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Der Tausch
Ich fülle die Badewanne bis zum Rand mit eiskaltem Wasser. Natürlich ist es nicht dasselbe Wasser wie damals bei Lukas, aber es stammt aus demselben Reservoir.
Ich ziehe mich aus und stecke meinen Arm bis zum Ellenbogen hinein. Es ist so kalt, dass er sofort anfängt zu schmerzen. Gut so.
Langsam lasse ich mich unter Wasser gleiten, begrüße das taube Gefühl wie einen alten Bekannten.
Natürlich werden sie mich finden: Sie finden mich immer. Aber bis dahin kann ich die Angst fühlen, wie Lukas sie gefühlt haben musste.
Wir waren Zwillinge.
Tante Agnes behauptete einmal, dass es am Reaktor läge: »Wie damals bei Tschernobyl! Kühe mir zwei Köpfen gab es da.« Sie kannte jede Menge Märchen von der Erde, von dem Planeten, der für mich selbst nur ein Märchen war.
Lukas hatte keinen Kopf zuviel, stattdessen fehlten ihm Arme und Beine. Ohne die Prothesen sah er aus wie ein Ei.
»Quatsch«, sagte meine Mutter, »es ist ein Embroynaldefekt. Wenn es am Fusionsreaktor läge, wären alle Kinder auf der Station missgebildet.«
Als würde das etwas erklären. Ich hatte meine eigenen Theorien: Ich war viel stärker und schneller als die anderen Mädchen in meiner Klasse. Ich hatte glänzendes, dunkelbraunes Haar, nicht so grau-blonde Strähnen wie Lukas, die aussahen, als hätte ihn jemand mit Säure geduscht. Wahrscheinlich hatte ich alle Kraft aus Lukas' Armen und Beinen bekommen, so dass für ihn nichts übrig war. Ein fairer Tausch, denn ich war dafür seine Dienerin.
»Gehst du aufs Walddeck?«, fragte Lukas mich und grinste dabei ganz scheinheilig. Riss die babyblauen Augen auf: Unschuldsblick.
Ich nickte möglichst beiläufig. Natürlich wusste er Bescheid, ich traf mich ja jeden Tag mit den anderen dort. Das Walddeck war der einzige Ort in dieser monströsen Raumstation, der nicht aus Beton oder Stahl bestand. Außerdem war man dort viel leichter und man konnte durch die oberen Fenster die Sonne sehen - besser gesagt Tau Ceti.
»Ich komm mit!«
»Nee, Lukas, lass mal!« Lasse aus der Englisch-Klasse würde wieder da sein. Ich wollte Lukas nicht die ganze Zeit an meiner Seite kleben haben.
»Was gibst du mir, wenn ich hier bleibe?«
Ich überlegte. »Meine Fernsehcredits für diese Woche«, bot ich an. Mist! Eine Woche kein Fernsehen.
»Und das Passwort für die Ab-16-Kanäle.«
Ich stieß Luft aus der Nase. »Du bist bescheuert! Ich hab kein Passwort.« Ich hatte es zufällig in Mamas Nachtschränkchen gefunden. Woher er das schon wieder wusste!
»Okay, dann komm ich mit.«
Ich gab ihm die Credits und das Passwort.
Ich zog die roten Turnschuhe an und das Nautic-Angel-T-Shirt. Hoffentlich stand Lasse auf Nautic Angel, aber es war ja keine Kinderserie. Außerdem war es mein engstes T-Shirt, vielleicht bemerkte er das.
An der Schleuse passte Mama mich dann ab. »Nimmst du Lukas mit aufs Walddeck? Du weißt doch, wie gern er mitkommt.«
»Mama, ich weiß nicht ... eigentlich will er nicht.«
»Doch, ich komm gern mit«, sagte Lukas und rollte in seinem elektrischen Rollstuhl in die Schleuse.
Ich starrte ihn an, traute mich aber nicht, vor Mama etwas zu sagen. Stattdessen kniete ich mich hin und schraubte seine Prothesen in die Titanhalterungen, die aus seinen Beinstümpfen ragten. Sie surrten und bewegten sich wie metallene Maden.
»Halt still!«, knurrte ich.
Wir eilten einen der Radialkorridore entlang. Die Deckenbeleuchtung war in unregelmäßigen Abständen ausgefallen, eigentlich waren mehr Leuchtfelder kaputt als funktionsfähig. Diese Raumstation verfiel zusehends.
»Deinetwegen sind wir spät dran!«, maulte ich.
