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Thema des Monats Der Weise

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Beitritt
01.06.2005
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Der Weise

Weit im Süden mündete der große Fluss in ein Binnenmeer, welches das graue Meer genannt wurde. Das Ufer fiel dort in einer steilen Klippe aus weißer Kreide zum Wasser ab. Am höchsten Punkt dieser Klippen stand der Schrein des Weisen, und Menschen von weit her, manche von jenseits des Nordwaldes, suchten hier seinen Rat.
An der Mündung des Flusses lag eine kleine Stadt grauer Holzhäuser, die stets der Nebel vom Meer umhüllte.

Hierher verschlug es den Langen Mann auf seiner Reise.
Als er die Stadt betrat, beäugten ihn die Menschen misstrauisch, denn seine Kleider waren zerlumpt, und sein Haar und Bart hingen lang und strähnig herab. Doch trug er einiges Geld bei sich, und so gab ein glücklicher Zufall, dass er Obdach im Haus des Kunstschmiedes fand, eines freundlichen Mannes, der in der Sprache des Langen Mannes den Klang der Nordleute seiner alten Heimat erkannte.
"Wie ist Euer Name?", wollte der Kunstschmied von ihm wissen.
"Man nennt mich ... Kineas", antwortete der Lange Mann, denn er wollte nicht mehr, dass man ihn erkannte.
Der Kunstschmied lud ihn ein, mit ihm zu speisen. Er erzählte viel von der Stadt und dem grauen Meer.
So hörte der Lange Mann vom Schrein des Weisen und beschloss, diesen aufzusuchen.

In der Vorhalle des Schreins stand ein Wächter.
"Ihr könnt nicht hinein", sagte er zum Langen Mann. "Der Weise empfängt gerade Ratsuchende."
"Auch ich bin ratsuchend", gab der Lange Mann zur Antwort.
"So wartet hier, bis der Weise Zeit für Euch findet."

Wenig später verließ ein junges Paar den inneren Raum, und kam am Langen Mann vorbei. Das Gesicht der Frau war vom Weinen gerötet, doch ein Schimmer wie von neuer Hoffnung lag in ihren Augen.
"Habt Ihr erfahren, was Ihr zu wissen begehrtet?", fragte der Wächter.
Das bejahten die Leute froh, und gaben dem Wächter Geld zur Erhaltung des Schreins. Da war dem Lange Mann, als könne auch seine Sehnsucht sich hier erfüllen.

Nun wurde der Lange Mann eingelassen. Er durchschritt ein schweres Tor, hinter dem sich eine Reihe weiterer Kammern befand, jede mit einem kleineren Tor dahinter, bis er schließlich hinter der vierten Pforte einen kargen Raum fand. Inmitten dieses Zimmers saß der Weise auf einer einfachen Decke aus Leinen.
Der Lange Mann nahm vor ihm Platz, und der Wächter verschwand. Dort waren sie allein. Die umgebenden Räume hielten jedes Geräusch fern.
Der Weise schien sehr alt zu sein. Seine Augen waren trübe Spiegel, erblindet mit der Zeit. Er saß gebeugt und summte leise vor sich hin.
"Weiser", begann der Lange Mann, "einen Weisen nennen viele auch mich, andere halten mich jedoch für verrückt. Ich bin der Lange Mann, meinen richtigen Namen habe ich abgelegt, als ich mit meinem Meister aus den Klöstern des fernen Ostens zurückkehrte, und er mich hieß, herumzureisen und den Menschen zu bringen, was ich gelernt hatte.
Der Meister stellte mir die Aufgabe, die letzten Dinge zu lernen, um dann zu ihm zurückzukehren." Die Augen des Langen Mannes verschleierten sich bei diesen Worten. "Wie ich ihn vermisse! Denn ich fühle mich allein, und bedarf doch selbst so sehr eines Rates!"
Der Weise saß vor ihm und hielt die blinden Augen auf ihn gerichtet. Aber er sagte nichts.
"Ich befreite eine Frau von einer ungerechten Anklage, doch meine Offenbarung brachte mir nur den Hass meiner Mitmenschen ein. Ich zeigte ihnen die Widersinnigkeit ihrer Regeln, doch sie verstanden nicht und hielten nur an noch widersinnigeren Gebräuchen fest. Und ich legte ihre Fesseln an die Bestimmung bloß, doch sie verlachten mich und jagten mich erneut in den Wald. Ich zeigte ihnen die Dumpfheit ihrer Kunst, doch sie erfreuten sich daran. Und meine Belege für die Falschheit ihrer Götzen mehrten ihre Verehrung nur." Hier brach seine Stimme. "Schlimmere Dinge geschahen, viele starben. Und auch wenn ich nicht daran schuldig gesprochen werden kann, so konnte ich trotz all meines Wissens nichts davon verhindern."
Der Weise aber saß nur still da, während der Lange Mann Tränen vergoss.
Schließlich stand der Lange Mann auf und verließ die Kammer, betrübt, keine Antwort erhalten zu haben.
"Habt Ihr erfahren, was Ihr zu wissen begehrtet?", fragte der Wächter auch ihn.
Der Lange Mann schüttelte den Kopf.
"So kommt wieder", sagte der Wächter. "Manche suchen den Weisen zweimal oder dreimal auf, bevor sie Einsicht erhalten."

