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Der Tod und das Mädchen
Kant sagt, der Instinkt sei die Stimme Gottes. Demzufolge handelt jedes Wesen, das seinen Trieben folgt, im Sinne Gottes und befolgt dessen Willen. Der Löwe, der die Brut seines Vorgängers kaltblütig tötet. Der Alligator, der sein Opfer schon in Stücke reißt, noch während es elendig ersäuft. Der Unsterbliche, der dem Sterblichen die Luft nimmt, während er ihn zu Tode trinkt. Gottes Wille.
Ich habe unzählige Nächte darüber nachgedacht, denn ich habe Zeit. Ich war Arzt, habe den Eid geleistet. Damals, in meinem Lichtleben. Nun bin ich nur noch dunkler Trieb, und keine Gasse des heruntergekommensten Viertels von Paris ist finster genug, um Gottes Stimme in mir zu ersticken.
***
Als ich zu mir kam, lief Schubert. Vielleicht hatte die Musik mich auch geweckt, das kann ich nicht mehr genau sagen, meine Erinnerung ist recht diffus. Als das Quartett zum 4. Satz anhob, öffnete ich meine Augen und erstarrte, als ich schemenhafte, metallne Ringe im Mauerwerk erkannte. Und Ketten, die mich daran fesselten. Ich versuchte, daran zu ziehen, doch ich war zu schwach. Meine Kraft reichte gerade, um meinen Arm leicht anzuheben. Erschöpft ließ ich ihn wieder fallen. Die Kette klirrte triumphierend, und ich spürte, wie die Bewusstlosigkeit, die in der Dunkelheit um mich herum zu lauern schien, mich erneut übermannen wollte.
Da hörte ich die Stimme hinter mir.
"Oh gut", sagte sie, "ich dachte schon, ich hätte es übertrieben."
Mein Puls schnellte nach oben; ich riss die Augen weit auf und starrte an das schemenhaft erkennbare Mauerwerk, versuchte, abzuschätzen, woher die Stimme kam, ob sie sich bewegte. Auf mich zu kam. Mich der Stimme zuzuwenden, das traute ich mich nicht.
"Ihr braucht Euch nicht zu fürchten", sagte die Stimme. Eine Männerstimme. Tief, rauh und jung. Und alt. Während ich noch panisch über diesen Widerspruch nachdachte, war da Bewegung. Ich hörte sie, bevor ich sie sah: Knirschen von altem Leder, dann Metall, das über Holz schabt. Schritte. Dann ein dumpfes Licht, das heller wurde. Mit jedem Schritt. Er kam in meine Richtung. Die Ketten klirrten, als ich mich mit letzter Kraft zur Wand schob, die Augen fest geschlossen.
"Junger Freund", sagte die alte junge Stimme nun direkt hinter mir. Er musste sich nieder gekniet haben. "Junger Freund, beruhigt Euch. Bin ich nicht auch gefangen, wie Ihr? Von mir müsst Ihr nichts befürchten. Entspannt Euch." Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter und öffnete die Augen, mehr aus Schreck als willentlich. Der flackernde Schein einer Kerze erhellte nun die Wand direkt vor meinen Augen, und ich erkannte, weshalb sich alles feucht anfühlte.
"Ist das ... Blut?", stieß ich hervor und starrte auf die rote Wand. Spürte die Lache, in der ich lag. Die ganze Zeit gelegen hatte.
"Ja, das ist Blut", antwortete dieser Mann, und während er sich die Pulsader seines rechten Armes bedächtig öffnete, fügte er hinzu, "Eures, um genau zu sein."
***
Sein Name war Larasse. Monsieur Hector Larasse, unehelicher Sohn einer Küchenmagd. Das mochte man gar nicht glauben, wenn man ihn sprechen hörte. Zeit bildet. Besonders, wenn man Jahrhunderte davon hat.
Larasse war es, der mich damals fast ausbluten ließ. Das nahm ich ihm jedoch noch nie übel, zumindest heute nicht mehr. Damals, in jener Nacht und noch einige Zeit danach, war das anders. Aber das lag wohl in der Natur der Dinge.
Eine Sache bringt mich bis heute zum Schmunzeln. In der kalten Oktobernacht im Jahre 1962, in der Larasse mich erschaffen hat, fragte ich mich keine Sekunde, weshalb ich in diesem alten, gemäuerten Verließ saß. Manche Dinge nimmt man in solchen Situationen wohl einfach hin - aber ich schweife ab.
