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Der Tod der Eldaner
Molly Kleinhans, die Nachrichtensprecherin, drückte eine Hand auf das rechte Ohr, damit die aktuellen Informationen, die auf ihr Implantat übertragen wurden, nicht durch Geräusche aus dem Studio gestört würden ...
„... Gerade erreicht uns die Nachricht, dass die beiden Toten eindeutig identifiziert wurden: Es handelt sich, wie uns die Friedens-Polizei eben bestätigte, tatsächlich um Toktangnar und Amnadanirasun. Es besteht kein Zweifel mehr, bei den Leichen, die vor zwei Stunden in einem Krater in einem Außenbezirk von Lod gefunden wurden, handelt es sich um die Eldaner. Mein Damen und Herren verzeihen Sie das Pathos, aber die Vereiner der Menschheit sind tot.“
Ideirz wechselte den Kanal, doch die Bilder änderten sich nicht. Auf jedem Sender wurden Aufnahmen von einem klaffenden Loch mitten in einer Straße gezeigt. Einsatzkräfte standen darin und blickten ratlos um sich. Am Rande der Grube hatten sich Menschen versammelt. Einige starrten nach unten, andere weinten und manche hielten sich gegenseitig, um sich zu trösten.
Er wechselte wieder zu PBN und Molly Kleinhans Bericht: „Noch kann sich von den Ermittlern der Friedens-Polizei niemand erklären, was hier geschehen ist, aber es wird soeben die Umgebung untersucht und mögliche Zeugen befragt. Ich bin jetzt mit Sadir Fadil, unserem Reporter vor Ort verbunden ... Sadir, weiß man schon Neues über die Ereignisse, die zu dieser Katastrophe geführt haben?“
- Nein, Molly, wir wissen hier noch nichts. Aber die FP-Ermittler haben vor wenigen Minuten Gruppen gebildet, die die umliegenden Felder nach Spuren absuchen.
- Weiß man etwas über den Krater, wie er zustande kam?
- Man geht hier von einer Explosion aus, aber niemand weiß noch, wodurch diese verursacht wurde, allerdings gibt es noch viele Unklarheiten, denn die Körper der Eldaner scheinen verbrannt zu sein, sie lagen, einander umarmend, am Grund des Kraters. Man würde vermuten, dass, wenn sie im Zentrum einer Explosion gewesen wären, wohl zerrissen und weggeschleudert worden wären. Aber wir wissen nun mal auch nicht viel über die Beschaffenheit der Körper der Eldaner und es könnte sein...ah, ich sehe gerade, dass die Ermittler von der Zeugenbefragung bei einer der Ladestationen in der Nähe zurückkehren. Man hatte uns gebeten, hier zu warten und uns versichert, dass man uns informieren werde. Ich werde versuchen mit einem der FP-Kommissare zu sprechen...Verzeihen Sie, Herr Kommissar! Gibt es schon neue Erkenntnisse? Gibt es Spuren?
- Haben Sie bitte Verständnis, ich muss erst mit dem General über die weitere Medieninformationspolitik sprechen, verzeihen Sie, wir werden zu einem späteren Zeitpunkt eine Erklärung abgeben.
- Aber laut Informationsgesetz müssen Sie...
- Verzeihen Sie, es könnte sein, dass das Gesetz hier..., dass es hier..., es besteht der Verdacht, dass es hier ein Verbrechen gegeben hat.
- Ein Verbrechen!?
- Ja, entschuldigen Sie uns jetzt, es wird zu einem späteren Zeitpunkt eine Erklärung geben.
- Verehrte Zuseherinnen, sie sehen mich ein wenig verstört, seit nun fast 50 Jahren, seit die Eldaner ihre Vermittlungsreisen begonnen hatten, hat es kein Verbrechen mehr in so einer Dimension gegeben, ebenso wenig eine derart restriktive Informationspolitik von Seiten der Behörden. Ich werde versuchen, weitere Informationen zu bekommen, aber vorerst gebe ich zurück ins Studio, Molly?
- Danke Sadir. Meine Damen und Herren, falls Sie sich gerade erst eingeschaltet haben: Die Welt ist geschockt und trauert um die Eldaner, deren Leichen heute Morgen am Grund eines mysteriösen Kraters gefunden wurden. Die Polizei hält sich noch bedeckt, was ihre bisherigen Ermittlungsergebnisse anbelangt und es gibt Gerüchte über ein Verbrechen. Wie ich soeben erfahre, hat der FP-General Kenji Ōgawa für elf Uhr dreißig, also in genau zwei Stunden, eine Pressekonferenz anberaumt, wo er eine Erklärung abzugeben gedenkt.
