Hinsicht nicht ergiebig. Stattdessen eröffnete er, dass er ein Abtrünniger wäre, der kritisch die Jehova-Lehre analysiert hätte, um plötzlich eine Wahrheit zu entdecken, die allen anderen (auch den anderen Jehova-Zeugen) verborgen geblieben wäre:
Außerirdische würden kommen, um die Auserwählten zu holen (zu denen er gehörte). Bald schon (sogar sehr bald) würde ein großes Raumschiff aus diesem Grund im Orbit sein, so besagte es offensichtlich der galaktische Ablaufplan, alle Auserwählten hochbeamen, und die Zurückgebliebenen waren (wie immer in solchen Fällen) dem Tode geweiht (dem ewigen, versteht sich). Warum die Außerirdischen so etwas tun sollten, da musste man schon den Kopf schütteln, aber dennoch wurde Karl neugierig, und fragte, wie man ein Auserwählter werden könne - jedoch Zwiebelberger schaute verwundert. „Was meinen Sie mit 'werden'? Man kann kein Auserwählter werden... entweder man ist auserwählt so wie ich, oder man ist nicht auserwählt, so wie Sie“, sagte er.
Das leuchtete Karl ein. Es war nicht ganz so verlogen wie die Geschichte, dass ein ewiger (also immer-währender) Gott darauf angeblich wartete, wie man sich so aufführte auf Erden, um anschließend dann über Paradies oder Hölle zu entscheiden (wieso sollte er da warten?).
Außerdem lächelte Zwiebelberger glücklich, also was konnten die Außerirdischen schon schaden? Zwar brachte Karl den Jehova-Zeugen noch ein klein bisschen in Verlegenheit, indem er ihn nach dem Zweck des Gesprächs fragte, wenn die Auserwählten eh schon feststünden, aber zum Glück war nicht allzu viel Raum für Hintergründigkeit in Zwiebelbergers Gehirn (falls es ihn tatsächlich irgendwie steuerte).
Sie aßen noch ein paar Kekse zusammen, und dann ging Zwiebelberger zurück zu seiner Familie; Karl schloss die Tür.

All das hatte sowieso keinen Einfluss auf Karls Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, soviel steht fest; es ist nichts und ist ohne Grund, dachte er, und ersäufte sich gegen neunzehn Uhr (etwa zwei Stunden nach dem Gespräch mit Zwiebelberger) in einem nahe gelegenen Baggersee. Immerhin ersparte er es sich, von einem Raumschiff voll winkender Außerirdischer und Zwiebelbergers auf einem zum Untergang geweihten Planeten zurückgelassen zu werden.
(c) 2003

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Die Zeugen Jehovas kommen immer zu zweit, FlicFlac. Auch wenn dieser Zwiebelberger ein von Außerirdichen (weil er so geistlos ist) Ausgewählter gewesen ist, kann ich nicht glauben, dass das Ersäufen im Baggersee eine bessere (geistvollere)Alternative zum (wenigstens gemeinsamen) Untergang der Menschheit samt ihres Planeten ist.
Außer einer skurilen, zynischen Art zwischen den Zeilen finde ich keinen Bezug, um die Erkenntnis des Karl zu teilen.
Oder war die Rettungshubschrauberpilotin daran schuld? ;)
Goldene Dame

 

Hi, ich finde die Geschichte supercool! Bitte mehr von Karl. Ich meine, vielleicht ist er ja gar nicht tot, oder? Also... er könnte doch irgendwie... überlebt haben... oder so... durch... äh... überleg dir da doch mal was.

Goldene Dame: Zeugen Jehovas, die an Aliens glauben kommen doch nie zu zweit, das weiß ja jeder. Das ist deshalb so, weil... äh... ich überleg mir da mal was.