Die Geschichte, die ich Ihnen nun erzählen werde, handelt vom Töten und Getötetwerden. Und vom Tod.
***
Ich habe ihn nur ein paar Male wirklich gesehen, den Tod. Wenn ich meinen Teil getan habe, gehe ich, bevor er kommt. In jener Oktobernacht, da sah ich ihn das erste Mal. Er war da, am Rande. Erst dachte ich, es wären nur Schatten, die das Kerzenlicht in die Ecken warf. Doch dann sah ich ihn. Bereit. Wartend. Nein, abwartend. Der Tod hat es nie eilig. Er weiß, dass seine Zeit kommen wird. Also wartet er einfach ab. Manchmal geht er wieder, da es noch nicht an seiner Zeit ist. Aber er kommt wieder. Irgendwann kommt er wieder. Auch zu mir wird er wohl noch einmal kommen. Endgültig. Denn entgegen der allgemeinen Annahme sind wir nicht unsterblich. Wir schmücken uns mit diesem Wort, nennen uns "Unsterbliche", doch ich habe schon Viele der Meinen sterben sehen, denn es passiert schnell, dass das Opfer schon tot ist, und man trotzdem von ihm trinkt. Es ist kein schöner Anblick. Der Tod jedoch sieht keinen Unterschied: Ob Sterblicher oder Unsterblicher, Seelenfaden bleibt Seelenfaden; sein Handwerk bleibt das gleiche, sein Werkzeug tut sich nicht schwerer. Nur der Weg, den er danach nimmt, unsere Seelen unter seinem weiten Mantel verstaut, dieser Weg, so sagt man, sei ein anderer.
Wurde man erwählt, hat man keine Wahl. Man sagt, man habe sie, doch das ist ein Irrtum. In jenem Augenblick, in dem sich die Zähne lösen, und der Unsterbliche die Worte spricht - in jenem Augenblick schon steht die Entscheidung fest. "Ich werde Dir eine Wahl lassen, die ich niemals hatte." Dies sind die Worte, so will es die Tradition. Dies sind die Worte, die auch ich hörte, bevor ich gierig das schwarze Blut des Hector Larasse trank, Tropfen für Tropfen. Wie Tausende vor mir. Tausende nach mir. Wir haben keine Wahl.
Um den Schmerz zu beschreiben, fehlen mir fast die Worte. Es ist dieser Moment, in dem man sich unweigerlich fragt, ob man nicht doch eine Wahl gehabt hätte. Es ist dieser Moment, der später jeden, der sich einen Gefährten schaffen will, dazu bringt, selbst der Tradition zu folgen und die Worte zu sprechen, aus Überzeugung. Als Warnung. Ein Schmerz, der keinen Zweifel lässt. Ein Schmerz, der dich zerschneidet wie heißer Stahl; rotglühend und zischend trennt er dich von dem, was du eben noch warst. Du saugst die brennende Luft ein, öffnest die Augen - und da ist sie, die Schwärze, mit der er Einzug in dich hält, ein in Dunkelheit gehüllter Trieb, ein Wollen - und du weißt, er wird nie wieder gehen.
***
"Das war unnötig", sagte ich, nicht zum ersten Mal. Es war der siebte Winter seit jener Oktobernacht, und die letzten Stunden hatten wir damit verbracht, Mademoiselle D'Ainci nach allen Regeln der Kunst - Larasses Kunst - aus der Welt zu schaffen. Nun saß er mir gegenüber, zufrieden, im Hausmantel, die Beine dem wärmenden Kamin entgegen gestreckt. Die Waschmaschine lief schon.
Er sah mich an und schüttelte den Kopf. "Wen habe ich mir da nur zum Gefährten gemacht", sagte er und kraulte Mimi, der Katze, den ihm zugestreckten Bauch. Sie schnurrte. "Euch fehlt der Sinn für Ästhetik, junger Freund", fügte er hinzu, "ja, ein gar absonderlicher Vampir seid Ihr. Es fehlt nur noch, dass Ihr Mimi die Ratten streitig macht. Oder tut er das schon, mein Herz?", fragte er, der Katze auf seinem Schoß zugewandt.
"Ich habe mir nie eine Ratte genommen", hob ich an, im Wissen, was nun kommen würde.
