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Der Weinverkäufer, seine Katze und das Programm
Ich bin kurz davor, von mir selbst in der dritten Person zu denken. Dann hätte alles mehr Klasse. Er öffnet die Tür, stellt die Plastiktüten in den Flur und verbarrikadiert den Türspalt mit seinem Fuß, um zu verhindern, dass die fette Katze rausschlüpft. Obwohl er nicht damit rechnet, dass die Katze überhaupt raus will. Es ist mehr ein Spiel zwischen ihm und seiner Katze. Eins, das er gewinnt. Die Katze nimmt ihre Niederlage wie ein Kater, streicht um die beiden Plastiktüten und er sagt zu ihr: „Boeuf Stroganoff.“ Sie schnurrt verständnisvoll, schaut noch einmal zum Türspalt und zieht von dannen.
Ja, das hätte mehr Klasse.
Ich kann mir schlecht Zahlen merken, sie machen mir irgendwie Angst, sie haben so etwas Endgültiges. Wenn Worte Bilder sind, dann sind Zahlen ein Bilderrahmen, die verändern sich nicht mehr, die bleiben wie sie sind, man kann nicht über Zahlen reden, Zahlen lassen keinen Spielraum für Interpretationen oder Meinungen, natürlich, ein paar sind irgendwie mystisch. Die Sieben, die Dreizehn, aber ich mag sie trotzdem nicht.
Die Mikrowelle klingelt und ich nehme das Boeuf Stroganoff heraus, kippe zwei Drittel in den Napf der Katze und lasse das letzte Drittel in der Folie. Die Katze kommt nicht, das ist so eine Art Pawlowscher Reflex - nur umgekehrt. Man könnte ja erwarten, weil sie natürlich weiß, dass es jetzt gleich Essen gibt, sie kommt dann, aber Nein. Gerade nicht. Sie liegt auf der Fensterbank im Wohnzimmer, hat die Augen halb geschlossen und schaut mich an, wie ich da stehe mit dem Napf in der Hand, und das Zeug duftet schon, leicht nach Wein, aber nicht so stark. Die Katze gähnt, das ist ein Zeichen von Sympathie, glaube ich. Einmal hab ich aus ihrem Napf gegessen, aber ich weiß nicht mehr wann, nur um zu sehen, was dann passiert. Aber das hat auch nicht viel gebracht. Es ist halt nur eine Katze. Ich stelle den Napf auf den Boden und setze mich an den Rechner. Sie isst erst, wenn ich sitze. Ich schaue über meine Schulter, aber nicht auf den Boden, denn das mag sie nicht, ich schaue über meine Schulter auf die Uhr, die ein bisschen nachgeht, und ich weiß, es ist an der Zeit.
Ich könnte die Uhr natürlich stellen, aber wozu? Die am Rechner geht ja richtig.
Wahrscheinlich wäre es besser, wenn ich während der Arbeit ein Er wäre und kein Ich. So neben mir stünde, und mir dabei zusähe, wie ich Zahlen anstarre und Sätze sage und Dinge tippe, immer die gleichen. Ich könnte neben mir stehen und sehen, wie die Katze frisst, wie sie ihre Pfote reintaucht oder vielleicht geht sie ja noch mal zurück. Vom Napf weg, nimmt dann Anlauf und galoppiert – ihr Bauch schleift über den Boden – galoppiert auf den Napf zu und springt hinein. Die Katze nimmt ein Bad im Boeuff Strogaoff. Und ich stehe daneben und falte die Hände und strahle wie ein Vater, dessen Kind die ersten Schritte tut und sage: „Gut gemacht“ oder „Du bist die klügste Katze auf der ganzen Welt“, bevor ich die Sauerei wegmache, aber das geht ja leicht, ist Parkett. Wahrscheinlich ist sie deshalb böse auf mich, Krallen und Parkett – da wäre ich auch böse.
Im Schlafzimmer liegt Teppich aus, aber da darf sie nicht rein. Es muss auch Grenzen geben, ob sie es versteht oder nicht. Ich bin hier der Mensch und sie ist die Katze. Ich füttere sie, ich habe das Sagen.