Ideirz stieg aus dem Bett und mit einer gelangweilten Handbewegung fixierte er den Bildschirm an der Wand. Er hatte nichts zu tun, als zu warten. Er ging in die Küche, füllte sich ein Glas Wasser an und ging zurück in sein Schlafzimmer. Dort setzte er sich an das Fußende seines Bettes und blickte in den Fernsehmonitor. Es begann gerade eine Reportage über das Wirken der Eldaner, die offensichtlich für ein Jubiläum schon vorbereitet gewesen war und die Zeit bis zur Pressekonferenz General Ōgawas überbrücken sollte.
„Vor 50 Jahren begann die Geschichte, die das Antlitz unserer Welt veränderte. 50 Jahre ist es nun her, dass diejenigen, die sich Eldaner nennen, in unsere aller Leben traten. Es war bei der UN-Generalversammlung am 9.5.2009, als die Regierungschefs der Mitgliederstaaten heftig über eine Resolution stritten, die die Haltung der UNO im Japan-Korea-China-Konflikt klären sollte. Mitten in der Konferenz traten plötzlich zwei Gestalten aus dem Schatten. Sie waren eher klein, 1,70 m, und ihre Silhouetten glichen denjenigen von Menschen, einem männlichen und einem weiblichen. Doch als sie gut erkennbar im Licht standen, sah man ihre Andersartigkeit. Ihre Körper, einschließlich ihrer Hände und Füße, waren zwar von eng anliegenden grauen Overalls bedeckt, aber ihre Köpfe und Gesichter konnte man sehen. Sie hatten menschähnliche Züge, aber ihre Haut war grau und schimmerte wie ein Ölfilm je nach dem Lichteinfallswinkel in verschiedenen Farben; ihre Augen waren klein, rund und schwarz, kein Haar war auf ihren Häuptern. Die Versammlung reagierte geschockt auf ihr erscheinen, aber bevor jemand reagieren konnte, stand eine neben dem chinesischen Regierungschef Hu und eine neben seinem japanischen Gegenüber Abe. Sie berührten deren Wangen mit einer Hand und neigten ihre Köpfe zu deren Ohren, als würden sie ihnen etwas flüsternd sagen. Der Saal war in Aufruhr, die übrigen Regierungschefs schrien wild durcheinander und Sicherheitskräfte stürmten in den Saal. Nur Hu und Abe verhielten sich ruhig und begannen nach kurzer Zeit zu nicken, als würden sie etwas einsehen, etwas hören, dem sie zustimmten. Hu stand als erster auf und Abe folgte ihm und richtete das Wort an die Versammelten: „Es gibt Dinge, die wir bisher nicht bedacht haben, die aber eigentlich immer vor uns gelegen haben. Wir müssen Positionen anerkennen, die bisher nicht die unseren waren, in der Hoffnung, dass auch diejenigen, die diese Positionen vertreten, ihren Standpunkt überdenken. China wird ab sofort seine Truppen aus Korea zurückziehen und auf jegliche Vergeltungsmaßnahme verzichten.“ Dann ergriff Abe das Wort: „Auch Japan sieht sich größeren Interessen verpflichtet und wird auf weitere Maßnahmen der Selbstverteidigung verzichten mit der Aussicht auf strukturelle Änderungen, die zukünftig eine Verteidigung jeglicher Art überflüssig machen werden.“ Während die Politiker noch sprachen, waren die beiden Wesen zu den anderen Versammlungsmitgliedern geeilt. Ruhig, aber zügig hatten sie alle Teilnehmer der 194 Delegationen berührt und ihnen etwas zugeflüstert. Jeder der mit ihnen in Kontakt kam, hatte sie offensichtlich verstanden und half ihnen, die Übrigen zu erreichen. Dann begannen angeregte Diskussionen in kleinen Gruppen, doch alle schienen sich einig zu sein. Nach Kurzem trat man an die Wesen heran und forderte sie auf, am Rednerpult das Wort zu ergreifen und zur Welt zu sprechen, indem man den Fernsehstationen mit ihren Kameras Zutritt zum Saal gewährte. Dann sprachen sie. Niemand wusste in welcher Sprache, aber jeder verstand sie: ‚Wir sind Elda, wir kommen nicht von außen, wir kommen aus eurer Mitte. Wir sind, wie alles, das ihr seht, geschaffen aus einer starken Überzeugung, einer Überzeugung, die in euch allen sein muss, ob es euch bewusst ist oder nicht. Ihr seid eine Gemeinschaft und gleichzeitig Gefangene einer Vorstellungskraft. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie ein Konflikt zu lösen ist, deshalb besteht er. Ihr glaubt, es kann keine Welt ohne den Konflikt geben, deshalb besteht er. Aber ihr könnt euch eine abstrakte Lösung vorstellen, eine Lösung, und nur eine solche Lösung, die aus dem sonst Vorstellbaren herausgehoben ist. Dieser Glaube ist mit der Zeit zu einer Überzeugung geworden. Ihr habt uns geschaffen.‘ Hier fanden die großen Veränderungen ihren Ausgangspunkt, von da an begannen die Eldaner ...“ der Bildschirm wurde schwarz, das Zimmer war dunkel und still. Es gab keinen Strom mehr.