"Ratten, Tauben! Wo ist der Unterschied?" Ein herablassendes Lächeln begleitete seine Worte. "Noch nicht einmal wilde Tauben hattet Ihr gewählt. Euren eigenen Taubenschlag habt ihr genommen. Ein Feigling seid Ihr, Merlaux. Ein Feigling ohne Sinn für Ästhetik. Nicht mehr."
"Wie oft wollen Sie mir das noch vorhalten, wie oft noch?", entfuhr es mir. "Ich habe mich geändert, keiner weiß das besser, als Sie. Aber weshalb müssen es immer junge Frauen sein, wieso immer dunkle Gassen? Wozu das Spielen und Locken und Versprechen? Wozu all das, wenn Sie ihr Blut auch einfach so haben können?"
"Wozu?", fragte er und sah mich ungläubig an. "Sie schmecken besser. Ist Euch das entgangen?"
***
Den ersten Sterblichen nahm ich mir in meinem fünften Jahr. Es war eine verzweifelte Zeit; mein Hunger war ins Unermessliche gestiegen. Ich konnte nicht mehr anders, nie wieder; Gott hatte gewonnen. Seit jener Nacht also leben die Tauben, Katzen und Hunde dieser Stadt in Frieden. Jedoch halte ich mich zurück. Entgegen der allgemeinen Annahme, wir müssten jede Nacht nach Beute Ausschau halten, reicht es, wenn wir es zwei Male im Jahr tun. Ist das Opfer so groß und beleibt wie Michel Lepeaux, der Metzger, den ich mir wohlweißlich als meinen Ersten ausgewählt hatte, kommt man sogar fast über ein ganzes Jahr - vorausgesetzt, man bewahrt die Contenance. Hector Larasse war ein vorzüglicher Zeitgenosse, gebildet und sprachgewandt, in gewisser Weise auch von großer Tugendhaftigkeit. Contenance allerdings zählte nicht zu seinen Stärken. Wo er war, war der Tod. Und wo er sein Werk getan hatte, blieb der Tod länger, denn Larasses Jagd war schon lange nicht mehr nur Mittel zum Zweck; sie war ein Drama in drei Akten, seine Opfer der künstlerische Ausdruck seiner selbst.
Haben Sie schon einmal einen Geparden bei der Jagd gesehen? Seit ich zum ersten Mal einen solchen gesehen habe, faszinieren mich diese Geschöpfe. Studiert man ihre Jagd und reduziert die Geschwindigkeit, dann wird man sich der Gesichtslosigkeit ihres Tötens bewusst. Mir fehlten stets die Worte, um den tiefen Eindruck zu beschreiben, den ihre Jagd bei mir hinterlassen hat. Dann, in dieser Nacht im letzten Sommer, nahm ich mir das Buch zur Hand, welches mein letztes Opfer bei sich getragen hatte. Er war wohl ein Student, vielleicht auch nur mannigfaltig interessiert; meine Opfer trugen fast immer Bücher bei sich. Ich habe nun schon mehr als achtzig, ordentlich aufgereiht in Larasses altem Bücherregal. Ich erinnere mich, dass mir der rote Einband des Buches schon aufgefallen war, als ich mich dem jungen Mann im Parkhaus näherte. Er hielt es in seiner Hand, obwohl er eine Büchertasche trug. Später, als es getan war, der Geruch der Angst schon langsam verflog, und ich die Präsenz des Todes in meinem Rücken spürte, da nahm ich es mir. Ich ging, ohne mich noch einmal umzudrehen, denn der Tod braucht keine Zuschauer. Zuhause angekommen setzte ich mich - seit meiner Taubenzeit musste ich meine Kleidung hinterher nie wieder waschen - und begann zu lesen. Und nach einigen Stunden fand ich sie, die Worte, die die Seele der Jagd zum ersten Mal beschreiben konnten, ihr Legitimation verliehen: "Der Gepard ist versunken in fokussierter Intensität."
Versunken in fokussierter Intensität.
Ich dachte an meinen Mentor. An seine dunklen Gassen, an die von ihm forcierte Angst seiner Opfer, die das hervorbrachte, was er schwärmerisch 'Panikbouquet' nannte, an verzerrte rote Münder, "die Ästhetik des Todeskampfes", wie Larasse schwärmte, an formlose Überreste aus Fleisch, Blut und Knochen - an den Mauern, auf der Straße. Und an den Tod, wie er über Larasses Opfern verharrte. Verharren musste.