So kam der Lange Mann am folgenden Tag zurück. Diesmal musste er warten, bis eine alte Frau, deren Gesicht von einer schlimmen Krankheit entstellt war, aus dem inneren Raum zurückkehrte. Auch sie trug die Hoffnung in den Augen.

Als der Lange Mann vor dem Weisen saß, bat er ihn wieder um seinen Rat.
"Weiser", sagte er, "wenn ihr mir nur sagen könnt, wie ihr den Menschen helft, dann kann auch ich vielleicht wieder hoffen. Denn ich möchte nichts mehr, als mit meinem Wissen Gutes tun, und so die letzten Dinge erlernen."
Der Weise summte leise, doch gab er keine Antwort.
Da musste der Lange Mann dem Wächter erneut gestehen, dass er keine Antwort erhalten habe. Er versprach aber, zurückzukehren, denn in ihm regte sich ein Verdacht.

Nun traf der Lange Mann Vorbereitungen. Er gab dem Kunstschmied einen Teil seines Geldes, damit dieser eine bestimmte Gerätschaft für ihn anfertigte.
Es brauchte zwei Wochen, bis dies zur Zufriedenheit des Langen Mannes erledigt war.
Mit diesem Apparat in seinem Gewand verborgen, kehrte er in den Schrein zurück. Diesmal durfte er sofort eintreten.

Vor dem Weisen sitzend, sprach er diesmal kein Wort, sondern zog die Pistole, die der Kunstschmied ihm gefertigt hatte, und hielt sie dem Weisen vor. Dieser zeigte keine Regung, denn er war blind.
Dann feuerte der Lange Mann einen Schuss ab. Es knallte ohrenbetäubend in der kleinen Kammer. Für einen Moment war der Lange Mann sich nicht gewiss, ob der Krach nicht vom Wächter gehört worden war, doch es blieb alles ruhig.
Der Weise saß unbewegt vor ihm. Er hatte nichts gesehen, und er hatte den Pulverschuss nicht gehört, denn er war vollständig taub.
Da lächelte der Lange Mann, und Hoffnung zeigte sich in seinen Augen.

"Habt Ihr erfahren, was Ihr zu wissen begehrtet?", fragte der Wächter, als er herauskam.
"Das habe ich, habt vielen Dank", antwortete der Lange Mann. Er gab dem Wächter einen Teil seines Geldes. Dann ging er, um seine Reise entlang des grauen Meeres nach Westen fortzusetzen.

 

So, hier nun ein weiterer Teil der Saga um den Langen Mann.

Für Fans: Das ist Teil 6 oder 7. Nein, ihr habt nichts verpasst, die vorigen Teile 4-5 sind noch nicht online, aber der hier passte am besten zum Thema "Sehnsucht".

Viel Spaß!
Naut

 

Hallo Naut,

die Menschen wollen also nicht Weisheiten, sondern Anteilnahme. :)
Hat mir gefallen, wenn auch das Gefühl des Unheimlichen und Seltsamen, das ich beim Lesen der ersten beiden Geschichten hatte, ausgeblieben ist. Dafür erfahren wir mehr vom Leben des Langen Mannes. Auch nicht schlecht!