Als die Tür zu Ideirz Wohnung aufgesprengt wurde, stand er bereits neben dem Türrahmen und wartete, bis der erste Polizist das Zimmer betreten hatte. Keiner dieser Friedenspolizisten hatte Einsatzerfahrung. Er trat dem ersten von hinten in die Kniekehle und entriss ihm die Waffe – so schnell, dass keiner reagieren konnte, bevor Ideirz das Feuer eröffnete. Er schoss kniend durch die Tür und die vorderste Reihe der Einsatzkräfte ging zu Boden. Die übrigen Polizisten suchten Deckung und erwiderten das Feuer. Im Inneren der Wohnung klirrte Glas von geborstenen Fensterscheiben. Gas breitete sich aus. Polizisten stiegen durch die Fenster und nahmen ihn ins Visier. Ideirz arbeitete mit der kühlen Präzision eines Chirurgen, der, auch wenn wellenartig austretendes Blut die Sicht erschwerte, ein Organ nach dem anderen versagte und der Kampf aussichtslos schien, Klammern setzte und sein Skalpell in ruhigen ökonomischen Bewegungen führte. Von allen Seiten hagelte es Projektile. Ideirz wurde mehrmals getroffen und verlor das Bewusstsein.
Er erwachte im Halbdunkel eines nächtlichen Krankenhauszimmers. Sein Bett, das einzige im Raum, stand nahe an einem Fenster, durch das er auf die Straße hinunter sehen konnte. Ein heller Lichtschein kam von dort herein und blendete ihn. Nach und nach gewöhnte er sich aber an das Licht und er konnte sehen, woher es kam. Vor dem Gebäude standen tausende Menschen mit Kerzen in den Händen. Ideirz ließ seinen Kopf zurück auf das Kissen sinken und lächelte.
Neben der Türe zum Krankenzimmer saßen zwei Wachmänner, auf einem Schild an der Wand stand der Name Ideirz Kroner. Als sie eintrat blendeten sie die Strahlen der tief stehenden Sonne, die direkt vor dem Fenster zu hängen schien. Erst langsam konnte sie Umrisse im Zimmer erkennen. Ideirz saß aufrecht im Bett und hatte sein Gesicht zur Sonne gewandt.
„Herr Kroner, ich bin Oberkommissarin Ada Holdon von der Friedenspolizei Arkangrad. Ich bin hier, um sie zu den Ereignissen am 1.5. dieses Jahres zu befragen“, sagte Holdon. Ideirz rührte sich nicht. Sie ging zur anderen Seite des Zimmers und stellte sich ans Fenster. Die Menschenmenge vor dem Krankenhaus war weiter angewachsen. Sie drehte sich um lehnte sich ans Fensterbrett, sodass sie auf den Patienten im Krankenbett schaute. Sein Kopf war kahl geschoren, er war groß und offensichtlich muskulös. Sein Alter hätte sie nicht schätzen können, wenn sie nicht aus den spärlichen Informationen aus ihren Unterlagen gewusst hätte, dass er 49 war. Seine Augen waren zunächst geschlossen, doch sobald Holdon vor ihm stand öffnete er sie. Iris und Pupille waren so dunkel, dass sie nicht unterscheidbar waren.