»Wo willst du hin? Nicht so schnell!«
Seine Prothesen machten beim Laufen surrende und zischende Geräusche. Wie ich das hasste!
In seiner Stimme schwang jetzt Verunsicherung. »Du willst den Luftschacht hochklettern? Das dürfen wir nicht!«
»Deine Schuld!«, fauchte ich ohne mich umzudrehen. Ich zählte die Abzweigungen und fand die Wartungsklappe mit der defekten Verriegelung. Kalte Luft schlug mir ins Gesicht, als ich sie öffnete. »Brauchst ja nicht mitzukommen.« Ich zögerte und fügte dann hinzu: »Krüppel!«
Einen Moment sah es aus als würde Lukas anfangen zu heulen.
Schön, dann würde er vielleicht umkehren.
Dann biss er die Zähne zusammen und fasste nach dem Rahmen der Luke.
Ich ging zuerst durch, fand den Sensor für die Notbeleuchtung und zog mich im aufflackernden blauen Licht auf die Leiter. Unter mir erstreckte sich der Lüftungsschacht, wie ich wusste, zweihundert Meter tief. Am Grund lag das Brauchwasserreservoir, eine dunkle Wassertiefe von weiteren fünfzig Metern. Ich schauderte bei dem Gedanken, kletterte aber sicher weiter, atmete den Ozongeruch im Takt der Sprossen. Oft genug hatte ich diese Abkürzung genommen, mir das endlose Gerenne über die Rampen erspart.
Nichts war zu hören, außer den entfernten Atmosphärenpumpen und Lukas' Surren. Ich wagte einen Blick und sah ihn etwa vier Meter unter mir an die Leiter geklammert.
»Hilf mir!«, heulte er.
»Geh zurück! Was denkst du dir? Dass ich dich trage?«
»Ich kann nicht!« Sein Gesicht war schon ganz nass.
»Kletter einfach wieder runter! Du bist erst ein paar Meter von der -« Ich brach ab: Lukas hatte nach unten gegriffen, aber seine Silikonfinger waren an der Leiter abgerutscht. Jetzt hing er mit nur einem Arm an den Sprossen.
Er schrie, sein Arm winselte überlastet. Dann rastete mit einem Knacken das Getriebe aus, die Belastungsgrenze war überschritten. Seine Finger öffneten sich. Mit einem Wimmern verschwand er in der Tiefe.
Ich kann mich nicht erinnern, wie ich es die Leiter herauf geschafft habe.
Lasse war nicht gekommen. Wir spielten den ganzen Nachmittag auf dem Walddeck, wahrscheinlich Volleyball - ich weiß es einfach nicht mehr. Die Schwerkraft war so nahe am Zentrum viel geringer, aber das kann nicht ganz das seltsame Gefühl der Leichtigkeit erklären, das ich die ganze Zeit hatte.
Am Abend schmerzte mein Gesicht vom vielen Grinsen; selbst, als die anderen schon alle gegangen waren, wollte ich noch bleiben.
»Wo ist denn dein Bruder?«
Mama erwartete mich schon an der Schleuse.
»Ist er nicht hier? Er ist schon auf dem Hinweg umgekehrt.« Wie leicht die Lüge war. Sie fiel aus meinem Mund wie sein Körper den Schacht hinab.
Mama starrte mich an, und ihre Augen waren dabei ganz groß und rund. Dann stürzte sie zum Kom.
Sie schickten Suchgruppen los, gefunden wurde er aber erst nach einer Woche von einem Reinigungsroboter, weil sein Körper einen Auslass verstopfte.
Ich muss mir oft vorstellen, wie es für ihn war: Erst das Fallen, endlos, zweihundert Meter, dann der Aufprall, der ihn sofort getötet haben muss. Ich weiß, dass er dann schon tot war, aber ich stelle mir vor, wie er in dem eiskalten Wasser zu Boden sinkt, dabei vielleicht die Prothesen verliert, bis er wieder so ist, wie im Mutterleib. Ich hätte bei ihm sein sollen, den Tausch rückgängig machen.
Ich spüre die Kälte nun in meinen Kopf kriechen, dann wird mir ganz warm.
Vielleicht kann ich ihn noch erreichen ...
Arme reißen mich hoch, drücken mich an einen warmen Körper.
»Warum machst du das immer wieder!«, schluchzt meine Mutter. »Es ist doch nicht deine Schuld gewesen!«
Sie irrt sich: Es war von Anfang an meine Schuld.