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Der Wächter der Mauer

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20.01.2022
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Der Wächter der Mauer

1.Januar, 6:15 Uhr:
Ich saß draußen, alleine. Nichts als Stille. Ich saß also auf meinem Baumstamm und beobachtete, wie langsam die Tropfen von den Blättern jener Pflanzen und Bäume herunterliefen, welche den Anfang des kleinen Wäldchens bilden, der sich quer durch unser Dorf erstreckte. Die Tatsache, dass es soeben noch geregnet hat, störte mich nicht, im Gegenteil: Ich liebe den frischen Duft der nassen Natur, den Glanz, den die Tropfen der dankbaren Vegetation verleihen. Dass ich um diese Zeit wach war, war eigentlich völlig normal. Für gewöhnlich ist jedermann hier bereits wach und bereitet sich auf seine Arbeit vor, wenn er denn nicht schon mitten in ihr steckte. Doch so nicht heute. Heute schlief mein Heimatdorf. So eigentlich wie jedes Jahr am 1. Januar, wenn alle sich von den Strapazen und Vergnügungen der Neujahrsfeier erholen. Alljährlich trifft sich das gesamte Dorf versammelt am Marktplatz, um nach der obligatorischen Ansprache des amtierenden Bürgermeisters sowie einigen mehr oder weniger bedeutsamen Politikern sich bei schlechter Musik und billigem Alkohol bis zur Bedingungslosigkeit zu betrinken. Jedes Jahr um dieselbe Zeit setze ich mich auf die draußen zum Heizen gelagerten Baumstämme, und dachte gedankenversunken an meine Zukunft. Ich fragte mich, ob es mir eines Tages wohl gelingen mag, all dem hier zu entsagen. Ich erinnerte mich gerne daran, wie mein Großvater in seinem Tagebuch Eindrücken und Erlebnisse aller Reisen dokumentierte, die er zu Lebzeiten unternommen hat. Neben dem ziemlich konfusen und abstrusen Quatsch, den er wohl in seiner auf seinen alten Tagen sich abzeichnenden Altersverwirrtheit niederschrieb, waren es unglaubliche Impressionen, welche ich noch immer vor meinem geistigen Auge sehen kann. Ich erinnerte mich noch, wie ich, als ich als kleiner Junge seine Memoiren erstmals zu Gesicht bekam, von den Meeren aus Sand und dem Wasser aus Feuer las. Was genau damit gemeint war, wusste ich nicht: Ich schätze mal, irgendwelche exotische Naturerscheinungen. Ich schenkte dem Text damals wenig Aufmerksamkeit, die Bilder jedoch brannten sich vehement in meine Erinnerungen ein. Leider durfte ich mir seit jenem Tage das Tagebuch meines Opas nicht noch einmal anschauen. Jedes Mal, wenn ich meine Eltern danach fragte, fanden diese allerlei offenkundig sinnfreie Begründungen. Als ich einmal in einem der ernsteren Momente meinen Vater erneut mit meinem Wunsch konfrontierte, sagte er, dass meine Mutter und mein Vater nicht möchten, dass ich mich von den sich darin bizarren und wahnwitzigen Schriften meines Opa zu sehr irritieren lasse. Ich konnte den Hintergrund dieser Antwort ehrlich gesagt nicht ganz verstehen, wusste aber, dass es bei dem bestimmenden Unterton in der Stimme meines Vaters keinerlei Sinn gemacht hätte, weiter nachzuhaken.
Als ich vor unserem bescheiden Haus saß, vor mich hin träumen, wurde ich urplötzlich von einem Geräusch aus meinen Gedanken gerissen. Genauer war besagtes Geräusch eine Stimme, die mir überaus vertraut war. "Wie geht es dir?" Es war Juliet. Sie setzte sich neben mich, und fixierte mit ihren dunkeln Augen die meinen. Ich nickte ihr darauf hin dezent zu und signalisierte ihr, dass es mir gut ginge. Ich frage, warum sie denn schon wach sei und nicht wie die anderen noch ihren Rausch ausschlief. Sie antwortete: "Nachdem wir beide uns gestern verabschiedeten, bin ich nicht mehr zu den anderen zurückgegangen, sondern habe mich schlafen gelegt." Ich lächelte sie einen kurzen Augenblick an, danach verdanken wir beide in Schweigen. Schließlich erinnerte ich mich, was meine erste Tagesaufgabe heute war. "Ich mache mich jetzt auf den Weg in den Wald außerhalb, um Holz zu holen. Wenn du magst, könnten wir uns ja später nochmal treffen." Sie entgegnete, dass Sie gerne mitkommen würde, um mir zu helfen. Als ich freundlich-dankend ablehnte, brachte sie an, dass es ohnehin schlauer sei, jemanden mitzunehmen. Schließlich gab es ja schon des Öfteren Unfälle und tragische Vorkommnisse im Wald außerhalb des Dorfes. Tatsächlich ereignete sich schon so manch unerklärliche Begebenheiten, welche normalerweise mit dem zufälligen Auffinden einer Leiche einhergeht, die ich leider jedoch nie zu Gesicht bekommen durfte, egal wie flehend ich darum gebeten hätte. Mich fürchten, tue ich dennoch nicht. Ihr zu verweigern, mitzukommen, wollte ich aber auch nicht, da sie mich wie so oft mit ihren großen und innig darum bittenden Augen ansah. Warum genau sie unbedingt darauf bestand, wusste ich nicht, dennoch willigte ich ein und deutete an, dass ich nur noch einen Moment ins Haus gehen müsse, um entsprechende Ausrüstung zu holen.

1.Januar, 7:20 Uhr:
Mittlerweile hatten wir etwa die Hälfte des Weges geschafft, als uns ein leider nur zu vertrauter und doch stets amüsanter Anblick zum Lachen brachte. Rainer, der wohl die aktuelle Wachschicht übernahm, zumindest rein hypothetisch, lehnte in voller Wachmontur und bewaffnet gegen das Tor, welches den Eingang zu meinem Heimatdorf bildet; neben ihm eine lange Reihe von gelehrten Spirituosen aller Art. Da wir es vermutlich nicht vermochten, den etwa ein Meter neunzig großen Rainer kräftiger Statur ohne ihn zu wecken, mal eben ein Stück zur Seite zu tragen, tippte ich ihn sachte und behutsam gegen seine orangefarbene Dienstuniform. Als er jedoch nach unzähligen Versuchen nicht erwachen wollte, holte Juliet kurzer Hand aus und gab ihm eine ambitionierte Ohrfeige, die endlich Wirkung zeigte. Gemächlich öffnete er seine grünbraunen Augen und blickte uns fragend an. Wir beide mussten uns ein Lächeln verkneifen, da es für gewöhnlich keiner so ohne Weiteres sich gewagt hätte, Rainer derart forsch zu wecken. Als ich ihm erklären wollte, dass ich zum Holzhacken das Dorf verlassen müsse, schien er mir nicht wirklich Gehör zu schenken, entscheid sich aber immerhin dazu, sein Alkoholrausch zwei Meter versetzt weiter auszuschlafen, was uns ermöglichte, das Tor zu passieren. Ich dachte mir nur, im Falle, unsere etwa 14800 Mann starke Provinz würde wahrhaftig mal einem Angriff trotzen müssen, wäre die extra dafür, meines Ermessens nach ohnehin überflüssig, aufgestellte Sicherheitsgarnison in neunzig Prozent der Fälle vermutlich kaum mehrwertbringend. Ich verstand ohnehin nicht, warum man für die Größe der Provinz an allen vier Ausgängen sowie in regelmäßigen Abständen auf der Mauer Soldaten und zusätzlich Patrouillen innerhalb unseres Örtchens bräuchte, da es hier, soweit ich sagen kann, in den letzten 400 Jahren partout kleine bewaffnete Auseinandersetzung gab. Ebenfalls konnte ich nicht begreifen, warum man die seit Ewigkeiten bestehenden Mauern, welche uns lückenlos umschlossen, nicht allmählich mal abzureißen begann. Der Siedlungsraum innerhalb dieser etwa sechs Meter hohen Begrenzung wurde langsam ziemlich knapp. Auch verlief dieses, in Bezug auf die Fläche und Wichtigkeit unseres Dorfes, überraschend massive Bollwerk mitten durch von lokalen Wirtschaftsmagnaten und allerlei anderem Gesindel begehrte Ackerflächen. Trotz dessen bestand die Obrigkeit unerbittlich darauf, diese zu be- und erhalten, ja sogar extra eine eigene militärische Einheit wurde nur für diesen Zweck ausgehoben. Wann immer jemand die Entscheidungsträger dafür fragte, faselten diese nur offensichtlich erdichtetes Zeug von wegen "Tradition" und so weiter.

1.Januar 8:45:
Aufgrund dessen, dass mir ,in meiner ab und an durchaus recht unbeholfenen und komplentativen Art, der Karren, welchen wir üblicherweise zum Transport von schweren Gütern nutzen, auf dümmste Weise verunglückt ist, verringert sich die Masse an mitzuführendem Material immens. Wir beide befüllten als unsere zu Rucksäcken umfunktionierten Beutel randvoll. Natürlich waren wir gezwungen, die gefällten Baumstämme bereits vor Ort in eine geeignete Größe zu überführen, um sie nach Hause befördern zu können. Aber da Juliet aus unerfindlichen Gründen darauf behaarte, mir helfen zu wollen, ging die eigentlich ziemlich schweißtreibende Arbeit recht schnell von der Hand. Sowie wir alle Holzstücke aufgelesen und verstaut hatten, traten wir unverzüglich den Heimweg an, so war es zumindest geplant. Unvermutet fragte Juliet mich jedoch, ob wir einen Umweg über den alten Friedhof machen könnten, welcher etwa eine Meile von unserem momentanen Standort entfernt lag. Ich verstand erst nicht wirklich, warum, willigte aber schweigend ein, um nicht unsensibel oder dergleichen zu erscheinen. Schließlich fiel mir aber wieder ein, dass am 1.Januar vor 7 Jahren ihr Vater bei einem seiner dienstlichen Werkstofftransporte auf noch ungeklärte Weise ums Leben kam. Juliets Vater arbeitete, wie der überwiegende Teil der hier ansässigen Bevölkerung in der Titaniummiene. Der Export von Titanium war die primäre Einnahmequelle unserer Provinz. Die anderen beiden Provinzen, auch Distrikte genannt, liegen etwa 18 und 25 Meilen entfernt. Beide waren wesentlich größer und bedeutender als der unsere, jedoch hatten wir weit und breit das einzige wirtschaftlich rentable Vorkommen an Titanium. Verwendet wird es meines Wissens nach für die verschiedensten Dinge, insbesondere soll aber die Herstellung von Körperpanzerungen und neuartiger Waffen im Fokus stehen. Neben Titanium sind ebenfalls andere Elemente vorfindbar sein, eines hieß, so glaube ich zumindest, Palladium.
Mittlerweile am alten Friedhof angekommen, sah ich, wie Juliet langsam auf einen Grabstein mit der Aufschrift “John Piercen - Mögest du deinen Frieden finden” zuging, weswegen ich mich geringfügig von ihr entfernte, um Juliets Privatsphäre zu respektieren. ALs mir, genau wie das letzte Mal, als ich hier war, auffiel, wie enorm großräumig diese Grabstätte ist, viel mein Blick auf das von Moos bedeckte und verfallene Denkmal eines Mannes, welcher, ein Katana in jeder Hand, springend sich in den Kampf zu stürzen schien. Auf seiner Brust befand sich jenes Logo, welches die für die Instandhaltung der Mauern einst eingeführte Spezialeinheit, die “Mauerwächter”, als Ehrenbürger auszeichnet. Am Sockel dieser auf mich scheinbar grundlos faszinierend wirkenden Skulptur war ein kaum erkennbarer Schriftzug eingemeißelt. Würde ich versuchen, zu komplementieren, was nicht erkennbar ist, stünde da so etwas wie “In Gedenken an jene Helden des Krieges der Menschheit”. Vor zwei Jahren, als ich etwa vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war, versuchte ich, herauszufinden, was es mit besagtem Krieg auf sich hat. Dazu ging ich in das zentral gelegene Rathaus, und bat um Zutritt zu den Stadtarchiven. Eine ganze Nacht lang nahm ich jede Bemühung auf mich, durchforstete jedes noch so alte Buch, konnte aber nur enttäuschend wenig zur Geschichte der Menschheit entdecken. Alles, was ich weiß, ist, dass es vor etwa 480 Jahren einen umfassenden Krieg gab. Als Ergebnis dieses Blutbades zogen sich die drei mächtigen Familien, die nach diesem Massaker noch übrig waren, in ihre Residenzen zurück, Auf der Suche nach Arbeit und Heim liefen die einfachen Menschen den wohlhabenden Sippen “Andersson, Wayn und Giannopoulos” in Scharen zu. Um sie konzentrierte sich nun das gesamte Siedlungsgebiet der Menschen. Ihre Wohnsitze wurden zum Zentrum der Heimatstädte aller circa 115000 lebenden Menschen, mit Ausnahme einiger meist nur temporär beständiger Mini Siedlungen, in denen Außenseiter und Verbannte hausen. Seither ging jeglicher politischer Einfluss von den drei Königsgeschlechtern aus, ihre Autorität war absolut und unangefochten.
Als Juliet auf mich zukam, sah sie mich mit bekümmertem Blick an und sagte, dass wir nach Hause gehen könnten. Da es mich scheinbar ziemlich selber belastete, sie derart traurig zu sehen, fragte ich sie. “Geht es dir gut?”. Woraufhin sie mich lediglich kurz ansah, mich umarmte und mir zu Verstehen gab, dass wir gehen konnten.