„Die Kameras haben uns eigentlich ein ganz eindeutiges Bild geliefert“, begann Holdon, „wir hatten zuerst gedacht, dass Sie vorsorglich beschädigt worden waren, aber es hat sich schnell herausgestellt, dass sie erst nach der Explosion ausfielen. Alles davor ist klar zu erkennen. Man sieht, wie Sie um 23:55 Uhr auf der Perstraße im Loder Vorort Mühlen die Eldaner treffen, wie Amnadanirasun sie an der Wange berührt und zu ihnen spricht, wie Sie sie mit einem Schlag zu Boden strecken, wie sich Toktangnar zwischen Sie und der am Boden Liegenden kniet und die Hände hebt, wie Sie ihn mit einem Fußtritt ins Gesicht ebenfalls niederstrecken, wie Sie sich über die beiden beugen, etwas an ihnen machen, wie sie danach die Perstraße Richtung Wertbezirk weggehen und schließlich um exakt 00:00 Uhr etwas genau an der Stelle, wo die Eldaner liegen detoniert. Die Explosion reißt einen gewaltigen Krater in die Straße, darum herum gibt es keine Beschädigung, keine Steine, die weggeschleudert wurden, nicht einmal Sand. Was für ein Art Bombe war das?“ – „Diese technische Frage erscheint Ihnen am wichtigsten?“, fragte Ideirz. „Ich habe eigentlich nur zwei Fragen an Sie“, entgegnete Holdon. „Warum und wie? Welche Sie davon zuerst beantworten, ist mir egal.“ – „Das Wie würden Sie nicht verstehen. Noch nicht, vielleicht später, wenn ich Ihnen mehr erzählt habe. Sobald Sie es aber verstehen und wenn Sie mir glauben, kann ich eine ähnliche Detonation auch hier, in diesem Zimmer erzeugen“, sagte Ideirz. Holdon hatte das Gefühl, bereits in eine Falle gelaufen zu sein. Sollte sie wegen der angedeuteten Bombe Alarm schlagen? Aber es war unmöglich, dass er eine Bombe hierher mitgebracht hatte. Man hatte ihm bei der Einlieferung alles abgenommen und selbst seinen Körper auf mögliche versteckte Waffen und Modifikationen untersucht. „Bleiben wir dann zunächst bei einfacheren Dingen“, sagte sie schließlich, „wie sind Sie nach Mühlen gekommen? Haben Sie ein Taxi genommen?“ Ideirz lächelte. Seine Arme ruhten auf seinen Oberschenkeln, seine Gesichtszüge waren entspannt. „Die Eldaner haben mich dorthin gebracht.“ – „Wie haben sie das gemacht?“, fragte Holdon. „Was wissen Sie über die Eldaner?“, entgegnete Ideirz mit einer Frage. Holdon wusste, dass sie das Gespräch lenken sollte und dass sie im Begriff war die Führung zu verlieren. Sie ließ sich darauf ein. „Nicht viel. Schließlich hat auch die Wissenschaft in 50 Jahren noch kaum Erkenntnisse über sie gewonnen. Sie sind menschenähnliche Wesen, die Vorgeben so etwas wie eine Emanation des Wunsches der gesamten Menschheit zu sein. Erklären kann das niemand und sie selbst haben sich dazu nur einmal sehr vage geäußert. Also im Grunde wissen wir nichts, außer dem, was wir bei ihrem Auftreten sehen. Sie habe aber ihr gesamtes Wirken in den Dienst der Menschheit gestellt“. – „Wir kennen ihre Motive und Ziele nicht,“ sagte Ideirz, „seit 50 Jahren wissen die Menschen nicht, wie und warum die Eldaner getan haben, was sie getan haben. Warum glauben Sie dann, dass Sie meine Methoden und Motive verstehen werden können?“ Holdon zögerte einen Moment, dann sagte sie: „Wollen Sie mir weis machen, dass Sie ein Eldander sind?“ – „Nein, natürlich nicht, ich bin etwas anderes. Wissen Sie, dass die Eldaner Angst hatten?“, fragte Ideirz. „Wovor?“, fragte Holdon zurück. Ideirz lächelte wieder. Er erhob sich vom Bett und trat ans Fenster. Er schaute auf die Straße, wo sich noch immer die große Schar der Demonstranten befand. Sie waren ruhig geworden, doch als sie Ideirz am Fenster sahen, kam Bewegung in die Menge. Arme wurden erhoben und Finger zeigten auf ihn. Gemurmel verbreitete sich, wurde zu vereinzelten Rufen und schwoll zu einem wilden Geschrei an. Ideirz hob die Hand, als ob er die Menge grüßte. Daraufhin versuchten einige die Sperre vor dem Krankenhaus zu überwinden und die Polizisten hatten große Mühe, die Menschen zurückzuhalten. Holdon sah, dass es neue Aufschriften auf den Plakaten und Transparenten gab. „Kein Hausarrest für Mörder!“ las sie dort oder „Strafe gemäß dem Verbrechen. Jetzt!“ Ideirz setzte sich wieder auf sein Bett und sagte: „Verzeihen Sie bitte, aber ich bin noch sehr geschwächt von meinen Verletzungen und brauche jetzt Ruhe.“ Er legte sich hin und während Holdon etwas unsicher stehen blieb, drückte er den Rufknopf. Der Lärm auf der Straße wurde lauter und aggressiver, zerbrechendes Glas klirrte. Wenig später erschien eine Krankenschwester im Zimmer und sagte: „Frau Oberkommissarin, ich denke es reicht für heute, der Patient braucht noch viel Ruhe.“ Holdon nickte. „Ich komme morgen wieder,“ sagte sie und verließ das Zimmer.
