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Der Vater
Es war kurz nach Mitternacht. Heinrich saß noch immer in der Mitte des Zimmers und las. Die Tischlampe leuchtete schwach. Einzelne Möbel warfen lange Schatten. Das Buch in den Händen, lehnte er sich zurück, legte ein Lesezeichen hinein und schloss es.
„Tonio Kröger“ stand, mit großen Buchstaben, über einem impressionistischen Gemälde auf der Vorderseite. Dann legte er das Buch zur Seite und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch. Er faltete die Hände, und legte sein Kinn hinein. Dann schloss er die Augen.
„Weißt du, eines wollte ich immer schon von dir wissen. Warum bist du immer so traurig?“
„Ich bin nicht traurig, Anna, ich-„
„Doch, bist du! Immer, wenn ich dich alleine sehe, schaust du nach unten. Warum kannst du nicht mal lächeln?“
„Ich -- ich --“
„Sei ehrlich…“
Er antwortete nicht gleich.
„Es ist für mich alles nicht so einfach, Anna.“
„Es sind deine Eltern, stimmt’s…“
„Ja, sie wollen dass ich immer nur pauke. Nur pauken. Wenn ich fertig bin, dann wollen sie, dass ich Jura studiere.“
„Und das willst du nicht…“
Er senkte den Blick.
„Weißt du noch, Meursault vor dem Gericht? Das war meine Jura-Stunde!“
„Ja, ich weiß noch. Die Sonne war schuld.“
„Sonne, du klagende Flamme!“
Sie lächelte, lehnte sich vor und sah ihm direkt in die Augen.
„Weißt du noch, bei deinem Gretchen-Gedicht? Da haben fast alle geweint!“
„Naja, ganz so war’s nicht. Aber hey -- ich glaube du warst kurz davor!“
Sie zuckte ganz leicht zusammen und er tat so, als ob er es nicht bemerkt hätte.
„Ja… Und als du beim Literaturquiz fast Frau Grubach geschlagen hättest?“
„Ja, das war was!“
„Heinrich…“
„Ja?“
Sie zögerte.
„Heinrich, was ist mit deinens Eltern?“
„Sie wissen nichts davon. Sie spüren das nicht.“
„Jura ist nicht dein Ding, du kannst dich nicht für sie da durchquälen! Du musst es ihnen sagen! Versuch’ es!“
„Ja, aber … ich weiß nicht.“
„Du musst! Heinrich, wenn sie wissen, wie gut du bist -- sie können es dir nicht abschlagen!“
„Meinst du wirklich?“
Wie es weht tat, sich daran erinnern zu müssen! Ach Anna! Sie war der Grund gewesen, warum er mit dem Schreiben angefangen hatte. Gretchen. Sie war immer warm und freundlich, auch zu ihm. Immer so nachdenklich und gefühlvoll -- er hätte alles für dieses Mädchen gegeben! Damals, vor einem Jahr, da hätte er sie fragen müssen! Sie waren zusammen bei Freunden gewesen, und Anna hatte gesehen, wie er alleine am Tisch saß. Und sie war zu ihm gekommen. Könnte er nur diesen Abend noch einmal zurückholen! Warum hat er ihr damals nicht gesagt, wie er sich fühlte? Er sah sie an und sprach von seinen Eltern, und dabei wollte er von ihr sprechen.
Er schob ein dickes Buch vor sich, das offen auf seinem Tisch gelegen hatte. Morgen hatte er Prüfung, also durfte er sich jetzt nicht in Erinnerungen verlieren, wie Willy Loman -- das würde nicht gut enden. Und Morgen war eine Schlacht war zu gewinnen!
Heinrich las ein Paar Seiten, die er markiert hatte. Es ging um Formen der Landwirtschaft, um irgendwelche Bodenminerale und Regenwald und Ozonschicht -- er gähnte. Dann kamen Papierfabrik und Waldsterben, Transportkosten und Umweltverschmutzung -- ach wäre er nur nicht so ein Feigling! Nur weil die Eltern nicht wollten, dass er sich mit dem Mädchen trifft. Mit Mädchen überhaupt. „Nach der Schule“, hatte ihm einmal der Vater gesagt, „Nach der Schule meinetwegen. Aber nicht vorher.“
Heinrich nahm die Brille ab und legte das Gesicht in beiden Handflächen. Er spürte die Tränen auf der Haut. „Warum? Was mir am meisten bedeutet, das darf ich nicht!“
So weinte er wohl einige Minuten, ganz leise. Dann wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht, versicherte sich, dass sein Vater nicht hinter ihm stand, und lehnte sich im Stuhl zurück. Er starrte auf die Decke.
„Muss denn das so sein, dass das, was des Menschen Glückseligkeit macht, wieder die Quelle seines Elends würde?“
Er wiederholte den Satz dreimal für sich. Er, er war für den Schreibtisch bestimmt. Und Anna nicht für ihn.
---
Schließlich kam der Tag, an dem die seine ganze Arbeit belohnt wurde. Sein Abitur war sogar etwas besser, als er es angenommen hatte.
Er trug die alte Schultasche, während er die Straße entlang ging. Er eilte nicht, und in seiner Brust wohnte eine ehrliche Freude, seinen Eltern das Papier zu zeigen. Er ging ganz aufrecht, federnd, und mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Nie im Leben würde er dieses Gesicht verlieren wollen, denn jetzt war er ein freier Mann, frei in seinen Entscheidungen.