1.Januar, 16:00:
Nachdem Juliet und ich uns verabschiedet hatten, bin ich etwa 9:40 zu Hause angekommen, wo ich bereits sah, wie meine Eltern auf unserem bescheidenen Landgut arbeiten, das etwa 60 Meter von unserem Haus entfernt liegt. Meine Eltern waren keine Minenarbeiter. Soweit ich weiß, ist unser Familienbaum durch eine lange Tradition von Kleinbauern gekennzeichnet, zumindest wurde mir das so verständlich gemacht. Meine Mutter dankte mir lächelnd dafür, dass ich bereits so früh unterwegs war, um Feuerholz zu beschaffen. Mein Vater hingegen wirkte nicht so übermäßig begeistert und sagte, dass er von mir in Zukunft erwarte, dass ich Ihn bitte informiere, wenn ich das Bis eben war ich, wie gewöhnlich, damit beschäftigt, meinen Eltern bei ihrer Arbeit auszuhelfen. Mein Vater sagte mir, ich solle ihm nur noch schnell dabei helfen, die zwei Pferde, welche uns beim Ziehen schwerer Gewichte helfen, zu versorgen, danach könne ich meiner Freizeit nachgehen. “Und, hast du darüber nachgedacht, worüber wir gestern Abend geredet haben?”. Mein Vater betonte in letzter Zeit frequentiert, dass ich nun alt genug sei, um meinen eigenen Weg einzuschlagen. Was er aber eigentlich meinte, ist, ob ich in den Staatsdienst einzutreten gewillt sei. Mit sechzehneinhalb Jahren hat man die Möglichkeit, sich für eine der drei sogenannten “ehrenhaften Tätigkeiten im Sinne der Menschlichkeit” zu bewerben: Die Staatspolizei, die Sicherheitsgarnison oder die Mauerwächter. Erstere sind wohl einfach nur überbezahlte Polizisten, welche den auf die Füße treten, die gegen unsere Königsfamilie “Andersson” etwas sagen. Die Sicherheitsgarnison überwacht alle Ein- und Ausgänge, kontrolliert jegliche Import.- und Exportware und ist dazu da, allgemeine Sicherheitsmängel innerhalb der Provinz lückenlos zu identifizieren und zu beseitigen. Die Mauerwächter dienen in erster Instanz der Erhaltung der Mauer. Trotz dessen genießen die wenigen Mitglieder dieser exklusiven Truppe eine umfassende Ausbildung, was Kampf- und Aufklärungsfähigkeiten angeht, da sie im Falle eines realen Krieges die Spezialeinheit für Außeneinsätze wären. Warum man in diesen Friedenszeiten dermaßen viele Mittel für die Unterhaltung dieser Mauer und deren Beschützer einsetzt, ist mir unerklärlich… “Braucht ihr mich denn nicht auf dem Feld?”, fragte ich meinen Vater. “Natürlich können wir deine Hilfe stets gebrauchen, aber bedenke die Vorteile, die dir und deiner Familie zuteil würden.” Es stimmte schon, was er da eben angedeutet hat. Als Ehrenbürger dieser Provinz ist die Alimentierung unbestreitbar höher als alles andere, was ich im landwirtschaftlichen Sektor erreichen könnte. Außerdem bringt der Ehrenbürger-Status einige Vorzüge und Boni mit sich. So hat man das Recht, an bestimmten Abstimmungen im Rathaus teilzunehmen, man bekommt praktisch ein Mindestmaß an politischem Einfluss, einem wird zumindest Gehör geschenkt.

1.Januar, 17:10:
Das mein Vater mir erlaubte, raus zu gehen und mit Freunden zu spielen, bedeutete für mich genau eines: Ich traf mich mit Juliet und Andi am kleinen Bach, welcher sich eine kurze Strecke durch unser Dorf ergießt und am Fuße der kleinen Fischerei von Andis Familie lag. Auch Juliet arbeitete meist im Dienste seiner Familie, da sie dies dem Bergwerk, in welchem ihr Vater tätig war, vorzog. Meist saßen wir nur da und Andi erzählte von seinen Träumen und dass er eines Tages gerne das große Meer jenseits dieser Mauern erkunden und befahren würde. Allgemein bekannt war, dass es sich nicht lohnen würde, es zu versuchen, da man nichts finde, egal wie lange man suchen würde. Unser Kontinent ist die einzige Landmasse, die einzige Heimat von Menschen und Tieren. Die meisten empfanden das für ganz logisch. Nur Andi nicht. Andi war der festen Überzeugung, dass es da draußen noch mehr Menschen gäbe. Er behauptete, dieses Wissen sei seit Generation im Besitz seiner Familie und sein Urgroßvater habe ihm davon erzählt, als er noch ein Baby war. Juliet und ich machten uns nicht, wie die anderen in unserem Alter, darüber lustig, sondern hörten ihm mit einem Lächeln auf den Lippen zu. Beinahe war ich jedes mal soweit, zu sagen: “Andi, ich glaube dir.” Schon allein dieses Funkeln in seinen Augen, wenn er von der Freiheit schwärmte, inspirierte mich.
Nach einer Weile an Erzählungen von Andis wilden und hitzigen Abenteuern legte sich Stille über unsere kleine Runde. Wir schauten lediglich den im Sonnenlicht funkelnden Bach an. Ich dachte wieder an das Tagebuch meines Großvaters…, als plötzlich Juliet sich zu mir drehte. “Hast du darüber nachgedacht?” fragte sie und fokussierte mich, während ihre Haar wegen der leichten Brise Wind in ihr Gesicht fiel. Einen kurzen Moment dachte ich gar nichts und schaute sie einfach nur an. Dann aber sagte ich. “Ich bin mir noch nicht sicher” und schaute weg, weil ich ehrlich gesagt keine wirkliche Lust auf diese Unterhaltung hatte. Andi schalte sich ein und erklärte, dass er sich für die Mauerwächtertruppe bewerben will. Ich überlegte. Als Diener der Staatspolizei würde ich mir irgendwie einfach lächerlich vorkommen, so als würde ich nur existieren, um die Leute zu nerven und meine Macht zu demonstrieren, praktisch als Abschreckung. Die Sicherheitsgarnison ist unfassbar langweilig, man steht da und tut so, als würde man die Tore bewachen, vor dem Feind, der niemals kommt. Alle paar Stunden kommt wahrscheinlich ein Zug an Pferdekutschen mit Handelsgüter, den man auf Legitimität und Ware überprüft. Um dabei nicht vollkommen einzuschlafen, betrinken sich unsere Beauftragten der allgemeinen Sicherheit, was aber in der Regel zu gegenteiligem Effekt führt.
Mir blieben lediglich die Mauerwächter. Auf eine Art war das ganze Erscheinungsbild des Mauertrupps imposant, man fühlte sich schon fast demütig und ergeben, wenn man einem begegnete. Auf der anderen Seite verstand ich den Sinn hinter dieser Einheit nicht. Warum waren die Mauern so wichtig? Wieso wird so ein gigantischer Wert darauf gelegt, dass die Mauer jederzeit in Idealzustand ist? Kommt mir fast vor, als wäre das eine klassische Verschwendung von Steuergeldern. “Wenn du gehst, gehe ich mit.”, sagte Juliet aus heiterem Himmel. Gerade wollte ich wissen, weshalb es ihr so wichtig sei, wofür ich mich entscheiden würde, als wir plötzlich eine laute Stimme hörten.

