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Der Tunichtgut vom Grindelwald
Vor Zeiten lebte, tief im Grindelwald, ein rechter Tunichtgut.
Holz und Reisig waren knapp, der Winter jedoch bitter, und als die Beeren aufgebraucht, der Nüsse nur noch wenige, trat seine Frau, gebeugt und gram, des Abends in die Hütt' und sprach: "Ach!", womit diese Episode ihren Abschluss gefunden haben soll, zumal sich die Ereignisse andernorts förmlich überschlugen.
Sören Hagedorn-Wolff, zum Beispiel, war ein gemachter Mann.
Seit er vor zwei Jahren Eisen Wolff übernommen hatte, sprühte er nur so vor Ideen - durch die Einführung der von ihm im Alleingang entwickelten polierten Vollgusszwicke, die sich als echter Verkaufsschlager erwies, da sie anderen Zwicken gegenüber den Vorteil besaß, poliert und aus einem Guss zu sein, waren die Gewinne in siebenstellige Bereiche vorgedrungen. Er besaß eine Jugendstilvilla bei Hannover, fuhr einen Aston Martin und aß gern fränkische Spezialitäten.
Aufgrund einer Raum-Zeit-Anomalie wachte er eines Morgens in dem kleinen Örtchen Birnbach des Jahres 1508 auf, was er, im Gegensatz zum auktorialen Erzähler, natürlich nicht wusste, (aus seiner Sicht hätte er sich auch im Freilichtmuseum Molfsee befinden können, obwohl er dieses noch nie gesehen hatte, aber dasselbe traf selbstverständlich und erst recht auf das kleine Örtchen Birnbach des Jahres 1508 zu).
Nun verhielt es sich mit der erwähnten Raum-Zeit-Anomalie so, dass sie eine von der besonders tückischen Sorte war, man könnte auch von einer unerhörten Raum-Zeit-Anomalie sprechen, denn sie versetzte SHW nicht nur an einen anderen Ort und in eine andere Zeit sondern gar in eine andere Zeitlinie, was zur Folge hatte, dass er sich zwar im Örtchen Birnbach des Jahres 1508 befand, jedoch in einem Örtchen Birnbach des Jahres 1508, in welchem elektrische Bohrmaschinen bereits ebenso zur Grundausstattung eines gut organisierten Haushaltes gehörten wie Fernbedienungen für High End Receiver, wobei Letztgenannte interessanterweise noch unbekannt waren. Darüber hinaus war Neuseeland bereits entdeckt und ein beliebtes Urlaubsziel für den solventen Reisenden.
SHW erlebte Tage der Verzweiflung, an denen er ziellos durch unbekannte Wiesen und Wälder, wie etwa den Grindelwald, jaha, lieber Leser, so schließt sich der Kreis, was, oder, jaha, Scheiße, alter Nörgler, es haut nämlich doch hin, irgendwie, wie, streifte, Hunger und Durst litt und sich nach einer gewissen Jungfer Lise sehnte, die ihm, kurz nach seiner Ankunft, einen Laib Brot und ein Krüglein Ziegenmilch gereicht hatte, um dann spurlos aus dieser Geschichte zu verschwinden. Vor einem Wirtshaus namens "Die goldene Amsel" machte er Halt und lauschte dem Stimmengewirr, als plötzlich die Tür aufgestoßen wurde und zwei junge Burschen ausspie, die sich eifrig händelten. Während der eine mit einer elektrischen Bohrmaschine, deren Netzstecker nutzlos durch die Gegend baumelte, auf den anderen einzustechen versuchte, schlug dieser mit einer High End Receiver-Fernbedienung nach jenem, und zwar unter den wüstesten Beschimpfungen, wobei "Nimm das, Schurke!" noch zu den harmloseren zählte. SHW sprang flink aus der Reichweite der Raufbolde, doch wurde er, noch im Sprunge, von einem Gegenstand am Kopf getroffen und mit unwiderstehlicher Macht von den Beinen geholt. Reflexartig griff er nach dem Geschoss, bekam es zu fassen und betrachtete es ungläubig: Es war ein Apfel, rot und grün, auf dem ein kleines Schildlein mit der Aufschrift "Braeburn New Zealand" klebte.
Dann schwanden ihm die Sinne.
Während seiner Ohnmacht machte die Raum-Zeit-Anomalie wieder auf sich aufmerksam, und zwar dergestalt, dass SHW in sein Bett in der Jugendstilvilla bei Hannover zurückversetzt wurde - unserer Tage, es war früher Nachmittag -, und nach einigen Minuten verwirrt aufwachte.
"Was für ein beschissener Traum", knurrte er, drehte sich kopfschüttelnd zur Seite und ging, soweit möglich, in Gedanken die jüngsten Bilanzen durch.
Wir jedoch, die wir nun Einblick haben in die wahren Begebenheiten, atmen tief und bedächtig, und unser wissendes Lächeln wird zart umspült von Melancholie und dem Schauder der Ehrfurcht vor den Dimensionen.