 

@goldenedame

Das Sich-ersäufen im Baggersee ist jedenfalls individueller als der gemeinsame Untergang. Oder? [Eine interessante Frage: Nehmen wir an, du erwachst morgens und lebst auf einer Welt, in der alle (außer dir) WISSEN, dass die beste Staatsform eine Diktatur ist].

Übrigens kommen Jehova-Zeugen nicht zwangsläufig zu zweit; dem Casus liegt ja ein authentischer Besuch zu Grunde.

@schwarzekatze
Danke! Es gibt ja auch noch mehr Geschichten ;-) ! WAS fandst du an KARL denn cool???

Grüße,
Flic

 
Zuletzt bearbeitet:

An Karl mag ich besonders, dass es durch ihn diese Geschichte gibt. :cool: (hab versucht mehr zu schreiben aber das werden dann 10 Seiten; ich möchte die Geschichte nicht totquatschen) Und im Grunde gefällt mir einfach dein Schreibstil sehr gut.

Also rock die (Tastatur)Tasten oder wie man hier sagt. :shy: LG

 

Übrigens kommen Jehova-Zeugen nicht zwangsläufig zu zweit; dem Casus liegt ja ein authentischer Besuch zu Grunde.
Die zweite Hälfte hab ich jetzt nicht verstanden...

(bei mir waren sie bisher immer zu zweit. Die Mormonen übrigens auch...)

 

Die philosophische Ratte schrieb:
(bei mir waren sie bisher immer zu zweit. Die Mormonen übrigens auch...)

Bei mir nicht :teach: !

:)

 

Es war ein vereinzelt einsam wirkender Jehova-Zeuge (ohne Begleitung allein), und ich ließ ihn ein, als ich mit Rauchen aufhörte und ich Ablenkung brauchte. Wir tranken Tee und asen Kekse.

 

Hallo FlicFlac!

Nicht nur der Inhalt dieser Geschichte sagt mir zu, sondern auch die verwendeten Stilmittel und die Sprache. Mit teilweise bissigen Einschüben wird hier der letzte Tag eines Mannes kommentiert, der (zuviel?) Ruhe sucht, aber nicht findet (er soll ideologisiert oder ausgebeutet werden). Er beschließt, sich das Leben zu nehmen, obwohl die Welt (an sich) so viel an Vielfältigem zu bieten hat (wenn man dafür Bereitschaft mitbringt). Vielleicht hätte er durch den Kontakt mit anderen (kompetenteren) Leuten gerettet werden können? Wer weiß? Guten Abend!


Ciao
Antonia


P. S.: Eine meiner Kolleginnen ist `Zeugin Jehovas´ und hat mir bestätigt, dass diese Missionare NICHT ZWINGEND zu zweit auftreten müssen. Einer von denen (mit guten Bibelmarkern) schafft solche Besuche auch allein.

 

Einer von denen (mit guten Bibelmarkern) schafft solche Besuche auch allein

Die ganz guten schaffen mehrere allein.

;-)

 

Tja, wenn alle deine Geschichte loben, dann sollte ich es wohl eigentlich nicht machen. Aber hey, die is wirklich ganz cool. Ich finde besonders den Zeugen lustig, der eigentlich an Ufos glaubt. Lustiger Einfall.
Aber irgendwas hatte mir wirklich nicht gefallen. Aber leider finde ich gerade die Stelle nicht mehr. Dein Glück.
Fänds auch cool, noch mehr sone merkwürdigen Stories zu lesen.

 

Hallo Tommy,

grad die Stellen, die dir missfallen, interessieren mich natürlich - falls us begründest. Vielleicht ist ja was dran und ich kann mich verbessern?

Gruß,
Flic

 

Okay, jetzt bin ich böse. Ich habe richtig viel geschrieben. Dann ist irgendwas auf der seite abgestürtzt und alles war weg. Super.
Nochmal abgekürtzt:

1.Warum lässt er ein unkommunikativer suizidplanender Mensch diesen Jehovatypen rein, wenn er doch weiß, dass er doch schon davor weiß, dass er ihm keine Antworten geben kann. Als Absicherung dafür, dass er richtig mit seiner Suizidplanung liegt?