1.Januar, 17.45:
Ich war mir sicher, es würde in einer Prügelei enden! Als plötzlich Erik und drei andere Jungen unseres Alters auftauchen, und riefen: “Na Andi, erzählst du schon wieder deine vollkommen schwachsinnigen Geschichten, die wirklich absolut niemanden interessieren?”. Erik, der etwas größer und massiver war, als wir, baute sich, zusammen, mit seinen Kumpanen vor uns auf. Ich sagte ihm, er solle verschwinden. Gekonnt ignorierte er meine Ansprache und ging zu Andi, um ihm durch das Haar zu wuscheln, als wäre er ein kleines Kind. Andi schlug Eriks Hand weg und versuchte selbstbewusst zu wirken, was er aber definitiv nicht wahr, wie seine Körpersprache eindeutig verriet. “Mach das nochmal und ich mach dich fertig, du erbärmlicher Schwächling”. Ich sah, wie Andi, als Erik sich über ihn lehnte, mit seinen ein Meter sechzig im Boden versinken wollte. Ich stellte mich zwischen Andi und Erik und sagte ihm, er solle sich verpissen, woraufhin er mich mit voller Wucht auf den Boden schubste. Gerade wollte ich wieder aufstehen, da seh ich, dass in Eriks Gesicht auch schon ein Fuß von Juliet landete, worauf er scheinbar kurzzeitig benommen den Halt verlor. Die anderen Jungs von Erik rannten auf Juliet zu, weswegen ich mich schützen vor sie stellte. Was aber nicht übermäßig wirksam war, da diese Fettsäcke mich einfach umrannten. Doch schon im nächsten Moment sah ich zwei kräftige Hände, welche mit größter Leichtigkeit zwei der drei Angreifer zurückgezogen und wegschubsten. Der dritte blieb, angesichts dessen, dass es Rainer war, der da so eben auftauchte, unbeweglich stehen und schaute beschämt auf den Boden, in der Hoffnung, dass Rainer ihn verschone. Auch Erik war inzwischen wieder auf den Beinen, wagte aber keine Sekunde, sich dem Befehl von Rainer zu widersetzen und zog unmittelbar von Dannen. Reiner half mir auf und sagte: “Es werden Zeiten kommen, da wird keine Hilfe kommen… weder von mir, noch von sonst einer Menschenseele!”. Warum genau er dies anbrachte, verstand ich nicht, da ich ihn nie wirklich explizit um Hilfe gebeten hatte. Dennoch war ich natürlich früh, dass Reiner wie jeden Tag nach der Arbeit diesen Weg nahm, da unsere Kampfkraft der von Erik und seinen Jungs wohl unter übel unterlegen war. “Wie auch immer… Denkt daran, morgen ist der letzte Tag, an dem Ihr euch einschreiben könnt. Glaubt mir, als Ehrenbürger dieser Provinz fasst euch keiner mehr an.” Worauf ich mich für seine Hilfe bedankte und wir uns verabschiedeten.

1.Januar, 22.20:
Eigentlich wollte ich bereits schlafen, da ich körperlich ausgelaugt und erschöpft war. Mich schien jedoch etwas wachzuhalten, geistig konnte ich nicht zu Ruhe kommen. Ich dachte nach: Ich dachte an die Statue auf dem Friedhof, an das, was Andi erzählte, an die ständige Schikane, die dieser nutzlose Ballast an Menschen Amin stetig zukommen lässt und an die Unantastbarkeit, mit der Rainer Erik und seine Kollegen verjagte. Was ich aus tiefster Seele hasste, war dieses Gefühl von Hilflosigkeit. Das Wissen, egal welche Anstrengungen ich auch unternehmen mag, ich hätte Andi und Juliet nicht helfen können. In dieser Sekunde erklangen Rainers Worte wie ein Mantra in meinen Verstand: “Es werden Zeiten kommen, da wird keine Hilfe kommen…”. Ich musste stärker werden! Ich muss lernen zu kämpfen! Ich muss die Menschen, die mir nahe stehen, beschützen!

2.Januar, 11.59:
Amin, Juliet und ich haben den “Antrag zur Erlangung der Ehrenbürgerschaft im Dienste des Hauses Andersson” im Rathaus abgeben.

3. Januar, 7.30:
Wir alle drei erhielten einen Brief. Absender: “Amt zur Administration des Hauses Andersson”. Dieser enthielt scheinbar sämtliche Informationen bezüglich der Koordinierung des Auswahlsystems und der Anforderungen zur Überführung in den Staatsdienst. Gesetzlich festgelegt ist, dass zu jeder Zeit exakt 301 Beamte der Staatspolizisten, 101 Bedienstete der Sicherheitsgarnison und 51 Mitglieder der Mauerwächter im Dienst sein müssen. Anfang jeden Jahres rekrutiert das Hause Andersson Neulinge, im Falle, jemand ist verunglückt oder quittiert altersbedingt den Staatsdienst. Zumeist ist der einzige Grund dafür, dass eine Stelle frei wird, der, dass man scheinbar genug verdient, um bereits mit Ende vierzig seine Pension zu beantragen. Insbesondere bei der Staatspolizei scheint das häufig der Fall zu sein, weswegen immerhin 31 verfügbare Stellenangebote dieses Jahr zur Verfügung stehen. Die Sicherheitsgarnison bietet 18 zugängliche Posten an. Bei den Mauerwächter sind es, und das ist meines Wissens nach eine absolute Premiere, 4 Plätze. Erfahrungsgemäß gibt es hier jährlich nur einen einzigen Platz, wenn überhaupt. Man erzählt sich, einige der jüngeren Mitglieder seien nach dem Training ausgestiegen, warum weis ich nicht genau.
Die Selektierung der 93 Bewerber findet am 13. Januar 5:00 - 10:Uhr statt. Standort: Tempel der Mauerwächter “Pantheon”.
In einem Punktesystem werden alle Anwärter in 5 verschiedenen Disziplinen gegeneinander antreten. Getestet werden dabei folgende Attribute: Geschwindigkeit, Geschicklichkeit, Präzision, Taktikvermögen sowie Entschlossenheit. Für den ersten, zweiten und dritten Platz erhält man jeweils drei, zwei und einen Punkt. Am Ende werden alle Punkte zusammengezählt und die vier erfolgreichsten Kontrahenten erhalten das Recht auf eine Rekrutierung als Mauerwächter. Sollte es zu punktemäßigem Gleichstand kommen, so wird eine jedes Jahr variierende und vorher unbekannte Spezialdisziplin im KO-Modus entscheiden, wer sich qualifiziert. Anbei lag noch eine detaillierte Beschreibung jeder Standarddisziplin.

3.Januar, 8.15:
Andi, Juliet und ich saßen zusammen in unserem Esszimmer und studierten die Zeilen der Post. Wir waren uns einig: Wir mussten trainieren! Während meine Mutter ins Zimmer kam und uns einen "Gyokoru Tee" einschenkte, fing Amin unverzüglich damit an, uns einen exakt strukturierten Trainingsplan zu erstellen. Unsere Eltern erlaubten uns, uns voll und ganz auf die Vorbereitung für den in zehn Tagen anstehenden Test zu fokussieren. Von nun an nutze ich jede erdenkliche Minute dafür, zu werden, was ich immer sein wollte: Jener unabhängiger und starker Mann, der keinen Schutz braucht, der keine Hilfe braucht, der einfach niemanden braucht!

10.Januar, 4.40 Uhr:
Wir sowie jede Menge anderer Teilnehmer standen vor dem Hauptsitz der Mauerwächter-Einheit. Andi wuschelte sich andauernd durch sein goldblondes Haar, er war wohl ziemlich, ziemlich aufgeregt. Juliet stand nur da, ich weiß nicht wie, aber sie strahlte absolute Ruhe aus. Ihre Hände in den Taschen, der dunkelgrüne Rollkragenpullover, die enge tiefgraue Hose, die bauchfreie schwarze Lederjacke, die dunkelbraunen Lederschuhe: Einfach Juliet. So rannte sie eigentlich immer herum. Genau diese Kleidungsstücke, ich könnte mich nicht erinnern, sie mal mit anders gesehen zu haben. Naja, eines habe ich nicht erwähnt. Sie trägt am Handgelenk seit jeher einen kleinen rosegoldfarbenen Armreif am linken Handgelenk. Den hatte ich ihr geschenkt, als damals die Staatspolizisten bei ihrer Familie waren, um sie von dem Tod ihres Vaters zu unterrichten. Ich weiß es noch, als wäre es gestern geschehen, denn ich war an jenem Tage dabei. Juliet und ich saßen im Wohnzimmer der Familie Piercen und spielten Shogi, ein taktisches Spiel, bei dem man auf einem 9x9-Brett durch taktische Bewegung deiner Steine die deines Gegners schmeißen musst. Jedenfalls denke ich das, denn wirklich verstanden, was ich da genau hätte machen müssen, habe ich nie. Andi war gut in sowas. Er ist nicht nur gut, er ist hervorragend. Alle geistigen Belange, insbesondere, wenn es um schnelle und kalkulierte Berechnung und Entscheidung geht, waren Andis Begabung. Jedenfalls saßen wir dort am 01.Januar vor sieben Jahren, spielten Shogi, ihre Mutter kochte gerade zum Abendbrot, als es plötzlich an der hölzernen Tür klopfte. Es waren zwei Polizisten: Ein etwas kleinerer, beleibter, schmierig aussehender Mann mit einem ungepflegten Schnauzer und einer dicken schwarzen Brille. Er stelle sich also Hauptkommissar Ronnie Hampelmann vor und war wohl ziemlich von sich eingenommen, was mir Seine Gangart verriet, die dadurch gekennzeichnet ist, dass er seine null von Muskeln definierte, sondern nur von Fett geprägte Brust so weit herausstreckt, dass sie schon fast auf der Höhe seines von vermutlich zu viel Hopfen geformten Bierbauches war. Der andere Mann, eine hellblonde, hagere große Gestalt, wirkte schon sehr eingefallen und sein schmächtiger Körper drohte, beim nächsten Windstoß in sich zusammenzufallen. Er stellte sich freundlich als David Zacke vor. Ohne darum zu bitten, hielt es Hampel wohl für selbstverständlich, sich an den Küchentisch der Familie Piercen zu setzen. Kurz und schmerzlos unterrichtete er Juliets Mutter Jenna davon, dass ihr Mann bei einem der wöchentlich Transporte an Material aus der Miene verunglückt sei. Die genauen Todesursachen konnte man noch nicht exakt ermitteln. Als gerade der dürre, hinter Kommissar Hampel stehende Mann uns sein Beileid bekunden wollte, unterbrach ihn dieser Fettklops und sagte: "Eins noch: Da ihr Vater sich während der Dienstzeit unerlaubt von den anderen entfernt hat, fällt dieser Tod nicht unter die Kategorie des "Arbeitsunfalles" und gilt als selbstverschuldet. Ihr Anspruch auf Entschädigung fällt daher leider aus. Bei Beschwerden nehmen Sie bitte den offiziellen Dienstweg." Mit diesen Worten verabschiedeten sich die beiden Männer. Wie erstarrt saßen Juliet und ihre Mutter da. Eine zeit lang war Stille. Da wärmende Worte und emotionaler Beistand nicht wirklich meine größte Stärke waren, entschied ich mich schließlich dazu, meine Hand auf Juliets Schulter zu legen. Sie umarmte mich. Sie drückte sich extrem fest an mich und versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Ich hasste mich in diesem Moment, da ich nicht in der Lage war, ihr zu helfen. Sie soll nie wieder so leiden müssen!
Nach einer Weile stand ich auf und ging zu ihrer Mutter. Ich sagte leise mit zitternder Stimme: "Es tut mir wirklich sehr leid. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen." Kaum hörbar brachte Sie ein "Danke" hervor, lächelte mich kurz an und schob hinterher: "Du kannst so oft kommen, wie du willst, du bist hier jederzeit willkommen. Juliet braucht dich jetzt, du bist ihr wirklich wichtig, weißt du?". Ich nickte nur und verabschiedete mich schnell, bevor ich komplett , anlief.
Gegen Abend desselben Tages, angekommen zu Hause, unterrichtete ich meine Eltern von dem tragischen Ereignis. Darauf hin sagte meine Mutter: "Komm mit, wir gehen rüber". Meine Mutter bat mich, in den Keller zu gehen, und eine Flasche "Sake" zu holen. Ich weiß ehrlich gesagt garnicht genau, was das ist, irgendeine Spirituose auf Reis-Basis, denke ich. Jedenfalls ging ich runter in den Keller, um entsprechendes Getränk zu holen, als mir die verstaubte Kiste meiner Großeltern ins Auge viel. Ich öffnete Sie, obwohl ich wusste, dass ich das eigentlich durfte. Dort war neben dem in grünes Leder eingebundenen Tagebuch meines Großvaters und einem weiteren Notizbuch, in dem es wohl irgendwie um Kampftechniken oder so ging. Aus all den Dingen, die ich gerne mal genauer inspizieren würde, suchte ich etwas anderes: Unten am Boden der Truhe war besagter Armreif. Diverse, für mich unentzifferbare, Symbole waren eingraviert. Ich nahm ihn, steckte ihn in die Tasche meines Kapuzenpullovers, ergriff schließlich die letzte Flasche Sake und ging wieder nach oben. Bis heute weiß vermutlich niemand, dass ich ihr am selben Abend den Armreif zum Geschenk machte, um sie aufzumuntern. Sie trägt in verdeckt, nimmt ihn aber niemals ab, zumindest hat sie mir das mal versprochen.
Aus meinen Gedanken über Juliet wurde ich gerissen, als ich Eriks Stimme hörte. Provokant ging an uns vorbei und zischte irgendwas, wie: "Was willst du denn hier Andi? Willst du den Kommandanten der Mauerwächter mit deiner dummen Geschichten überzeugen?". Juliet äußerte sich sehr zurückhaltend und meinte, Andi solle ihn ignorieren. Ich hingegen war seit jenem Tage so voller Wut, und entgegnete mit angriffslustiger Stimme: "Du Affe hast keine Chance, wir werden dir sowas von in den Arsch treten!". Er grinste hämisch: "Was willst du denn machen? Wieder deine kleine Freundin hier für dich kämpfen lassen? Wenn ich mit euch fertig bin, kniet ihr vor mir im Staub!", brachte er an, als sein Lachen allmählich in ein Schreien überging. Just In diesem Augenblick kam ein Mann vorbei, welcher eine Uniform mit dem Siegel der Mauerwächter trug: Eine künstlerisch geschwungene Rose, im Hintergrund zwei Flügel, dunkelgrün und weiß. Der Rest seiner Uniform war ebenfalls in jenem tiefen Blattgrün, die hohen Stiefel schwarz glänzend. Die Jacke zeichnete sich aus durch einen angedeuteten mit Knöpfen versehen Kragen. Ich muss gestehen, obwohl ich vorher zumeist die Sinnhaftigkeit dieser Einheit hinterfragte, war die Aura dieses Mannes beeindruckend. Alles um uns herum wurde ganz still. Als er Erik hörte, blieb er stehen, drehte sich um und fokussierte und mit musterndem Blick. Wir fühlten uns so unglaublich klein, angesichts der absoluten Unantastbarkeit, die von ihm ausgeht. Seine Worte unterbrach diese erdrückende Stille: "Klärt das im Turnier", sprach er und geht weiter, ohne uns eines weiteren Blickes zu würdigen. Dann aber drehte ich sich kurz um, und warf uns mit absolut emotionsloser Miene ein "Ihr Rotzlöffel" an den Kopf und verschwand schließlich in dem Eingang des Tempels. Nach einer paar Sekunden absoluter Stille ging lautes Gelächter los. Alles was ich jetzt gerne noch tun würde, ist, Erik eine in seine hässliche Visage zu verpassen.