Als Holdon den Eingangsbereich des Krankenhauses erreichte, bot sich ihr ein Bild, wie sie es nur aus Geschichtsbüchern und historischen Serien kannte. Ärzte und Krankenschwestern versorgten verwundete Polizisten. Die Demonstranten hatten die Glasscheiben des Haupteingangs zerschlagen und der Durchgang war mit Bänken und Tischen aus dem Wartebereich verbarrikadiert. Ein Krankenbett diente als Schleuse. Man schob es zur Seite, um verletzte Sicherheitskräfte hereinzubringen und diejenigen, die wieder stehen konnten, zurück in das Getümmel zu schicken. Ein wütender Mob rannte gegen die Barrikade an, angefeuert von der Masse der Demonstranten. Die Polizisten versuchten die vorderste Reihe der Angreifer davon abzuhalten, die Barriere einzureißen.
Holdon ging zu einer der verletzten Polizistinnen. „Wer hat das Kommando hier?“ fragte sie. Die Polizistin hob schwerfällig den Kopf. Eines ihrer Augen war verbunden, das andere stark geschwollen, ihre Lippen blutig. Sie sah Holdon an und sagte: „Ich weiß es nicht mehr.“ Holdon ließ nicht locker: „Wo ist der Rest eurer Einheit? Warum ist noch keine Verstärkung da? Habt ihr keine Wasserwerfer angefordert?“ Mühsam antwortete die Polizistin: „Wir mussten uns aufteilen. Die anderen stehen an Fenstern und anderen Eingängen. Wasserwerfer habe wir schon lange angefordert, aber die waren nicht einsatzbereit. Ich weiß nicht, wann Verstärkung kommt, ich habe mein Funkgerät verloren.“ Holdon nahm ihr Telefon und versuchte den FP-General Ōgawa selbst zu erreichen, aber sie kam nicht durch. Dann versuchte sie es im Regionalhauptquartier. Sie erreichte Polizeidirektor Malden. „Was wollen Sie?“, schrie dieser heiser. Holdon berichtete von der Situation und erfuhr, dass nicht genügend Polizisten im Dienst zur Verfügung standen und dass sie daran arbeiteten, Einsatzkräfte aus anderen Regionen und aus dem Urlaub zu holen. Die Wasserwerfer sollten aber jeden Moment eintreffen. Holdon schlug vor einen, Helikopter bereit zu halten, um notfalls den Verdächtigen an einen anderen, öffentlich nicht bekannten Ort bringen zu können. Malden schnaubte verächtlich. „Wir haben hier schon lange keine eigenen Helikopter mehr und ich weiß ehrlich gesagt nicht, wo ich einen, der in Reichweite steht, herbekommen könnte. Aber Sie könnten vielleicht einen bekommen, fragen Sie doch Ihren General.“ Dann war die Verbindung unterbrochen. Holdon hörte Sirenen. Sie stieg auf die Barrikade und sah durch einen Spalt, was draußen passierte. Drei Einsatzwägen mit Wasserwerfern fuhren auf dem Vorplatz des Krankenhauses in Position. Sie rief den Polizisten, die draußen standen, zu, hinter die Barrikade zu kommen und die Barrikade so gut es ging zu verstärken. Dann schoss das Wasser mit zwanzig Bar in die Menge und die Menschen stoben auseinander.
Nach etwa einer Stunde beruhigte sich die Lage. Verstärkung traf ein und es gelang, den Bereich unmittelbar vor dem Krankenhaus zu räumen. Sperren wurden aufgestellt und eine Pufferzone errichtet. Einsatzfahrzeuge hielten einen Zugang zur Sperrzone offen. Erst spät nachts konnte Holdon, das Krankenhaus verlassen.
Als sie in ihr Hotelzimmer kam, ließ sie sich erschöpft auf ihr Bett fallen, schloss die Augen und atmete einige Male tief durch. Dann aktivierte sie an dem Bildschirm über sich eine Verbindung in die Ostregion. Nach kurzem Warten erschien das Gesicht eines Mädchens im Teenageralter vor dem Hintergrund eines hellen, großen Wohnzimmers. Es saß an einem Tisch und hatte Kekse und Milch vor sich.