Dein Stil ist wie immer gut. Deine Schilderung des Hungers einer Spore hat aber gezeigt, dass Du noch mehr drauf hast. An einigen Stellen dieser Geschichte verwendest Du das Passiv, wo es nicht sein müsste. Du schreibst z.B.:

Weit im Süden mündete der große Fluss in ein Binnenmeer, das vom dortigen Volk das graue Meer genannt wurde.

Besser wäre: Weit im Süden mündete der große Fluss in ein Binnenmeer. Das dortige Volk nannte es das Graue Meer.

Bin schon gespannt auf weitere Geschichten!

Freundliche Grüße,

Fritz

 

Hallo Fritz,

schön, dass es Dir gefallen hat. Ich werde die Geschichte demnächst nochmal durchforsten, ob da nicht in den Formulierungen noch mehr zu holen ist.

Ansonsten denke ich, dass der sechste (oder fünfte) Teil, der Vorgänger zu dieser Episode mit Abstand der bizarrste wird. Kann ich aber noch nicht so genau sagen.

Danke & Grüße,
Naut

 

Hallo Naut,
naja, Sehnsucht ist mir da vielleicht etwas sehr dünne. Mit der Thema-des-Monats-Umsetzung bin ich da zufriedener, wenn ich das, was illu da gepostet hat, richtig verstehe :roll: Einmal ist mir ein Fehler aufgefallen, da hast du den Langen Mann nicht in den Akkusativ getan... ich muss dabei irgendwie immer an diesen Felsen vor Helgoland denken, bei dem Namen ;)
Wenn es so bizarr wird, bin ich ja mal gespannt auf den Rest der Serie. *kritisiersenseschärf* :D

gruß
vita
:bounce:

 

vita schrieb:
naja, Sehnsucht ist mir da vielleicht etwas sehr dünne. Mit der Thema-des-Monats-Umsetzung bin ich da zufriedener, wenn ich das, was illu da gepostet hat, richtig verstehe :roll:
Ging mir genauso. Aber ein bisschen Sehnsucht nach seinem Mentor hat er doch. :)
Einmal ist mir ein Fehler aufgefallen, da hast du den Langen Mann nicht in den Akkusativ getan...
Hmm. Ich habe den Text jetzt noch drei mal gelesen und ich find's einfach nicht. :(
ich muss dabei irgendwie immer an diesen Felsen vor Helgoland denken, bei dem Namen ;)
Interessanter Bezug. Das werde ich verwenden (für Teil 0).
Wenn es so bizarr wird, bin ich ja mal gespannt auf den Rest der Serie. *kritisiersenseschärf* :D
Nur relativ zum Rest der Serie. Wenn Du etwas wirklich Bizarres von mir lesen willst, lies "Semantik" oder "Zwei Minuten Warnung". Aber sag nicht, ich hätte Dich nicht gewarnt ;)

Danke für's Lesen,
Naut

 

Hi Golio,

ein bisschen Bammel hatte ich schon vor Deiner Kritik, um so mehr freut es mich, dass es Dir gefallen hat. :)

Der Lange Mann hat sich verändert. Ich hoffe, in den fehlenden mittleren Teilen plausibel machen zu können, wie es dazu kam. Am Anfang seiner Reise ist er cooler, aber hier in der Mitte hat er ja auch schon einiges mitgemacht.

Die Probleme vieler Leute lassen sich "lösen", einfach indem ihnen jemand zuhört, einfach, weil sie eigentlich unlösbar sind. Das junge Pärchen hat ein Kind verloren. Das ist nichts, was man einfach mit Weisheit wegdiskutieren kann, es muss ausgesprochen und bewältigt werden. Ähnlich bei der kranken Frau. Als Zuhörer ist der Weise gut geeignet.

Klasse, dass Du am Schluss lachen musstest. Es sollte wirklich mal wieder eine Überraschung sein.

Grüße,
Naut

 

Hallo Naut,

Die Geschichten vom langen Mann haben auch mich schon so manches Mal erfreut. Ich muss mich zwar, was den Audruck betrifft, meinen Vorrednern anschließen, doch die Geschichte ist dennoch gut zu lesen und vermittelt eine Botschaft, wenn auch nicht allzu direkt. Meine Erfahrungen beim Weiter/Nacherzählen der Geschichte zeigen, dass ich entweder ein schlechter Erzähler bin ;-) oder das Ende nicht sofort einleuchtet. Vielleicht ist das ja in einer der nächsten Folgen wieder anders...
Mir hat der Text auf jeden Fall zugesagt.