10.Januar, 5:00 Uhr:
In Reih und Glied standen wir aufgestellt in Reihen, jeweils drei hintereinander. Wir befanden uns in einem überwölbtem Rundbau. Das Dach war eine lichtdurchlässige Kuppel. Die Durchgänge. von den es vier Stück gab, jeweils auf eine Himmelsrichtung ausgerichtet, sind halbkreisförmige Bögen. Die weißlich beigefarbene umlaufende Wand ist scheinbar in Zonen unterteilt. In der unteren Zone wird die Wand dieses riesigen Saales durch mehrere Nischen sowie besagte Eingangspassagen gebildet. Die zweite Zone stellt die Verbindungseinheit zur Dachkuppel da und beinhaltet ein massives sich einmal durch den ganzen Raum ziehendes Gebälk. Der glänzende Boden, wie der Rest hier, ist von exotischen Mustern und Abbildern irgendwelcher Gestalten und Menschen durchzogen. Sogar Büsten und Statuen waren hier erkennbar. Ich frage mich, wer…; “Aufgepasst!”, rief einer der Mauerwächter, “Ich bin…”, und jetzt erst wurde mir klar, wem wir da gerade eigentlich gegenüberstanden, “Kommandant Alfred Adler, oberster Befehlshaber der Mauerwächter”. “In den kommenden Stunden wird sich entscheiden, welche 4 von euch die Ehre haben, den Weg der Mauer anzutreten!”. Ich hatte keine Ahnung, was dieser “Weg der Mauer” sein sollte. Auch konnte ich nicht begreifen, warum das Haus Andersson überhaupt derartig viele Ressourcen aufwendet: Die ständige Bewachung der Mauern, diese teuren Uniformen, die, wie ich an einem als Wache postierten Mauerwächter bemerkte, edlen Waffen, dieser Tempel…Dabei gibt es doch weder ein akute Gefahr, noch müssen wir eine militärische Tradition von mir unbekannten Kriegshelden und Vorfahren bewahren, oder? “Es ist an der Zeit, euch zu erklären, wie…”, sprach Kommandant Adler, als schlagartig ein Mauerwächter auftauchte. Es war derselbe, der uns zuvor wegen der Auseinandersetzung mit Erik verspottete. Er flüsterte Adler etwas ins Ohr, ich konnte nicht verstehen, was. Daraufhin verkündete der Kommandant: “Aufgrund eines nicht vorhersehbaren Umstands bin ich gezwungen, mich um einer dringliche Angelegenheit zu widmen. Truppführer Winter wird mich vertreten”. Der Truppführer führte seine rechte Hand zur linken Schulter und ließ leise, aber betont, die Worte “Verstanden, Kommandant Adler” erklingen. Adler entfernte sich schnellen Schrittes. Truppführer Winter musterte uns alle gleichermaßen emotionslos wie kritisch. “Mein Name ist Kayle Winter. Vor 17 Jahren stand ich dort, wo ihr jetzt steht. Nur mit dem unterschied, dass auf 93 Bewerber nicht 4 freie Stellen kamen, sondern aus weit über 400 nur es schaffte, sich den Mauerwächtern anzuschließen. Aber das waren auch noch andere Zeiten…”. Keine Ahnung was er damit meinte, vielleicht spielte er darauf an, dass mehr und mehr Leute Andersson verlassen und in eine der beiden moderneren und wohlhabenderen Distrikte auswandern. “ “Was meinst du damit?”, erklang eine Stimme, als würde sie meine Gedanken lesen. Doch es war nicht des Truppführers, sondern eine viel weniger eindrucksvolle und deutlich anmaßendere Stimme. Es war die von Erik. Zuerst schien es so, als würde Winter diesen Einwurf einfach nur ignorieren. Doch nach ungefähr zwanzig Sekunden der Grabesstille, die Erik dann doch ganz schön ins Schwitzen brachte, sagte Winter: “Ab dem Moment, an dem euer Fuß dieses Heiligtum betritt, bis zu der Sekunde, an dem ihr ausdrücklich die Erlaubnis bekommt, zu gehen, redet ihr nur, wenn ihr dazu aufgefordert werdet. Ist das klar?”. Ehrfürchtiges Schweigen, ich sowie die anderen interpretierten diese Frage als rhetorisch. Dem war aber scheinbar nicht so. Denn schon im nächsten Moment hörten wir, wie Winter seine Frage wiederholt, und zwar in einem Ton, der jedermanns Herz sofort höher schlagen ließ: “Ist das klar?”. Wie massegesteuert schrien alle aus Leibeskräften: “Ja, Kommandant Winter!”, in einer Synergie und Synchronität, die ich zwar nicht für möglich gehalten hatte, die sich aber anfühlte, als hätte sich keiner uns in diesem Moment in den Weg stellen können. “Sehr gut”, sagte Winter, schaute uns mit einem leichten Grinsen an: “Dann lasset die Spiele beginnen:”