"Hallo Mama! Ist alles in Ordnung bei dir? Ich habe in den Nachrichten gesehen, dass dort bei dir die Hölle los ist. Wir haben uns Sorgen gemacht."
"Hallo meine Süße, ja, es war eine Zeitlang ziemlich schlimm, aber die Lage hat sich dann recht schnell wieder beruhigt. Jetzt ist alles unter Kontrolle und mir geht es gut."
"Ok, das ist gut, aber sei vorsichtig, ja? Ardan ist mit seinen Kumpels zum Strand gegangen. Ich gehe jetzt auch. Soll ich Papa holen?"
"Ja, bitte. Mach’s gut und viel Spaß."
Das Mädchen verschwand vom Bildschirm und kurze Zeit später erschien ein etwa 50-jähriger, unrasierter Mann mit etwas verschlafener Miene, aber sichtlich erfreut lächelnd.
"Hey, ich hab schon gehört, dass alles gut ist. Wir haben uns wirklich Sorgen gemacht, ich war die halbe Nacht auf und hab‘ Nachrichten geschaut."
"Ja, es ist alles okay bei mir, aber so etwas wie heute habe ich noch nicht gesehen. Alles ist seltsam: die wütenden Menschen, mit so einer Aggression, ich hatte nicht gedacht, dass es so etwas gibt. Und der Verdächtige ist sehr rätselhaft. Ich bin mir nicht sicher, ob ich irgendwas Sinnvolles von ihm erfahren kann. Seit einer Ewigkeit hat niemand bei uns so ein Verhör geführt, überhaupt eine richtige Vernehmung."
"Spricht er? Ich meine, ist er bereit, etwas zu erzählen oder blockt er alles ab?"
"Ich glaube, er würde schon sprechen, ich müsste ihn nur in die richtige Richtung lenken. Aber er schwafelt eher, sagt nichts Konkretes."
"Lass ihn reden, hab Geduld, je mehr er redet, desto mehr verrät er am Ende vielleicht auch, gewollt oder ungewollt."
"Ja, das habe ich vor, aber ich bin noch nicht ganz sicher, ob er gefährlich ist ..."
"Natürlich ist er gefährlich! Du hast doch erzählt, was er mit diesem Einsatzkommando gemacht hat. Du bist doch nicht alleine mit ihm und er ist ausreichend gesichert, ja?"
"Ja, ja, ich bin nicht in Gefahr bei ihm, alles ist gut gesichert. Ich muss jetzt ein wenig schlafen, bei uns ist es schon sehr spät und ich muss morgen wieder früh ins Krankenhaus. Ich melde mich dann wieder. Ich wünsch‘ dir einen schönen Tag, bis dann!"
"Mach’s gut und pass auf dich auf!"
Holdon bahnte sich ihren Ausweis vor sich haltend einen Weg durch die Sicherheitskontrollen in das Krankenhaus. Als sie Ideirz Zimmer betrat, war dieser nicht in seinem Bett. Die Tür zum Badezimmer stand einen Spalt offen und sie sah ihn nackt in der Dusche stehen. Er wurde von einer Krankenschwester behutsam um seine Wunden herum mit einem Lappen gewaschen. Wieder wunderte sie sich über sein Alter. Er war dünn und muskulös wie ein Leichtathlet. Er stand mit dem Rücken zur Tür, während sie ihn betrachtete. „Frau Oberkommissarin“, sprach er sie plötzlich an, „verzeihen Sie bitte, ich werde gleich bei Ihnen sein.“ Sie zuckte, als hätte sie ein Wecker aus dem Schlaf gerissen und sagte: „Das macht nichts, ich warte.“ Sie ging ans Fenster und blickte düster auf die Szene vor dem Krankenhaus. Die Demonstranten erhoben sich langsam wieder und die ersten Plakate wurden hochgehalten.