2. Der Schluss ist mir zu kurz. Er bringt sich um und noch einen Satz, der das ganze abrundet. Hättest du nicht noch zwei drei intelligente Sätze zum Sinn schreiben können? Ich meine, du hast gezeigt, dass du das sehrwohl kannst. Finde, dass würde die ganze Sache noch etwas deutlicher auf den Punkt bringen. Aber ist ne Geschmacksfrage, du findest sicherlich auch wen, der das genau andersrum sieht.

Grüße

Thomas

 

1.Warum lässt er ein unkommunikativer suizidplanender Mensch diesen Jehovatypen rein, wenn er doch weiß, dass er doch schon davor weiß, dass er ihm keine Antworten geben kann. Als Absicherung dafür, dass er richtig mit seiner Suizidplanung liegt?

Genau.

2. Der Schluss ist mir zu kurz. Er bringt sich um und noch einen Satz, der das ganze abrundet. Hättest du nicht noch zwei drei intelligente Sätze zum Sinn schreiben können?

Ich denke, die Geschichte meint, dass es ohne Sinn gehen muss (oder es geht eben nicht)...

;-)

 

Diese Klammern in deiner Geschichte, FlicFlac, die sind echt Scheiße. Die haben in der Mathematik eine Funktion, nicht aber in einem Prosatext, dies besonders dann nicht, wenn sie anstelle von Kommata und Gedankenstriche verwendet werden – hätten wir diese Satzzeichen nicht, die Sache sähe dann anders aus, klar.

Dass ich trotz des Ärgers durchgehalten habe, ist dem Plot – wer kennt die Zeugen Jehovas, Mormonen und die Rotes-Kreuz-WerberInnen nicht? - und einigen Gedanken zu verdanken, die du so nebenbei fallen lässt. Zum Beispiel diese Bemerkung über den Sinn des Missionierens, wenn es sowieso schon feststünde, wer zu Auserwählten gehört und wer nicht.

Das ist eine Fragestellung, die nicht nur für Zeugen Jehovas mit ihren 144000 Gesalbten interessant ist, sondern auch für die beiden großen christlichen Kirchen: während die katholische Kirche lehrt, man könne - in dem man Gutes tut - sein Schicksal mitbestimmen, sagt die Evangelische, alles hängt von Gnade Gottes ab, und die sei natürlich nicht käuflich.

Wie es scheint, kann man hier viel verkehrt machen, besonders wenn man bedenkt, dass so und so viele Milliarden Menschen von diesem christlichen Gott gar nichts, dafür aber von anderen, nicht minder grausamen Göttern sehr viel halten.

Dion

 

Zum Beispiel diese Bemerkung über den Sinn des Missionierens, wenn es sowieso schon feststünde, wer zu Auserwählten gehört und wer nicht.

Genau. Im übrigen enthalten alle Religionen diesbezüglich große Ungereimtheiten.


Übrigens, das mit den Klammern mach ich sonst sehr selten (im Prinzip könnte man da Beistriche verwenden) - wollte das aber ausprobieren, nachdem ich ein Buch von Javier Marias, dem spanischen Nobelpreisträger, gelesen hatte (welcher ständig Klammern verwendet).

Übrigens, das mit den Klammern mach ich sonst sehr selten, im Prinzip könnte man da Beistriche verwenden, - wollte das aber ausprobieren, nachdem ich ein Buch von Javier Marias, dem spanischen Nobelpreisträger, gelesen hatte, welcher ständig Klammern verwendet.

Besser so?

;-))
Gruß von Flic

 

Gut! Dann schwöre ich bei allen Göttern, nie wieder Klammern zu nehmen, wenn es mit Kommata geht...

Gruß von Flic
;-))

 

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