10.Januar, 6.00:
Nachdem er uns durch den gegenüberliegenden Ausgang herausgeführte, verdeutlichte er mit folgenden Worten eines: “Ich erkläre die Regeln der jeweiligen Disziplin jetzt einmal, wer nicht aufpasst oder es vergisst, bekommt entsprechend keine Punkte gutgeschrieben”. Im Endeffekt stellte sich heraus, dass die Regeln wirklich ziemlich trivial waren. Was meine Aufmerksamkeit in diesem Moment deutlich mehr beanspruchte, war das riesige von Mauern umgebene unter freiem Himmel liegende Trainingsgelände. Alle möglichen Trainingsstationen sah ich: Trainingsdummys, ein Hochseilgarten, ein Kampfring, ein Tauchbecken, Zielscheiben, Parcours…, und in der Mitte des gesamten Areals stand ein Brunnen, groß und wunderschön, symmetrisch, perfektioniert, verziert…, ich war zugegebenermaßen ziemlich beeindruckt.
In dieser Sekunde ertönte auch schon ein lauter Pfiff und damit das Startsignal für die erste Station, den Hindernisparcour! Dieser bestand aber nicht nur aus Holzbarrikaden, die man überspringen muss und Seilen, an denen man entlanghangeln soll, sondern regelrecht aus Konstruktionen, die kreiert wurden, um dich mittels eines gezielten und vermutlich schmerzvollen Schlages außer Kraft zu setzen. So gab es einen um die eigene Achse rotierenden Baumstamm, welcher links und rechts vertikal angeordnete herausstehende und versetzte platzierte Äste hat. Nur durch geschickte Koordination von Sprung und Duckbewegungen in minimalsten Zeitintervallen wird es möglich sein, dieses Hindernis unbeschadet zu passieren. Die Tatsache, dass der gesamte Parkour sich auf einem Holzgestell etwa ein Meter achtzig über dem Boden befand, machte ein Herunterfallen nur um so schmerzhafter. Immer fünf Personen traten zur gleichen Zeit gegeneinander an, wobei von jedem mittels einer herkömmlichen Stoppuhr die Zeit gemessen wird. Die ersten drei dieser fünf Kontrahenten erhalten die entsprechenden Punkte sowie die drei erfolgreichsten der gesamten Disziplin erneut zusätzliche Punkte gutgeschrieben bekommen. Ich, der wie Amin und Juliet, noch im hinteren Teil der Schlange stand, konnte immer und immer wieder beobachten, wie jemand seitlich herunterfiel und schmerzerfüllt den Parcour von vorne begann.
Als ich endlich an der Reihe war, realisierte ich erst jetzt, dass ich, da wir uns dummerweise direkt hintereinander gestellt hatten, auch gegeneinander antreten müssen. Neben uns dreien war noch ein Junge und ein Mädchen dabei. Der Junge sah so durchschnittlich aus, wie man es sich nur vorstellen konnte. Er hatte nichts, und auch wirklich gar nichts an sich, was ihn irgendwie prägnant hätte beschreiben können. Das Mädchen hingegen wirkte unfassbar motiviert und zielgerichtet, als würde sie um Leben und Tod kämpfen. Sie war etwas größer als Juliet, hatte stark gelbblondes zu einem Zopf zusammengebundenes Haar, ozeanblaue Augen und wirkte allgemein irgendwie ziemlich fies. Sie war komplett in grau gekleidet. Sie war dünn, aber wirkte, als könnte sie dich problemlos umlegen, wenn sie es wollte. Ich schaute zu Amin herüber. Er wirkte unfassbar konzentriert. Er wirkte, als würde er gerade in seinem Kopf jede einzelne Hürde des Parcours exakt studieren. Als würde er berechnen, wie er sich mathematisch korrekt bewegen müsste, um sich seine Körpergröße zu Nutze zu machen. Danach wandte ich mein Blick in Richtung juliet, nur um festzustellen, dass sie mich scheinbar die ganze Zeit angeschaut hatte. Als sie notierte, dass ich das bemerkte, schaute sie unverzüglich zu dem neben mir stehenden blonden Mädchen. Anscheinend spürte sie Juliets Blicke im Nacken, denn wie von Geisterhand getrieben schaute sie uns an und verkündete: “Ich bin Sophia”. Nach einigen Sekunden verwirrten Schweigens entgegnete ich: “Hi, ich bin…”. “ist mir total egal, wer du bist. Kommt ihr mir in die Quere, mach ich euch fertig!”. Verblüfft standen wir alle drei da. Gerade wollte Andi etwas sagen, da fragte der dem Hauptmann assistierenden Mauerwächter Björn Nilsson: “Seid ihr bereit?”. “Ja, Sir”, enteigneten wir, womit wir uns an die auf dem Boden rot markierte Startlinie begaben. “Dann los!”, schrie er in einer Lautstärke, die jeden von uns zum Rennen brachte, als sei die Polizei hinter uns her. Die ersten Hindernisse waren einfach. Sie erforderten nur gute Kondition und Geschwindigkeit, was wir in unserem Training reichlich trainierten. Wir überspringen Abgründe, bückten uns in Windeseile unter Holzstäbe hinweg und schwangen uns an drei großen Seilen über eine etwa vier Meter lange Freifläche hinweg. Alle waren bisher ziemlich mühelos durchgekommen, auch Andi konnte solide mithalten. Das nächste Hindernis war schon deutlich anspruchsvoller. Man musste eine sehr steil geneigte Holzrampe erklimmen, in dem man diese mit maximaler Geschwindigkeit hoch rennt. Juliet und Sophia bewältigten dieses Erschwernis mit Leichtigkeit. Ich brauchte zwei Versuche, Andi und der andere sogar drei. Nun wurde es heikel: Man musste von einer Erhöhung aus auf Holzplatten springen, welche nur etwa fünfzig Zentimeter breit sind und sich von schnell von links nach rechts bewegen. juliet sprang ohne Verzögerung von Platte zu Platte, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Auch Sophia schien keine größeren Schwierigkeiten zu haben, auch wenn sie nicht ganz so unfassbar leichtfüßig wirkte, wie Juliet. Als ich sprang, lief mir der Schweiß von der Stirn. Ich hatte Angst. Nicht etwa, mir weh zu tun, sondern, dass ich versagen würde. Ich sprang: Ich landete nicht auf dem Gras…, aber auch nicht auf der Plattform. Ich hing mit beiden Händen das Plateau umklammernd daran, kurz davor abzuruschten, da meine Hände nass geschwitzt waren. Doch dann sah ich Anin, von oben auf mich herabblicken, mit einer Körpersprache, die mir verriet, dass er Angst hatte. Große Angst. Ich wusste, was zu tun war. Ich musste mich jetzt zusammenreißen. Ich zog mich mit aller Kraft hoch und sprang ohne Nachzudenken weiter und weiter, bis ich alle Plattformen hinter mir gelassen habe. Im Angesicht meines Erfolges hatte Andi wohl Mut geschöpft. Er setzte nun eine fokussierte Mine auf. Ich wusste nicht, wie er das machte, doch langsam, aber absolut präzise, sprang er, als würde er bereits wissen, dass er Erfolg haben wird. Bevor ich zur nächsten Station rannte, sah ich noch aus dem Augenwinkel, dass der letzte im Bunde, der Junge sich gar nicht erst traute, zu springen, wahrscheinlich erinnerte sich, wie vor uns viele verletzt hier haben. Das nun folgende Hindernis war das zu Anfang erwähnte, der sich um sich selbst drehende Baumstamm. Juliet hatte ihn schon überwunden. Sophia fiel einmal hin, als sie einen am auf Fußhöhe rotierenden Ast nicht parierte, stand aber unmittelbar danach wieder und meisterte es mit extremer Geschwindigkeit. Ich war zwar schnell, aber dafür weniger Elegant. Ich hing mich seitlich an einen der Äste und ließ mich von diesem auf die andere Seite tragen. Die Kehrseite dieser Methode war, dass ich dabei jedesmal auf Fuß- und Bodenhöhe einen Stoß abbekam, weswegen ich, mich vor Schmerzen verzerrend, nach Luft ringend, auf der anderen Seite ankam. Meine Magengrube tat unglaublich weh. Doch in diesem Moment dachte ich mir nur eines: Ich muss Sophia überholen, damit Andi ich als dritter Platz nicht Andi die Chance wegnahm, ebenfalls Punkte zu erhalten. Ich rannte also zum nächsten Hindernis, so schnell wie es nur ging, bemerkte aber trotzdem noch, dass Andi hinter mir das diesen Apparat zwar mit gedrosseltem Tempo, aber dafür ohne eine Form von Schmerz bewältigte. Die letzte Station hatte es wirklich in sich. Vertikal waren zwei Holzstangen aufgestellt, welche sich auf einer schwebenden Plattform befanden, die mittels eines Seiles von Björn Nilsson in Richtung des Zieles gezogen wurde. Die Stängel waren eine circa durchschnittliche Breite eines Menschen von sich entfernt. Auf ungefähr halber Höhe waren zwei kurze herabhängende Seile befestigt, an dessen Enden sich ein Ring zum ergreifen befand. Aufgabe war es, sich mittels der Ringe in der Luft zu halten, ohne mit den Füßen die Holzplattform zu berühren. Man musste sich also mit durchgestreckten Armen so halten, dass sich der Oberkörper über den Ringen befand. Es ging hier um pure Körperspannung. Ich weis nicht wie, aber Juliet hat es beim ersten mal geschafft, zwar sichtlich angestrengt, aber ohne irgendwelche Anstalten. So auch Sophie, auch wenn sie dabei vor Muskelschmerz anfing zu schreien. Ich war an der Reihe. Ich begab mich in die vorgegeben Position und sah, wie Wilsson anfang, zu ziehen. Noch nie kam mir etwas so lang vor. Es dauerte gefühlte Jahre, bis ich drüber war. Als ich es schon fast geschafft hatte, hörte ich Willson rufen: “Fuß auf Boden, erneuter Versuch!”. Ich ärgerte mich so sehr über mich selber. Ich hatte es kaum mitbekommen, dass ich langsam Milimeter für Millimeter absank. Beim zweiten Versuch sagte ich mir selber: “Du musst das schaffen! Du musst einfach”. Und ich schaffe es. Doch als ich in Richtung des Ziels sprintete, stand Sophia bereits triumphierend lächelnd da. Ich hätte ausrüsten können und blickte mich nach Andi um. Er wollte es scheinbar durchziehen, auch wenn er keine Punkte mehr bekommen konnte. Als er dann inzwischen beim dritten Versuch war und im vor Überanstrengung schon Blut aus der Nase lief, war er kurz davor, es zu schaffen. Er sprang von von der letzten Plattform aus…, er hat es nicht geschafft. Verwundert wartete ich, ihn auf dem Boden zu sehen, bis mir auffiel, dass ich aus dieser Entfernung von etwa zwanzig Metern nicht erkannt hatte, dass er sich beim Fallen mit einer Hand festgehalten hatte, scheinbar aber keine Kraft mehr hatte, sich hochzuziehen. Ohne zu zögern, rannte ich zu ihm und half ihm hoch. “Disqualifikation für beide”, wurde es gerufen von der zuschauenden Masse, weil man sich wohl nicht helfen soll. “Ruhe!”, schrie Truppführer Winter. “Wer keinen Sinn für Kameradschaft hat, hat hier nichts verloren.”