Mein Job geht so: Ich setze mich an den Rechner und das Programm verbindet mich. Unten rasen Zahlen durch, Telefonnummern, man wählt für mich, man verbindet mich und ich muss dann nur sprechen. Weil telefonische Ansagen nichts bringen. Wirklich nicht, die Leute legen dann auf, wenn sie so eine Stimme vom Band hören, dann wissen sie, jetzt ist was faul, da gibt es keine Hemmschwelle aufzulegen, gar keine. Man kann die Gefühle einer Maschine nicht verletzen, das geht nicht, aber meine. Wenn ich jemanden anrufe und ihm sage, ich verkaufe Wein. Das hat Klasse, natürlich sage ich nicht, „verkaufe“, ich muss erstmal eine Basis schaffen, sozusagen, aber ich bin da auch grade weg, ich sage meine Namen und die Firma, für die ich arbeite, da habe ich eine Ethik. Vielleicht sage ich es nicht immer deutlich, vielleicht nuschle ich da ein wenig und wenn sie fragen: „Wie bitte?“, dann sage ich vielleicht was anderes. Manchmal. Also mein Job geht so: Das Programm verbindet mich mit Menschen, ich rede mit ihnen für ein paar Minuten und notiere dann: Kein Interesse, Interesse, Bestellung. Kein Interesse heißt wir streichen sie für sechs Wochen von der Liste. Also nicht „wir“, sondern „man“, das Programm. Bei Interesse rufen wir sie jede Woche an und schicken einen Katalog und all solche Sachen und bei Bestellung, na ja, das macht alles das Programm. Wie eine Speisekarte, ich muss mir nur die Nummern notieren, also gleich eingeben eigentlich, weil ich sie mir nicht lange merken kann.
So geht mein Job und es ist eine Kunst, die Stimme ist wichtig, die Stimmebene, warm und voll muss sie klingen, wie Boeuff Stroganoff, wie Katzenfell. Ich mach mir da keine Illusionen, ich bin ein Störfaktor. Deshalb die Ethik. Wenn im Hintergrund ein Baby schreit, dann lege ich auf. Ich hab mal von jemandem gehört, der so gut war, dass sie ihn die Sirene nannten. Er hat Reisen verkauft, das ist natürlich leichter. Die Sirene hat also mal jemanden angerufen, eine junge Frau, vielleicht zwanzig, einundzwanzig, grade Mutter geworden, eben den Kopf noch voller Zukunft gehabt und jetzt Windeln und Babykacke und nächtliche Schreieinlagen. Und die Sirene fängt an und erzählt von Palmenstränden und von der Sonne und von Sand. Das war die Spezialität der Sirene: Sand. Der helle Sand, der warme, von der Sonne aufgeheizt, mit den Zehen darin wühlen und dann ein Stück weiter runter, der dunkle Sand, den das Meer küsst und wieder verlässt, wie eine weiche, flauschige Decke. Ist natürlich was Sexuelles. Ebbe und Flut. Aber das hat die Sirene nicht gesagt, nicht mit Worten, nur mit der Stimme. Die Sirene hört also im Hintergrund ein Baby schreien, aber hat die Reise so gut wie verkauft und die Frau hört ihm zu, hat wahrscheinlich die Augen geschlossen, riecht Martinique oder die Dominikanische Republik, irgendwas, was sie mal in einem Bond-Film gesehen hat, also die Sirene hat natürlich nicht gewusst, dass das Kind vom Wickeltisch gefallen ist, Schädelfraktur. Aber tja, also deshalb hör ich auf, wenn ich im Hintergrund Kinder schreien höre. Aber ich bin natürlich auch nicht so gut wie die Sirene damals war, aber er hatte es auch leichter. Hat ja Reisen verkauft und nicht nur Wein.