Hier noch zwei kurze Anmerkungen:

denn seine Kleider waren zerlumpt und sein Haar und Bart lang
Das geht noch eleganter ;-)

dass er Obdach im Haus eines Kunstschmiedes fand, eines freundlichen Mannes, der in der Sprache
Das kann man sinnverstärkend kürzen, z.B. "...dass er Obdach im Haus eines freundlichen Kunstschmiedes fand, der..."

 

Hi HienTau,

ich habe Dich nicht vergessen. :)
Den ersten angemerkten Satz habe ich verändert, um das Universalium "waren" bzgl. Haar loszuwerden. Der zweite Satz gefällt mir so wie er ist am besten, weil die kürzere Version den Sinn verändern würde: Ein freundlicher Kunstschmied ist etwas anderes als ein Kunstschmied, der ein freundlicher Mann ist. Da besteht für mich eine Unterscheidung im rollentheoretischen Sinne.

Danke!

Naut

 

ich habe Dich nicht vergessen.
*Wahnsinnig beruhigt ist* ;-) Da ich mich im Moment tendenziell selbst vergesse, freut es mich um so mehr, dass andere meiner gedenken (</blubb>).
Deine Erklärung zum Schmied ist einleuchtend. Ich finde es gut, wenn man zu seinen Formulierungen stehen kann. Freue mich auf weitere Werke...

 

Hallo Naut,
geschickt verstehst du zu werben ... hast mich ja neugierig gemacht. ;)

Hat mir gut gefallen. Es erinnert mich an eine Geschichte von Michael Ende im Spiegel im Spiegel erinnert, aber diese Situation mit dem Ratsuchen und erst nicht finden kommt ja wohl öfter vor; ist vermutlich auch archetypisch, besonders in solchen Geschichten.

Eine Sache noch: der Weise ist blind

Seine Augen waren trübe Spiegel, erblindet mit der Zeit.
dazu passt dann nicht
Die Augen des Langen Mannes verschleierten sich bei diesen Worten.

Und noch was: einen Gongschlag hätte ich stimmiger gefunden als einen Pistolenschuss.

Gruß, Elisha

 

Hallo Elisha,

für den Michael-Ende-Vergleich bedanke ich mich artig, das ist eine Ehre. Die Geschichte kenne ich nicht, muss ich wohl mal ausgraben.

Der Widerspruch, den Du anmerkst, ist keiner: Die erste Stelle bezieht sich auf den Weisen, die zweite auf den Langen Mann. Das liegt vielleicht daran, weil zwei Weise in einer Geschichte fast zu viele sind, aber ich wollte hier zeigen, dass auch ein Weiser mal Rat braucht.

Die Pistole habe ich wegen des Knalleffekts ( ;) ) gewählt, außerdem passt sie für mich eher in die Welt von Mare und dem Langen Mann: Lokomotiven, Metallriesen, Uhren und eben Pistolen. Aber das ist wohl eher Geschmackssache.

Danke für's Gefallen & Kommentieren,
Naut

 

Hallo Naut,

Der Widerspruch, den Du anmerkst, ist keiner
*noch mal nachles*
Peinlich, hab ich falsch gelesen, und das zweimal ...
Frei nach Verrückt nach dir (Serie auf Nick): "Du hattest Recht", aber was noch wichtiger ist: "Ich hatte Unrecht." ;)

Zu schnell gelesen.
Gruß, Elisha

 

Hallo Naut!