10.Januar, 7:00 Uhr:
Schätzungsweise ein Drittel aller Kandidaten haben bereits aufgegeben und sind nach Hause gegangen. Und das nach der ersten Station. Fairerweise hatte die es wirklich an Schmerzen in sich. Versammelt standen alle übrig gebliebenen Kandidaten in Reihen zu je fünf Personen vor der Rennbahn, an dessen Ende man einen kleinen runden Ball in eine dafür vorgesehene schmale Nische in einer Holzplatte werfen muss. Man musste also, bevor man die Ziellinie überqueren kann, stark das Tempo drosseln, um den Ball mit Sicherheit an der markierten Stelle zu versenken. Ich war dieses mal direkt in der ersten Gruppe. Keine Ahnung, wer die fünf anderen Teilnehmer waren, war mir auch völlig egal. Von jetzt an konzentrierte ich mich nur noch auf meine Leistung, ich wollte gewinnen, koste es, was es wolle. Als das Startsignal ertönte, rannte ich. Ich rannte und rannte, ich rannte so schnell, wie ich noch nie gerannt bin. Als ich mich etwa zehn Meter vor der Stelle befand, an der man werfen sollte, durchdrang mich ein Gefühl, dass ich noch nie zuvor gespürt hatte. Es war, als sei alles um mich herum so langsam, als hätte ich alle Zeit der Welt, den Ball zu werfen. Es fühlte sich so an, als könnte mich niemand stoppen, als würde durch jede Faser meines Körpers pure Kraft fließen. Als wäre ich neugeboren. In dem Moment erinnerte ich mich: Ich hatte dieses Gefühl schon einmal. Ich war noch ein kleiner Junge. Ich hatte mich heimlich aus unserem Haus rausgeschlichen und bin in den Wald außerhalb gerannt. Irgendwie hat er mich als Kind immer magisch angezogen. Ich liebte es, außerhalb der Mauern zu spielen, doch oft wurde es mir untersagt, weil keine erwachsene Person die Zeit hatte, mich zu begleiten und ich alleine nicht durfte. “Es sei zu gefährlich”, sagte meine Mutter immer. Ich weis, dass sie sich nur Sorgen um mich machte, doch es frustrierte mich. Je mehr man mir etwas verbot, desto mehr wollte ich es. Jedenfalls rannte ich tief in den Wald hinein. Ich kletterte auf Bäume, kämpfte mit Stöcken, ich machte einfach irgendein Schwachsinn. Mit der Zeit begann die Dämmerung. Ich wollte zurückgehen, doch die großen, lichtundurchlässigen Bäume, genannt “Ajan-Fichten”, sahen so in der Dunkelheit alle gleich aus. Kurz gesagt: Ich hatte mich verirrt. Ich lief und lief, immer in der Hoffnung, irgendein Anhaltspunkt zu finden. Irgendwann begann ich in meiner Verzweiflung einfach nur noch zu rennen. Ich bildete mir alle möglichen Dinge ein: Ich bildete mir ein, Monster zu hören, zu riechen, zu sehen. Meine Fantasie ging mit mir durch. Ich rannte und rannte, bis ich stürze. Ich fiel gefühlte einhundert Meter tief. Vermutlich waren es nur zwei oder drei Meter, aber damals fühlte es sich eben so an. Ich landete in einer Art Höhle. Hier unten war es feucht und kalt. Ich hatte unglaubliche Angst. Ich halluzinierte. Ich malte mir aus, Stimmen zu hören, und eine Art stöhnen. Mein Puls ging schneller als je zuvor. Ich hatte Todesangst. Ich war mir ganz sicher, immer weiter auf mich zu kommende, lauter werdende Schritte zu hören. Und dann plötzlich passierte es. ich konnte mit einmal sehen. Hier unten gab es keine Lichtquelle, doch ich konnte problem meterweit Umrisse und Kanten klar erkennen. Ich schöpfte auf mit einem Mal neue Hoffnung, mich überkam das Gefühl von Sicherheit. Ich fühlte mich nicht mehr ängstlich. Ich war so von Adrenalin durchschossen: Ich ging auf die vermeintliche Tür zu, die ich nun vor mir zu sehen glaubte. Ich war ganz sicher, da war etwas, da war ein Durchgang. Gerade wollte ich meine Hand ausstrecken, da hörte ich, wie mein Name gerufen wurde. Ich erschrak mich. Binnen Sekunden war meine Furchtlosigkeit vergangen. Ich schrie um Hilfe. Dann erinnere mich nur noch daran, dass ich bei Juliet im Wohnzimmer saß und mich von meinen Eltern angeschrien ließ. Mein Blick fiel nur noch auf Lilly, den damals noch sehr jungen Schäferhund der Familie Piercen, der mich wohl gewittert und gefunden hat. “Was machst du denn?”, hörte ich Andi rufen, der sich so wie der Rest der Zuschauer wahrscheinlich sehr gewundert hat, warum ich mit dem Ball stehen blieb. Erst jetzt realisierte ich, dass ich meine Führung abgegeben hatte. Nicht nur einer, sondern gleich zwei meiner Gegner hatten mich überholt. Ich weis nicht, wie es passieren konnte, gerade war ich noch mit uneinholbare Abstand erster gewesen, jetzt bin ich als dritter ins ziel gekommen.
Während ich mich über mich selber am Rande der Bahn aufregte, sah ich Andi zu, wie er rannte. Ich war ehrlich erstaunt, dass er so flink war. Doch dann fiel mir wieder ein, wie oft er mangels Stärke von Jungs wie Erik davonlief. Juliet belegte in ihrer Gruppe den ersten Platz, indem sie Erik und Sophia hinter sich ließ, die beide mit Sicherheit Favoriten für einen Rekrutenplatz waren.

10. Januar, 8:00Uhr:
Die nächste Herausforderung war eine Präzisionsübung, in der jeder durch punktgenaue Bogenschüsse und reaktionsschnelle Katana-Hiebe verschiedene, sich teilweise in der Luft befindliche, Ziele treffen musste. Je weniger Pfeile man verschoss, und je niedriger die Anzahl an gebrauchten Hieben war, desto mehr Punkte bekam man hinzugerechnet. Ich absolvierte diese Übung relativ problemlos. Ich war schnell, wenn auch nicht so genau wie beispielsweise Andi, der lange zielte, aber dafür mit beeindruckender Genauigkeit seine Pfeile mit dem Boden verschoss. Mit dem schwer war ich wirkungsvoll und gewandet, mit dem Bogen allerdings verschoss ich in meiner Eile einige Pfeile, weswegen ich es nur auf den dritten Platz in meiner Fünfergruppe schaffte. Andi und Juliet belegte beide mit Bravour den erst Platz, ich war zugegebenermaßen neidisch, doch ich freute mich für Sie, sie waren ja schließlich meine besten Freunde.

10. Januar, 9:00Uhr:
Jetzt kam es zu der Übung, die ich am meisten fürchtete. Es wurde eine abgewandelte Form von “Shogi” gespielt. Das minimalste Feld von drei mal drei Kästchen wurde gewählt. Dafür gab es die Schwierigkeit, dass man nach jedem Zug fünf sauber ausgeführte Liegestütze machen musste, man aber noch dreißig Sekunden Zeit hatte, den Zug durchzuführen, andernfalls würde man wegen Zeitüberschreitung disqualifiziert werden. Man hat also nur ein kleines Zeitfenster, den Gegner zu durchdenken und seine Züge zu planen. Ich erspare es diesem Tagebuch, meinen erbärmlichen Versuch zu schildern. Mein Shogi-Gegner, Luis Anders war mir strategisch überlegen. Auch Juliet war nur ein wenig erfolgreicher als ich und ergattere gerade noch so den dritten Platz. Amin hingegen hatte zwar kräftemäßige Probleme mit den Liegestützen, besiegte seine gegenpartei aber stets in weniger Zügen.

10. Januar, 10:00 Uhr:
Nun hing ich. Ich hing an einem Seil, zwei Meter über dem Erdboden. An meinen Füßen ein Gewicht. Die Aufgabe war so einfach wie unmenschlich: Für jede zehn Sekunden, die man länger sich festhalten konnte, bekam man Punkte auf sein Konto. Mittlerweile waren nur noch etwa zwanzig Teilnehmer hier, der Rest kapitulierte wohl angesichts dessen, dass das nur ein Vorgeschmack darauf sein soll, was einem im tatsächlichen Training erwartet. Nach etwa vierzig Sekunden fingen meine Arme an, wehzutun. Ich fragte mich, wie Juliet und ich Sophie es etwa zwei Minuten und zwanzig Sekunden aushielten. Andi hatte immerhin über eine Minute und 10 Sekunden geschafft. Mittlerweile waren weitere zwanzig Sekunden vergangen. Meine Arme brannten. Aber es war mir egal. Ich wusste, diese Übung ist meine Chance. Meine Möglichkeit, erster zu werden und mir einen Platz zu sichern. Es war nur Schmerz. Und Schmerz ist wie Angst, ihn gibt es nicht wirklich. Er ist nur eine mentale Barriere, die deine Freiheit einschränkt. Das hat zumindest mal mein Vater gesagt. Ich war inzwischen bei zwei Minuten angekommen. Meine Arme taten höllisch weh. Es fühlte sich an, als würde jeden Moment meine Arme von meinen Schultern gerissen werden. Ich fing an zu schreien. Aber nicht so, dass es jemand hören konnte, ich schrie in mich hinein. Es tat so unglaublich weh. Ich wollte nicht, dass jemand sieht, dass meine Augen in Tränen getränkt waren, also schloss ich meine Augen. Ich sah Andi, ich sah meine Familie, ich sah Juliet…, ich spürte ihre Blicke. Ich wusste, dass sie gerade auf mich schauen würden und ich durfte sie nicht enttäuschen! Ich muss einfach durchhalten! Das Leiden, dass ich bis in jede Pore meines Körpers spürte, war….vorbei. Auf einen Schlag merkte ich keine Schmerzen mehr, ich fühlte rein gar nichts. Ich öffnete meine Augen und sah, wie alle mich ungläubig anstarrten. “Okay, das reicht, mein Junge! Wilson half mir runter und sagte: Ich weis wirklich nicht, wie du das gemacht hast, doch du hast längst jeden Rekord gebrochen. Der einzige, der mit dem Gewicht schon mal über sechs Minuten da hing, ist unser Truppführer Winter, der stärkste Soldat, den ich je gesehen habe”. Warte mal: “Sechs Minuten?”, fragte ich. Ich hab gar nicht gemerkt, dass ich wirklich so lange da oben hing. Winters kam auf mich zu und nickte mir anerkennend. Anschließend verkündet er: “Ich rechne nun die Ergebnisse zusammen, in dreißig Minuten erhaltet ihr eure Resultate. Alle, die bis zu diesem Zeitpunkt gekämpft haben, haben meinen Respekt. Ob ihr angenommen werdet oder nicht, dieses Anerkennung kann euch keiner mehr nehmen!”.

10.Januar, 11:25 Uhr:
Absolute Stille. Alle verbliebenen Teilnehmer standen in Reih- und Glied. Dieses Bild werde ich nie wieder vergessen, wie wir in perfekter Formation dastanden, aber gleichzeitig so fertig, verschwitzt, demoliert und zerkratzt, wie noch nie zuvor. “Aufgepasst! Truppführer Winter wird nun die Ergebnisse verkünden”. Wir alle wunderten uns, wo WInter war. Dann aber hörten wir ein rhythmisches Geräusch. Es klang, wie sehr gleichmäßige Schritte. Wenige Sekunden später sahen wir, wie zuerst Kommandant Adler, dann Truppführer Winter, gefolgt von zwei Soldaten eines mir unbekannten Ranges, und schließlich der ganze Mauerwächtertrupp auf uns zu marschierten. Noch nie zuvor hatte ich einen derart gelungenen Auftritt gesehen. Alleine die totale Synchronität ließ jeden einzelnen dieser Männer und Frauen wirken, als wäre er Teil eines größeren Ganzen. Alle waren im Anblick dieser Energie, dieser Dynamik, dieser Aura überwältigt. “Die Würfel sind gefallen”, sagte Kommandant Adler und holte eine Papierrolle hervor. “Kraft meines Amtes werde ich nun verkünden, wer sich einen Platz in den Reihen der Mauerwächter verdient hat”. Mir stockte der Atem. Vorhin war ich mir recht sicher, dass ich mir durch die letzte Disziplin wenigstens den vierten Platz sichern konnte. Was aber, wenn aufgrund meiner höchstens mittelmäßigen Leistungen davor es nicht gereicht hat?. “Die höchste Punktzahl hat erreicht,…”, die Spannung war nicht auszuhalten, “Juliet Piercen! Bitte tritt nach vorne.” Eigentlich war ich nicht wirklich überrascht, denn Juliet konnte immer so ziemlich alles. Aber dennoch erfüllte es mein Herz mit Freude, zu wissen, dass es ihr als Ehrenbürgerin in dieser Stadt gut gehen wird. Leicht beschämt trat sie nach vorne, es war ihr sichtlich unangenehm. Doch dann blickte sie zu mir rüber. Ich nickte ihr anerkennend zu und sie lächelte. ”Den Anspruch auf die zweite Stelle”, fuhr General Adler fort, “hat sich verdient: Sophia Nies!”. Sie sah weniger verlegen und dafür viel fieser aus. Jetzt war ich wütend. Ich geb zu, sie hat einiges drauf. Aber wie konnte ich zulassen, dass sie vor mir ist und somit mir und Andi vielleicht einen Platz klaute? Ich hätte besser sein müssen. “Als dritter Rekrut darf den Mauerrwächtern beitreten…”, ich hoffte so sehr aus tiefster Seele, dass es Andi oder ich sein würde, denn wenn jetzt jemand anderes ernannt werden würde, müsste mindestens einer von uns zurückgelassen werden. Mein Herz pochte, meine Hände zitterten. Ich sah, dass es Andi und sogar Juliet genau so ging. Der Kommandant schaute in meine Richtung, was mich hoffen ließ. Was wird er sagen? Wer ist es? Nun sag schon…! “Erik Sommer. Erik, bitte tritt nach vorne”. Adler hatte also nicht mich angeschaut, sondern den hinter mir stehenden Erik. In dem Moment war ich so kurz davor, zu schreien. Ich wollte nur schreien. Ich meine, zugegebenermaßen war er stark und schnell, vielleicht auch ziemlich akrobatisch. Aber das? Das hatte er sich nicht verdient? Er ist ein Arschloch, ein hinterlistiges egozentrisches Arschloch. Ich hasste ihn. Noch mehr aber hasste ich mich, dafür, dass meine Leistungen nicht ausgereicht haben, diesen arrogante Stück Dreck zu besiegen. Als ich Juliets tief traurigen Blick sah, schämte ich mich. Ich meine, klar, gab es für mich noch eine Chance, aber was ist mit Andi? Das hätte ich meinem Freund niemals antun wollen. “Kommen wir nun zum nächsten und letzten Kandidaten: Es ist…, Moment! Wie es scheint, haben wir einen punktemäßigen Gleichstand zwischen zwei Anwertern. Es wird zu einem nachträglichen Sonderwettkampf kommen!”, sagte er, mit einer Mimik, als sei er gerade auf einer Bühne, um irgendeine Show zum Besten geben. “Andi Ahrling und...”. Ich hätte ja mit vielem gerechnet, was jetzt passiert, aber das ausgerechnet jetzt mein Name gefallen ist, das Andi und ich exakt die selbe Anzahl an Punkten haben? Wie wahrscheinlich ist das bitte? Und was machen wir jetzt? Unbedingt wollte ich es schaffen, ein Mauerwächter zu werden. Aber ist es das wirklich wert, einen Freund dafür Schaden zuzufügen? Mein Kopf brodelte, ich war verzweifelt. “Der Contest wird wie folgt ablaufen”, sagte Adler, jetzt aber wieder mit seiner ruhigen und bestimmenden Stimme. “Ein klassischer Zweikampf: Wer zuerst zu Boden geht, verliert. Um zu gewinnen, muss mal es schaffen, dass dein Gegner mit seinem gesamten Rücken den Boden berührt. Einfach und altbewährt”, erklärte Adler mit größter Selbstverständlichkeit, während uns gerade so ziemlich der Arsch auf Grundeis ging.