Ich las nicht weiter; Larasse kehrte von seinem nächtlichen Streifzug zurück. Als er die Tür der Waschmaschine mit einem Knall schloss, klappte ich das Buch zu. Ich schaute aus dem Fenster; die Entscheidung, die ich in jenem Moment traf, schien so hell und klar wie der Vollmond am sternenlosen Nachthimmel.
Das Opfer war schnell gefunden. Larasse bevorzugte junge, üppige Frauen, und Paris war voll von ihnen. Eine Sophie begleitete mich bereitwillig zur Unterkunft, in der Larasse und ich die kalte Jahreszeit zu verbringen pflegten; als sie jedoch das fahle Licht, die heruntergekommenen Mauern und die Tür sah, von der sich die uralte Farbe schon in großen Streifen ablöste, wurde sie unruhig. Es musste schnell gehen. Während ich trank, tastete ich nach ihrem Herzschlag. Als er verstummte, wusste ich, dass nicht viel Zeit blieb, denn er war schon da, der Tod. Doch stand er nicht hinter mir, wie er es sonst zu tun pflegte: Er war zwar da, jedoch am Rande, wie in jener Nacht, in der ich erschaffen wurde. Im Schatten der monderhellten Mauer stand er, und schaute mich an. Mir blieb nicht viel Zeit; die junge Sophie musste noch warm sein, sonst würde Larasse mein Spiel durchschauen und nicht von der Toten trinken. Jedoch erinnere ich mich an diesen Moment, in dem ich regungslos in der Tür stand, die leblose Sophie auf meinen Armen, und in die Schatten schaute - und der Tod nichts tat. Er wurde zu meinem Komplizen.
Larasse ahnte nichts. Es ging so schnell, dass ihm noch nicht einmal Zeit blieb, ein Kunstwerk zu beginnen. Der Tod tat still sein Werk. Welchen Weg er danach nahm, weiß ich nicht mehr.
Ich war nun allein.
***
Vielleicht bin ich der männlichen Gesellschaft überdrüssig. Wir Unsterblichen belästigen einander zwar nicht und lassen einander Raum; ab und an jedoch, wenn es die Etiquette verlangt, kommen wir für ein Mahl zusammen. Und Larasse war nicht der einzige Ästhet, das wusste ich schon bald. Ich habe zu viele Kunstwerke gesehen. Frauen, so sage ich mir, sind anders. So habe ich es jedenfalls in Erinnerung. Aber es ist lange her, dass ich Zeit mit Frauen zweckfrei verbracht hätte. Ich muss es jedoch wagen; ich will nicht länger alleine sein.
Ich lasse Schubert laufen, sein Streichquartett Nr.14, und denke an die Nacht, in der ich die Wahl gehabt hätte. Der vierte Satz beginnt, jagt durch das alte Gewölbe; es kann nun nicht mehr lange dauern. Ich warte. Als ich in den Schattenspielen versinke, die die Kerze auf dem alten Tisch vor mir an die Wand wirft, sehe ich ihn. Abwartend. Er wird wiederkommen müssen, der Tod, das weiß er, denn das Mädchen wird heute noch nicht gehen. Und doch ist er da und schaut mich an. Er war auch da, als ich an diese Wand gekettet war. "Was willst du?", frage ich ihn, doch er antwortet nicht.
Die Ketten klirren. Es ist so weit. Ich gehe zu ihr und knie nieder.
Madeleine, beruhigen Sie sich. Haben Sie keine Angst, die Schwäche wird gleich vorüber gehen. Bitte, bleiben Sie wach. Ja, ich werde Ihnen die Ketten gleich abnehmen, doch erst möchte ich Ihnen etwas geben. Ein Geschenk.
Ich öffne den rechten Ärmel meines Hemdes, dann meinen Arm. Und während ich die Worte spreche, wie es die Tradition will - wie ich es will - und das Mädchen keine Wahl hat, schaue ich in die Schatten. Der Tod ist nun ganz nah; einen Augenblick denke ich, er habe mir zugezwinkert. Doch bevor ich mich darüber wundern kann, überrascht es mich erneut.
Dass es noch dunkler werden würde, konnte ich nicht ahnen.