Mit Wein ist es schwer, wer weiß schon, wie nussig schmeckt oder lieblich. Halb-trocken, wer möchte denn etwas Halbes haben. Nussig. Da denken die Leute, ich soll zwanzig Euro für drei Flaschen bezahlen, die dann so schmecken wie die sechzig Cent Erdnuss-Büchse aus dem Lidl. Nein, nein, nein. Ich rede von Explosionen, von Küssen und Festen. Geschmacksknospen ist das beste Wort, ich danke Gott dafür. Sie explodieren, werden liebkost und geküsst. Der Wein entfaltet sich, die Sonne hat die Trauben aufgeladen bis zum Bersten, man weiß ja, wie gut Sonne ist, wie ein Solarium und auch der Regen, man schmeckt ihn, die Blitze, ja, das kann man alles schmecken. Und man muss dazu nichts tun, es ist nichts für Kenner, küssen doch auch nicht, jeder kann Wein trinken und es erleben. Will man wirklich sterben mit Geschmacksknospen, die noch nie explodiert sind. Wie eine Jungfrau? Wenn man im Himmel steht an Petrus Tor, will man da wirklich sagen: Ach, Rotwein, das hab ich mir ja nie gegönnt. Das war mir immer zu chic. Selbst chic sein, ein wenig dekadent, genießen, ist ja auch Macht, sich verwöhnen. Und wie günstig, fast geschenkt. Ist es das nicht wert, drei Stunden zu arbeiten für drei Abende Genuss.
Ich trinke ja selbst keinen Tropfen, wahrscheinlich bin ich deshalb nicht so gut wie die Sirene. Aber ich weiß nicht, ob der gerne verreist ist.
Hinter mir frisst die Katze ihren Napf leer, das Programm begrüßt mich „Guten Tag“, ich klicke auf „Okay“ und Zahlen rasen unten durch, Telefonnummern werden gewählt. Die erste geht dran „Ja?“ und ich fange an. Es ist eine Frau.
Es gibt da eine Geschichte über mich, und wenn ich so gut wäre wie die Sirene, dann würde man sie erzählen. Man würde mir einen Namen geben und bei den viertägigen Anfängerseminaren über mich sprechen. Da war ein Typ, der konnte sich keine Zahlen merken, würden sie sagen. Dabei stimmt das gar nicht, ich kann mir Zahlen merken, ich mag sie nur nicht. Ich weiß nicht, ob das ihm passiert ist oder mir. Er oder ich. Dem Typen mit der Katze halt, der hat sich mal verliebt, am Telefon. Natürlich albern, in eine Stimme, die wie Katzenfell war, die explodierte, die Knospe. Er hat eine Stunde mit ihr geredet, einfach so, nicht über Wein, über alles und da hat er sich verliebt. Er weiß heute gar nicht mehr, über was er gesprochen hat. Wirklich nicht. Die Stunde, die er mit ihr gesprochen hat, ist jedes Mal anders, wenn er an sie zurückdenkt. Er hat in diese Stunde alle Themen gepackt, die es gibt. Im Nachhinein, oh ja, er hat diese Stunde tausendmal erlebt und immer war sie anders. Aber was er nicht wusste, was keiner weiß: Nach einer Stunde legt das Programm einfach auf. Wahrscheinlich aus Kostengründen, weil wer nach einer Stunde noch keinen Wein bestellt hat, der bestellt ihn auch nach zweien nicht. Nach einer Stunde legt das Programm einfach auf. Er weiß nicht mehr, über was sie gesprochen haben, als das Programm aufgelegt hat. Wahrscheinlich nicht über Wein, schon lange nicht mehr, vielleicht über Träume oder Katzen oder über schwarzen Sand. Das Programm legt auf und die Zahlen blinken noch, die Telefonnummer, sie blinkt noch und er dreht sich um und sucht einen Stift und jetzt erzählen sie natürlich, die Katze hätte auf dem Stift gelegen, die fette Katze hätte auf dem Stift gelegen und er wäre ganz panisch gewesen und völlig hektisch und er hätte geschwitzt und geweint und auf die Zahlen gestarrt und an der Katze gezerrt und hätte die Zahlen gebrüllt, um sie sich zu merken, aber das stimmt gar nicht, ich habe gar nichts gemacht, ich weiß gar nicht mehr, was ich gemacht habe, irgendwas hab ich bestimmt gemacht und die Katze hatte damit nichts zu tun. Gar nichts und ich kann mir Zahlen merken, ich mag sie nur nicht.
Und eigentlich ist es gut so. Jeden Tag denke ich, das Programm wählt ihre Nummer wieder aus. Ich hab schon mit vielen gesprochen, mit denen ich schon mal gesprochen habe. Also das wiederholt sich alles. Und um Wein zu verkaufen, das ist nicht wie mit Reisen, um Wein zu verkaufen, muss man immer auch ein bisschen traurig sein. Wirklich.