10.Januar, 11.40 Uhr:
Andi und ich standen uns im Ring des Trainingsgeländes gegenüber. Wir schauten uns fragend an, denn wir wussten nicht, was wir tun sollten. Alle Augen waren auf uns gerichtet: Der gesamte Mauerwächtertrupp und alle Anwärter starrten uns an, in der Erwartung, dass wir gleich auf uns losgingen. “Also gut”, brachte Kommandant Adler mit erwartungsvoller Stimme hervor, “Dann mal los! Ich zähle von drei runter, anschließend gebe ich das Kommando “kämpft”, verstanden?”. Wenige Sekunden später fanden wir uns in eine der groteskesten und unangenehmsten Situation meines Lebens wieder. Das Kampfsignal ist gefallen, doch wir standen einfach bloß da und schauten uns hilflos an. Dann zischte Andi leise “greif mich an”. Ich ging ein Schritt auf ihn zu, einfach nur, um irgendwas zu tun, und endlich nicht mehr so grenzenlos dumm dazustehen. Erneut wisperte er etwas, doch ich verstand es nicht? Da brüllte es auf einmal aus der Zuschauermenge “Wollt ihr euch jetzt endlich küssen?”, alle lachten. Es war Erik. “Halts Maul!”, sagte ich. Eigentlich sagte ich es nur, um Zeit zu gewinnen, aber da ich Erik sowieso hasste, schien es mir ganz passend. Da intervenierte Winter und wies uns an, uns auf den Kampf zu konzentrieren. Die Zeit, in der alle Aufmerksamkeit auf Truppführer Winter lag, nutze Andi, um näher zu mir zu gelangen. “Schlag mich”, flüsterte er. Erst jetzt begriff ich Idiot, was er von mir wollte. Andi wollte mich gewinnen lassen. Ich stürmte also auf ihn zu, gab meine Deckung vollkommen auf, holte zum Schlag aus und…. Was machte ich da? War ich wirklich drauf und dran, meinen einzigen richtigen Freund neben Juliet so auszunutzen? Seine Güte zu missbrauchen? Aber ich wollte es unbedingt schaffen. Ich muss es tun. Aber was würde Juliet von mir denken? Wie sollte ich das jemals meiner Familie erklären? Was wäre ich später für ein Vorbild, wenn ich meinem Freund die treue brechen würde? Im letzten Moment, bevor meine Faust Amin erreichte, zog ich meinen Arm zurück und drehte mich zu Adler: “ich werde nicht kämpfen:”. Adler sah mich irritiert an und entgegnete: “Wenn du nicht kämpfst, wird der Sieg automatisch deinem Gegenüber zugesprochen”. “Ich werde auch nicht kämpfen”, sagte Andi und trat einen Schritt vor. “Dann werdet ihr leider beide aus dem Auswahlverfahren entfernt”, sagte er mit aufrichtig betrübter Miene. Gerade als er weggehen wollte, rief Juliet: “Dann gehe ich auch.”. Bestürzt sah Adler erst mich an, dann Andi, dann Juliet und schließlich den Truppführer. “Dann lasst ihr mir keine Wahl, als euch zu disqualifizieren. Durch Erpressung wird der Mauerwächtertrupp nicht von unseren Prinzipien abweichen, so schmerzlich es auch ist, ich habe in euch großes Potential gesehen. Da ging Winter ein Schritt auf den Kommandanten zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Nach etwa einer Minute akustisch kaum wahrnehmbarer Diskussion nickte Adler dem Truppführer zu. Dieser stellte sich gut sichtbar vor allein hin und verkündete: “Wir werden dieses Jahr fünf neue Rekruten begrüßen dürfen, anstelle der festgelegten vier. Falls sich jemand jetzt unfair benachteiligt fühlt, bitte ich diesen aufrichtig um Verzeihung. Mehr als meine Entschuldigung habe ich nicht anzubieten. Bitte nehmt diese großmütig zur Kenntnis.”. Wir konnten unser Glück kaum fassen: Wir hatten es geschafft! Noch dazu, wurden für uns die Regeln gebeugt. Da schaltete Erik dazwischen: “Aber das ist doch unfair…”. “Schweig!”, unterbrach ihn Winter. “Wer damit ein Problem hat, und nicht gewillt ist, meine Entschuldigung als ausreichend zu akzeptieren, ist herzlich eingeladen, zu mir zu kommen. Dann klären wir das wie Männer.”, sagte er, mit absolut kaltblütiger Miene. Darauf war Ruhe.

11. Januar, 6:30 Uhr:
Man hatte uns einen Tag Bedenkzeit gegeben.
Nun standen wir hier. Erik, Sophia, Andi, Juliet und ich standen vor versammelter Mannschaft. Wir sollten jetzt und hier, im Tempel, im Herzen der Mauerwächtertruppe, in den Dienst des Hauses Andersson aufgenommen werden. Wenige Minuten später hörte ich nur noch, wie wir, mit der rechten Hand auf der linken Schulter, den heiligen Schwur ablegen:

“Hört meine Worte, und bezeugt meinen Eid. Die Gefahr zieht auf und meine Wacht beginnt. Kein Feind soll erklimmend die Mauer, vor meinem Tod. Ich will keinen Taler nehmen, kein Land besitzen, keine Reise unternehm. Ich will keine Kronen tragen und keinen Ruhm begehren, bis ich sicherte das Heim. Ich will auf meinem Posten leben und sterben. Ich bin das Schwert bei Nacht. Ich bin der Bogen bei Tag. Ich bin der Schild, der die Menschen beschützt. Ich bin der Wächter der ewigen Mauern.. Ich widme mein Leben und meine Ehre jenen, die Schutz hinter den Mauern suchen. Von diesem Tage an und an allen, die kommen.
Vereinigt eure Herzen!”.
-ewiger Schwur der Mauerwächter


 
Quellenangaben
Inspiration: Kapitel "11.Januar, 6:30Uhr:"
https://gameofthrones.fandom.com/de/wiki/Nachtwache

Lieber @HeAndC

Willkommen bei den Wortkriegern.

In den Anmerkungen zum Text schreibst du: "Mein Anspruch liegt auf anderen Dingen." Worauf liegt denn dein Anspruch? Meiner Ansicht nach, ist es immer zu begrüßen, einen ansprechenden Text zu schreiben, der gewisse "Normen", Achtung Easter Egg, wie zum Beispiel Grammatik und Orthografie erfüllt und den die Lesenden gerne lesen. Sätze wie den vorherigen gilt es dann sparsam zu verwenden. Genug des Vorgeplänkels.

Der Wächter der Mauer
Ich finde den Titel sperrig, irgendwie anstrengend.

Ich greife einmal exemplarisch den folgenden Satz heraus:

Alljährlich trifft sich das gesamte Dorf versammelt am Marktplatz, um nach der obligatorischen Ansprache des amtierenden Bürgermeisters sowie einigen mehr oder weniger bedeutsamen Politikern sich bei schlechter Musik und billigem Alkohol bis zur Bedingungslosigkeit zu betrinken.
Erstens: Der ist mir zu lang. Das bedarf, denke ich, keiner weiteren Erklärung. Wobei, "Marktplatz, um ... [jede Menge andere Information, bevor die Sinneinheit irgendwann, hoffentlich, mal weitergeht] ... sich bei". Puh!
Zweitens: Der Satz lässt sich nicht flüssig lesen. Das liegt an der Länge und komischen Formulierungen wie "trifft sich ... versammelt".
Drittens: Er enthält Fehler, wie zum Beispiel "einigen" oder "Bedingungslosigkeit". Dabei handelt es sich nicht um bloße Tippfehler. Sie sind sinnentstellend.
Wenn mir ein derartiger Satz bereits im ersten Absatz unter die Nase kommt, vergeht mir die Lust aufs Weiterlesen. Sorry, wenn ich das jetzt so deutlich sage.

Deine Verwendung von Zeitformen ist inkonsistent. Ein Beispiel:

Die Tatsache, dass es soeben noch geregnet hat, störte mich nicht, im Gegenteil: Ich liebe den frischen Duft der nassen Natur, den Glanz, den die Tropfen der dankbaren Vegetation verleihen.
Wenn es ihn störte, dann hatte es soeben noch geregnet. Er liebt den Duft nicht, sondern liebte ihn. Du musst dich entscheiden, ob der Erzähler im Präteritum oder Präsens schreibt.

Du verwendest immer wieder merkwürdige Interpunktion. Im unten stehenden Zitat sollte ein Punkt statt eines Doppelpunktes stehen.

Was genau damit gemeint war, wusste ich nicht: Ich

Ich frage, warum sie denn schon wach sei und nicht wie die anderen noch ihren Rausch ausschlief.
Ich kenne keinen guten Grund, indirekte Rede zu verwenden und die Figuren nicht selbst sprechen zu lassen.