Zwei Tage später setzte sich auf das kleine Sofa im Wohnzimmer. „Vater, Mutter!“, rief er sie zusammen „Kommt bitte her, kommt!“ -- „Was ist?“, entgegnete ihm der Vater aus der Küche, während er beim Lesen gestört wurde. „Kommt einfach her, ich muss mit Euch sprechen.“
Widerwillig hörte er den Vater die Zeitung zur Seite legen, und auch die Mutter wusch sich die Hände. Dann kamen sie ins Zimmer und setzten sich, der Vater immer noch mit seiner Zeitung in der Hand. Er begann, zur allgemeinen Belustigung eine seltsame Meldung vorzulesen, doch Heinrich unterbrach ihn.
„Ich möchte euch etwas sagen. Ich habe mich entschieden, in England zu studieren. Ich habe mich bereits nach Stipendien erkundigt, und wirklich alles, sämtliche Gebühren, können erstattet werden. Wir müssen nichts bezahlen, und ich kann dort studieren.“
„Was für ein -- ein Unsinn!“, sagte der Vater, während er mit den Augen noch auf dem Blatt war, „du bleibst hier, studierst hier!“ -- „Nein.“
Der Vater schaute ihn an. „Was ist los?“, sagte er mit erhobener Stimme. „Du weißt, dass die hier ordentlich Recht unterrichten, das haben wir doch herausgefunden.“
„Nein“, bestand Heinrich. „Ich werde nicht hier bleiben, sondern ich werde nach England gehen. Und ich werde Literatur studieren.“ -- „Du bist verrückt“, entgegnete der Vater. Seine Stimme hob sich. „Du spinnst ja!“
Eine Stille lag für einige Sekunden im Raum, nachdem die Vase in der Mitte des Zimmers ausgeklungen hatte.
Mit fester, strenger Stimme, nahm der Vater die Diskussion wieder auf.
„Heinrich, du bist vielleicht schon zwanzig Jahre alt, und es ist dein Abitur und nicht meins, aber du bist immer noch mein Sohn. Ich lasse nicht zu, dass du aus irgendeiner Laune heraus das alles zerstörst! Du wirst hier studieren, wo ich dich sehen kann, und du wirst auf keinen Fall irgendeinen Schwachsinn aus deinem Leben machen, das lasse ich nicht zu. Verstanden?“
Heinrich kämpfte gegen Tränen an. Der Vater fuhr fort: „Hör zu, du hast hier an der Universität schon so viel gemacht, du hast Verbindungen! Du weißt bescheid, wie es abläuft! Es wird viel leichter sein für dich. Und für uns. Wenn du nach England gehst, bekommst du Schwierigkeiten -- mit der Sprache, die Ordnung ist anders, ich kann dir dann nicht helfen! Lass doch diesen Literaturquatsch, du machst Jura, das ist sicher und anständig.“
Heinrich ließ seinen Vater ausreden. Dann setzte er mit fester stimme noch mal an.
„Vater, du weißt, dass ich gut bin in Englisch. Und ich kann lesen, und dumm bin ich auch nicht. Ich werde dort klarkommen, das verspreche ich dir.“ Seine Stimme war sanft jetzt und sicher. „Du musst mich gehen lassen, bitte!“
Mit einem Schluchzen brach Heinrichs Mutter die Stille. Dann war wieder nichts zu hören.
„Nein, Heinrich, du bleibt hier! Schlag dir das aus dem Kopf.“ Die Ruhe in der Stimme des Vaters war verloren. „Schlag dir das aus dem Kopf, verstanden!“
Der Vater schrie, stampfte mit den Füßen und warf die Zeitung auf den Boden: „Ich sagte, du bleibst hier! Hier!“ -- „Ich fahre nach England!“ -- „Du fährst nicht weiter als mit der zehn und der achtundzwanzig!“
-- „Nein, nein!“ -- „Komm her, ich schlag dir das aus der Birne!“
Seine bloßen Zähne waren zu sehen, und er hob die Hand zum Schlag und trat einen Schritt vor. Doch dann schloss er plötzlich die Augen mit verzerrtem Gesicht, als ob ihn jemand geschnitten hätte. Dann zog er langsam die Hand wieder zurück. Er griff sich in die Haare, und für einige Sekunden lag eine große Spannung in seinem Gesicht. Dann gab er die Stellung auf und setzte sich zurück in den Sessel.
„Das kann nicht wahr sein“, sagte er mit den Händen im Gesicht. „Kann nicht sein“.
Heinrich kniete sich vor ihn hin und legte seine Hände auf die Schultern „Aber--“ „Geh weg!“, brach der Vater aus, und drückte Heinrich von sich weg. Heinrich verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken, und die Mutter gab einen Schrei von sich. „Hau ab! Hau endlich ab!“. Seine Stimme bebte, und große Mann weinte.
Heinrich stand wieder auf und sah ihm ins Gesicht. „Vater, du musst mich gehen lassen! Denk nur, was ich alles machen kann. Du musst. Vater, du musst!“
Der Vater sammelte sich wieder. „Du gehst nicht. Du bleibst hier. Sonst bist du nicht mehr mein Sohn.“ -- „Vater --“ -- „Mach keinen Fehler. Sonst bist du nicht mehr mein Sohn.“
„Ich werde gehen. Ich liebe dich, aber ich werde gehen.“