Ideirz kam in ein Krankenhaushemd gekleidet aus dem Badezimmer und stieg in sein Bett, ohne weitere Hilfe zu benötigen. An seinen Bewegungen konnte man keine Verletzungen erkennen. Die Schwester verabschiedete sich und sie waren allein. „Was wissen Sie über das Volk der Argura?“, begann Ideirz das Gespräch. „Die Argura? Sie meinen den Stamm der Ureinwohner des Nordkontinents?“, fragte Holdon. Ideirz antwortete: „Nun, ‚Ureinwohner des Nordkontinents‘ trifft es nicht ganz, obwohl sie recht haben, dass sie dort gelebt haben, lange bevor ein menschlicher Fuß diesen Boden berührt hat. Aber nicht nur auf dem Nordkontinent. Sie waren auf der ganzen Erde verteilt und hatten eine fortschrittliche Zivilisation, als es noch keine Menschen gab ...“ – „... doch Mutter Aras vertrieb sie vom Antlitz der Erde und schenkte das Land ihren Kindern, den Menschen“, unterbrach ihn Holdon salbungsvoll, „worauf wollen Sie hinaus mit diesen Mythen, die nicht einmal den Zeuginnen der Mutter wert schienen, sie in die Bibel aufzunehmen.“ Ideirz lächelte. „Ach die Bibel. Aber Sie kennen die Geschichten. Das ist gut. Als die Zivilisation der Argura in Kriegen unterging, zogen sie sich in die Natur zurück. Sie folgten dem Vorbild der Tiere, die sie als Spitze der Evolution sahen, da sie meinten, sie hätten allen unnötigen Ballast abgeworfen und die Essenz des Lebens gefunden. Dann beobachteten sie fasziniert die Entwicklung des Menschen. Es kam zu Konfrontationen – Sie kennen bestimmt die Geschichte vom ‚Betrug des Arguraners‘ – und sie entschieden sich, sich unter die Menschen zu mischen.
Wir alle tragen einen Bruchteil von ihnen in uns. Sie müssen wissen, dass ‚Argura‘ ‚Schöpfer‘ bedeutet. Sie waren einst körperlose Wesen die Sterne, Welten und Galaxien erschaffen haben, aber nur auf der Erde verbanden sie alle Urstoffe, alles, aus dem sie selbst bestanden, mit nur einer Regel: dem Zufall. Die Entwicklung reizte sie so sehr, dass sie alle anderen Welten vernachlässigten, und schließlich gerieten sie untereinander in einen Streit, wie es mit unserer Welt weitergehen sollte. Sollte man in die Entwicklung eingreifen, sie mit mehr Regeln lenken – viele meinten, als Schöpfer sei das das Wesen ihres Daseins – oder sollten sie einfach weiter beobachten. Ihr kollektives Wesen zerfiel in diesem Streit und nur ein Teil von ihnen konnte sich in körperlicher Form auf diese Welt retten. Ihre Fähigkeiten waren stark geschwächt, sie hatten keinen direkten Zugriff mehr auf die Elemente, mit denen sie früher frei hantieren konnten. Nur unter großen Mühen und in Zusammenarbeit konnten sie die Elemente, aus denen alles auf dieser Welt gemacht ist, noch beeinflussen.
Der Mensch aber machte ihnen Angst. Er war wild, irrational, gewalttätig, unkontrollierbar, aber auch zunehmend kreativ und geschickt ...“ – „Und die Eldaner waren ein Danaergeschenk der Arguraner und Sie haben die Menschheit gerettet“ unterbrach ihn Holdon, „und wenn Sie nicht gestorben sind ...“ Holdon seufzte. Das Gespräch schien ihr, reine Zeitverschwendung zu sein. Sie ärgerte sich, dass ihr dieser Auftrag übertragen wurde. Schließlich sagte sie: „Ich denke, ich habe vorerst genug gehört. Ich werde sie verlegen lassen, an einen öffentlich nicht bekannten Ort, dort warten Sie auf Ihren Prozess. Ich spreche dort wieder mit Ihnen. Eigentlich ist es egal, in welchen Anklagepunkten Sie letztendlich verurteilt werden. Mit den Videoaufzeichnungen und den getöteten Polizisten werden Sie den Hausarrest nie wieder verlassen.“ – „Gut“, antwortete Ideirz, „ich freue mich darauf. Hausarrest klingt sehr gemütlich oder glauben Sie, dass man für mich vielleicht wieder ein Gefängnis öffnen würde? Wie dem auch sei, ich werde nie einen Gerichtssaal betreten. Dafür entwickeln sich die Dinge zu schnell. Und besser als erwartet. Leben Sie wohl, Frau Oberkommissarin. Sie werden in Zukunft wieder mehr zu tun haben und vielleicht lernen Sie mit mehr Erfahrung auch noch die Kunst des Verhörs.“ Ideirz lächelte, lehnte sich in seinem Bett zurück und schloss die Augen. Holdon zögerte einen Moment auf ihrem Weg aus dem Zimmer und betrachtete ihn. Zweifel schlichen sich in ihre Gedanken, so sehr sie auch versuchte, sie abzuschütteln. Seit dem Auftreten der Eldaner, schien nichts mehr unmöglich, nichts zu absurd, um einfach abgetan zu werden. Auch an Ideirz war vieles wunderlich, sein mysteriöses agieren in den Videos, sein viel zu rascher Heilungsprozess ... konnte es sein ...“ Ideirz öffnete die Lider und sah Holdon in die Augen. Sie hatte ein Gefühl, als begänne der Raum schwankend zu rotieren. Er lächelte weiterhin und sagte: „Sie missverstehen übrigens. Ich bin die List, das Opfer und der Erlöser.“ Holdon musste sich an die Wand stützen, alles drehte sich vor ihren Augen, ihre Knie wurden schwach und sie stürzte zu Boden. Ideirz breitete die Arme aus, als wolle er sie umarmen. Da krachte es vor dem Krankenhaus zum ersten Mal. Beim zweiten Mal barsten die Fenster des Zimmers und gewaltiges Getöse und Gebrüll drang von draußen herein. Dann krachte es zum dritten Mal.