Rausch ausschlief. Sie antwortete: "Nachdem wir beide uns gestern verabschiedeten,
Wenn jemand etwas sagt, dann setzt man das üblicherweise auf eine neue Zeile. Diese Art der Formatierung erleichtert das Lesen.

1.Januar, 6:15 Uhr:
Warum genau sind denn diese unglaublich präzisen Zeitangaben notwendig? Dass die Geschichte am Neujahrsmorgen spielt, wird im Text gesagt. Ist es relevant, dass sich die einzelnen Szenen um 6:15 Uhr oder 7:20 ereignen?

All das, was ich oben angemerkt habe, mag vielleicht nicht dein Anspruch sein, doch mir als Leser ist es wichtig.

Nun habe ich zur Geschichte selbst nichts gesagt. Ich werde sie zu einem späteren Zeitpunkt noch im Hinblick auf erzählerische Elemente lesen und mich nochmal melden. Evtl. hat sich bis dahin sogar die Lesbarkeit verbessert. Das wäre super :)

Viele Grüße
Markov

 

Hallo @HeAndC ,

herzlich willkommen bei den Wortkriegern. Da du hier im Fantasy-Genre schreibst, ist der Begriff ja doppelt passend.

Ich bin selbst noch nicht lange hier im Forum. Deshalb übernehme ich gerne den Part des "Herold". Dabei kann ich Dir nicht nur die Gepflogenheiten und Regeln erklären, sondern dich vielleicht motivieren, dich hier einzugliedern.

So sei informiert, Fremder:

Dieses Forum lebt vom Geben und Nehmen. Schau Dir auch andere Geschichten an, lese Kommentare, gib selber Feedback, interagiere mit uns. Dann wirst du Spaß haben und am meisten Lernen. Eventuell findest du sogar Freunde.

Wir sind eher kritisch. Lass' dich davon nicht unterkriegen. Das alles hilft dabei, uns als Autoren zu verbessern. Dabei ist es egal, ob wir als Hobby oder beruflich schreiben. Meine ersten Geschichten hier wurden ziemlich zerrissen. Inzwischen bekomme ich im Schnitt positiveres Feedback.

Ganz wichtig: Es hat sich bewährt, direkt in deinem Posting am Text zu arbeiten. Wenn jemand Fehler findet, korrigiere sie gleich in Ursprungspost. Das motiviert andere, dir auch Feedback zu geben. Wenn es stilistische, grammatikalische oder auch plot-bezogene Kritik gibt, bleibt es natürlich immer deine Entscheidung, was du annehmen willst.

Aber auch hier: Die Geschichten werden besser, wenn du an ihnen arbeitest.

Nutz auch andere Ressourcen (lies über den Aufbau von Geschichten, "Charakter-Entwicklung", Archetypen, genre-typische Szenen etc.) Das macht die Geschichten spannender, lesbarer und .... nunja, allgemein besser.

Ich zitiere mal Tolkien (verändert): “Es ist eine gefährliche Sache, Frodo, den Wortkriegern beizutreten. Du betrittst diese Forum, und wenn du nicht auf deine Finger aufpasst, kann man nicht wissen, wohin sie dich tragen.“ ... meistens lohnt sich die Reise.

Konkret hast Du ja schon ein paar Anmerkungen bekommen.

  • Lass die Uhrzeiten weg. Ohne Armbanduhr stören die in einer Fantasy-Welt eher.
  • Achte auf deine Zeiten als Erzähler. Das stresst den Leser nur, wenn Du so springst. Und du willst deine Leser:innen ja fesseln und nicht verschrecken.
  • Bau Absätze ein. Das ist sonst wie eine Bergbesteigung ohne Pausen.
  • Überarbeite deinen Text. Er wird dadurch meistens besser.
Hier mal ein Beispiel.
Hört meine Worte, und bezeugt meinen Eid.
Die Gefahr zieht auf und meine Wacht beginnt.
Kein Feind soll erklimmend die Mauer, vor meinem Tod.
Ich will keinen Taler nehmen, kein Land besitzen, keine Reise unternehm.
Ich will keine Kronen tragen und keinen Ruhm begehren, bis ich sicherte das Heim.
Ich will auf meinem Posten leben und sterben.
Ich bin das Schwert bei Nacht. Ich bin der Bogen bei Tag.
Wenn das ein "ewiger / alter" Schwur ist, sollte der Text schon stimmig sein.

Und ein alter Schwur liest sich besser, wenn er wie ein episches Gedicht gesetzt ist.
erklimmend ist falsch
unternehm ist falsch
... bis ich sicherte (?) was willst Du damit sagen? Darfst du (danach?) eine Krone tragen.

Lass das bis weg und formulier den Satz um, zum Beispiel so:
Ich will keinen Taler nehmen, kein Land besitzen, keine Reise unternehmen.
Ich will keine Krone tragen und keinen Ruhm begehren.
Ich will auf meinem Posten leben und sterben.
Mit meinem Leben schütze ich Land und Volk.
Ich bin das Schwert ...

Und so weiter.

Wie gesagt: Lass Dich nicht entmutigen und viel Spaß hierbei den Wortkriegern.

Viele Grüße,
Gerald

 

Ich saß draußen, alleine. Nichts als Stille. Ich saß also auf meinem Baumstamm und beobachtete, wie langsam die Tropfen von den Blättern jener Pflanzen und Bäume herunterliefen, welche den Anfang des kleinen Wäldchens bilden, der sich quer durch unser Dorf erstreckte. Die Tatsache, dass es soeben noch geregnet hat, störte mich nicht, im Gegenteil: Ich liebe den frischen Duft der nassen Natur, den Glanz, den die Tropfen der dankbaren Vegetation verleihen. Dass ich um diese Zeit wach war, war eigentlich völlig normal. Für gewöhnlich ist jedermann hier bereits wach und bereitet sich auf seine Arbeit vor, wenn er denn nicht schon mitten in ihr steckte. Doch so nicht heute. Heute schlief mein Heimatdorf.​

Du magst dich fragen,

lieber @HeAndC,

warum ich „nur“ die ersten Zeilen zitiere und dann abbreche. Daraus will ich auch kein Geheimnis machen: Zum einen kann ich mich hinsichtlich der Länge dem Vorredner anschließen und zum andern frag ich mich ernstlich, wie die Gattung „Fantasy“ zur Gattung „Historik“ („Geschichte“ als substantivierte Partizipbildung des Verbes „geschehen“:
„etwas geschieht“) passt, was natürlich nicht die Leistung eines Tolkiens schmälern kann, uralte isländische / nordische Dichtung übersetzt zu haben. Aber mir kommt schon bei den ersten Zeilen vor, als müsste ich gleich eine Missionierung in Deutsch (ursprünglich mit dem ansonsten abhandengekommen teaAitsch im „thiudisk“, wie es bei uns nur noch verschwiegen auf dem Thrönchen ersessen wird) unternehmen, denn es beginnt schon mit dem ersten Sätzchen​


Ich saß draußen, alleine.​
Warum das Komma?
Da darf ich Dir versichern, dass ich auch keine Hemmung hätte, Heinrich von Kleist dergleichen triviale Fragen zu stellen. Es gibt arg viele Komma-Regeln im Deutschen, aber keine dient als Pausenzeichen, dem Luftholen, sie strukturieren alleine den „niedergeschriebenen“ Satz.

Also weg mit dem Komma!​

Ich saß also auf meinem Baumstamm …​
Warum wird „also“ (Konjunktion/Adverb!) angezeigt?
„Folglich“ wäre eine seiner Bedeutungen – aber wem oder was wird da gefolgt? Einem bis dahin unbeschrieben Blatt kann keiner so recht folgen …

Und was ist mit dem Possessivpronomen? - Gut, so lange ich auf einem Stühlchen sitz und keiner mir den „Sitz“ streitig macht, habe ich buchstäblich den (Be)Sitz ersessen. Ein Artikel (ob bestimmt oder nicht, Jacke wie Hose) ist da sinnvoller ...

Aber das Hauptproblem zeigt sich im (Ge-)Zeiten-Wirrwar​

… und beobachtete, wie langsam die Tropfen von den Blättern jener Pflanzen und Bäume herunterliefen, welche den Anfang des kleinen Wäldchens bilden, der sich quer durch unser Dorf erstreckte. Die Tatsache, dass es soeben noch geregnet hat, störte mich nicht, im Gegenteil: Ich liebe den frischen Duft der nassen Natur, den Glanz, den die Tropfen der dankbaren Vegetation verleihen. Dass ich um diese Zeit wach war, war eigentlich völlig normal. Für gewöhnlich ist jedermann hier bereits wach und bereitet sich auf seine Arbeit vor, wenn er denn nicht schon mitten in ihr steckte. Doch so nicht heute. Heute schlief mein Heimatdorf.​
Du solltest Dich für eine entscheiden.
Die meist verwendete in der erzählenden Zunft ist die „Vergangenheit“ (was ja schon in der „Nach“erzählung manifestiert ist, die freilich zunehmend mit der literarischen „Gegenwart“ konkurriert.)

Aller Anfang ist schwer und vor allem ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.

Was hätte er auch davon – außer einem gebrochenen Genick!

Also Kopf hoch, selbst noch mal durchgehen, dann liegenlassen, etwas Abstand gewinnen und nochmals durchsehen oder – besser noch – durchsehen lassen, um aufkommender Betriebsblindheit vorzubeugen. Da wäre es einfacher, eine kürzere Geschichte für den Anfang einzustellen ...

Ich bin überzeugt, dass es was werden kann hierorts, selbst wenn's einige Mühe kostet - vor allem am Anfang.

Friedel,

der trotz des Wetters einen schönen Sonntag wünscht und ein herzlich willkommen hierorts nicht vergisst!​

 

zum andern frag ich mich ernstlich, wie die Gattung „Fantasy“ zur Gattung „Historik“ („Geschichte“ als substantivierte Partizipbildung des Verbes „geschehen“:
„etwas geschieht“) passt
Mein lieber Friedl,

das ist sogar ein eigenes Untergenre der spekulativen Fiktion und das gab es bereits im Mittelalter (von heute aus gesehen lustig - eine historische Alternativhistorie <3): Alternative History / Parallel History, auf gut Deutsch: Alternativweltgeschichten.

Da sollte - anders als in z.B. SF oder vor allem Fantasy wie Tolkiens, wo reale Kultur/Historie künstlerisch interpretiert neuverwendet wird - die reale Geschichte bis zu einem bestimmten, gewählten Zeitpunkt korrekt verwendet werden und dann sollte auch die Alternativhistorie ab dem Punkt, an dem es spekulativ wird, nicht vollkommen arbiträr laufen, sondern noch so, dass es eine sinnvolle Konsequenz aus dem - realen - Davorliegenden ergibt.

Im Grunde - daher wundert mich deine Frage - genau das, was du selbst öfter so wunderbar gekonnt schreibst.

Diesen Text, sorry @HeAndC , hab ich sehr schnell nur noch überflogen, weil das echt brutale, unstrukturierte Textblöcke sind und mich auch sonst nichts reingezogen hat. Es sieht aber so aus, als hättest du dich gleich wieder aus diesem Forum verabschiedet, daher spare ich mir einen Komm.

Ganz herzliche Grüße, Friedl, bleib gesund,
Katla

 

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