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Der Tunnel
Nach außen hin, für alle sichtbar, warst du stets das Stehaufmännchen. Jeder Tiefschlag, so schien es, hat dich ein kleines bisschen stärker gemacht.
Wer die Mauer jedoch wahr nahm, die du mühsam um dich gebaut hast, konnte erkennen, dass es doch nur eine brüchige Fassade war hinter der du versuchtest dich zu verstecken.
Jene Menschen die um dich gekämpft haben, hast du mit Füßen getreten. Und doch ließen sie dich niemals fallen.
Jeder, der dich geschlagen hat, war dein Freund. Der Schmerz gab dir das Gefühl noch am Leben zu sein. Und letztendlich suchtest du Zuflucht im Alkohol, um die Schmerzen überhaupt noch ertragen zu können.
Du warst Freundin, Lebensgefährtin, Schwester, Mutter und Tante. Für jeden stelltest du das dar, was gerade verlangt wurde. Dich selbst hast du dabei vergessen, weil du es allen recht machen wolltest. Und alles nur, um geliebt zu werden, um auf dich aufmerksam zu machen.
„Jeder der dich liebt oder gern hat, versucht auf dich und deine Probleme einzugehen. Und genau das ist es, was du nicht ertragen kannst“, sagte ich vor langer Zeit einmal zu dir. Deinen vernichtenden Blick habe ich bis heute nicht vergessen. Die Wahrheit konntest du noch nie ertragen, was du dadurch noch verdeutlichtest, indem du immer neue Lügen von dir gegeben hast.
Tag für Tag , Nacht für Nacht, stehst du mir gegenüber. Ich sehe deine Augen, die vor Lebensfreude nur so strahlen und doch deinen Kummer erahnen lassen, höre deine Worte, die nur Lügen beinhalten, und trotzdem die Wahrheit nicht verbergen können.
Du bist kein Stehaufmännchen mehr, wie du vielleicht noch immer von dir behauptest. Du bist am Ende. Am Ende des Tunnels, an dessen Ende ich schon seit langem auf dich warte.
Den Entzug in der Therapie hast du nur neun Tage lang durchgehalten. Ent-zug, wie falsch sich das in meinen Ohren anhört. End-Zug wäre wohl das passendere Wort, was auf dich zutrifft. Es ist der letzte Zug auf den du aufspringen konntest. Selbst wenn du nur den letzten Wagon erwischt hättest, den ganz am Ende der Reihe. Es wäre das Ticket in die Freiheit für dich gewesen.
Der Zug wäre durch den Tunnel gefahren, um dich in ein neues, besseres Leben zu bringen. Du hast die Chance nicht wahr genommen und balancierst nun waghalsig auf den Gleisen in die falsche Richtung.
Ich stehe am Ende des Tunnels, sehe in die Dunkelheit hinein, erkenne ein schwaches Licht am anderen Ende und warte auf dich. So, wie ich es schon die letzten zwei Jahre getan habe, nur um endlich ein Lebenszeichen von dir zu erhalten.