- Gestern kam es zu Ausschreitungen und Ausbrüchen von Gewalt in vielen Metropolen der Welt. In der Region Nordeuropa wurde sogar das Regionalparlament von einer aufgebrachten Menge gestürmt und ... Ich höre gerade, dass es neue Ereignisse vor dem Krankenhaus „Der Heiligen Mutter“ gibt, wo der Elda-Attentäter untergebracht ist. Wir schalten live zu Sadir Fadil. Hallo Sadir, wie ist die Lage bei euch?
- Hier sind alle Dämme gebrochen. Vor wenigen Augenblicken gab es hier drei Explosionen, die die Polizeiabsperrung vor dem Krankenhaus zerstört haben. Dabei wurden offensichtlich zahlreiche Polizisten getötet wurden. Der Vorplatz zum Krankenhaus sieht wie ein Schlachtfeld aus. Bereits nach der ersten Explosion sind hier die Demonstranten in die Pufferzone gestürmt und haben die Polizei angegriffen. Niemand hat mit so etwas gerechnet, es traf die Beamten völlig unvorbereitet, die eigentlich eine Beruhigung der Lage seit gestern Abend gesehen hatten. Wie wir mittlerweile sehen können, erfolgten die Detonationen bei den Wasserwerfern, die dadurch unbrauchbar geworden sind. Durch die Lücken in der Absperrung dringen auch jetzt noch wütende Menschen ein, die Polizisten wurden völlig überrannt. Wir können selbst nicht ins Krankenhaus, die Leute reagieren auf uns Medien sehr aggressiv. Wir befinden uns hier neben dem Haupteingang zum Krankenhaus. Wir können auch nicht mit Sicherheit sagen, was das Ziel des Mobs ist, der das Gebäude gestürmt hat, aber wir müssen annehmen, dass es um eine Art Lynchjustiz geht und ... Meine Damen und Herren, die Szenen sind grauenhaft, ich habe ... ich kann ... das Krankenhauspersonal wird hier offensichtlich aus den Fenstern geworfen ... und Achtung! ... Ein Wurfgeschoß hat gerade unsere Kamera getroffen, ich denke sie sehen kein Bild mehr. Kann man mich noch hören?
- Ja, Sadil, das Bild ist ausgefallen aber wir können dich hören.
- Ich berichte weiter. Soeben sind einige aus dem Gebäude wieder herausgekommen, einen Moment, ich höre ... Sie sagen, ‚sie bringen sie heraus‘ und ich sehe gerade eine Gruppe herauskommen, ... eine Gruppe der Aufrührer kommt soeben aus dem Krankenhaus, sie tragen etwas, es sind Menschen ..., es sind Leichen von Polizisten, auch eine Frau in Zivilkleidung, sie rufen etwas, ich verstehe es nicht genau ... ‚Polizisten‘, ‚Verräter‘, ‚Mörder‘ – genau kann ich es nicht sagen, jetzt kommt noch eine Gruppe heraus, einer trägt etwas vor sich, ich versuche näher zu kommen, um zu sehen ... bei der Mutter! Es ist ein Kopf, ich werde weggedrängt, die Menge jubelt euphorisch, es hat sich ein kleiner Kreis vor dem Eingang gebildet, wo einer der Anführer steht und der johlenden Menge den Kopf des mutmaßlichen Elda-Mörders entgegenhält. Meine Damen und Herren wir erleben hier das blanke Grauen in historischer Dimension. Ich sehe hier keine Menschen mehr, nur noch Bestien.