Alles Gute zu Deinem Geburtstag! :)

Wieder eine schön erzählte, hintergründige Geschichte mit dem Langen Mann. Ich mag Deine knappe und ziemlich ausgefeilte Erzählweise, und wenn sich dahinter eine Aussage verbirgt, wie es in den Geschichten mit dem Langen Mann der Fall ist, ist die Geschichte so gut wie perfekt, so wie diese hier. Da gibt es nur mehr das »ziemlich« zu beseitigen, bei dem ich gern mithelfe. ;)

Die Aussage, daß es schon hilft, wenn man nur jemanden hat, der einem zuhört: Zu einem Teil stimme ich zu, zum anderen nicht (was aber für die Geschichte unmaßgeblich ist). Wenn ich zum Beispiel jemandem von einem Problem schreibe – beim Schreiben funktioniert das bei mir besser als beim Erzählen –, dann löst sich manches im Zuge des Schreibens auf, wo ich vorher keine Lösung oder keinen Ausweg sah. Soweit stimme ich mit der Aussage überein. Aber oft ist es doch auch so, daß man sich irgendeine Anteilnahme – Mitgefühl oder einen Rat – erhofft, und das kann eben nur jemand sein, der auch tatsächlich zuhört und Feedback gibt oder einen vielleicht in den Arm nimmt, je nach Situation, statt bloß da zu sitzen. Es heißt ja auch »geteiltes Leid ist halbes Leid« und »geteilte Freude ist doppelte Freude« – das Miteinander, die Kommunikation macht es leichter oder schöner.
Wie gesagt, kenne ich es schon auch in der Form, wie Du es beschreibst, aber eben nicht nur, es kommt meiner Meinung nach auf den Einzelfall an, ob einem das reine Erzählen hilft, oder ob man auch Feedback braucht. Falls ich Dich jetzt aber überzeugt habe und Du dahingehend etwas ändern möchtest, würde es meiner Meinung nach reichen, wenn der Weise zum Beispiel jedem ein Lächeln schenken würde – irgendeine Reaktion eben. Einmal summt er ja sogar, da dachte ich schon, er würde ihm damit etwas sagen wollen, habe jedoch keinen weiteren Hinweis dazu gefunden und den Gedanken schließlich über Bord geworfen.

Gefallen hat mir die Geschichte aber auf jeden Fall. – Vielleicht willst Du ja auch viel mehr in die Richtung gehen, daß jeder seine eigene Erkenntnis braucht, sie ihm niemand geben kann. So, wie ja auch die Aktionen des Langen Manns nicht immer zu den Erkenntnissen führen, die er beabsichtigt hatte. Hm, ich glaube fast, daß das Deiner Intention näher kommt, und dem würde ich mich auch viel lieber anschließen, als der alleinigen Aussage, daß jeder nur jemanden zum Zuhören braucht, selbst wenn er gar nicht hören kann und auch nicht sieht, wie verzweifelt oder traurig man schaut. Eine Erkenntnis kann man nur selbst haben, egal ob mit oder ohne Reaktion des anderen. Dafür würde ich eventuell die Erkenntnis selbst – und deren Reifen im Kopf des Langen Mannes – deutlicher machen.

Naja, vielleicht meinst Du jetzt ja auch, es reicht, so wie es da steht, da Du mich ja genug zum Nachdenken gebracht hast, und damit hättest Du auch wieder nicht Unrecht. :D

Zum Feilen mit der ganz kleinen Feile hab ich nur wenig gefunden:

»das vom dortigen Volk das graue Meer genannt wurde.«
– das mit dem dortigen Volk hat mir, wie schon dem Guten Fritz, nicht so ganz gefallen, habe aber auch keinen besseren Vorschlag.

»suchten hier seinen Rat.«
– »seinen« könntest Du streichen

»An der Mündung des Flusses lag eine kleine Stadt von grauen Holzhäusern, die stets der Nebel vom Meer umhüllte.«
– wäre da eher für »Stadt aus grauen Holzhäusern«

»dass er Obdach im Haus eines Kunstschmiedes fand, eines freundlichen Mannes,«
– würde schreiben »des Kunstschmiedes«

»"So wartet hier, bis der Weise Zeit für Euch findet."
Nach einiger Zeit verließ ein junges Paar den inneren Raum,«
– Wiederholung Zeit, schlage »Nach einer Weile verließ ein junges Paar« vor.

»Ich bin der Lange Mann, denn meinen richtigen Namen legte ich ab, als«
– »denn« würde ich streichen und statt »legte ich ab« fände ich »habe ich abgelegt« richtiger

»Denn ich fühle mich allein, und bedarf doch selbst so sehr eines Rats!"«
– Nachdem Du auch sonst in eher gehobener Sprache schreibst, also nicht so ganz modern, würde ich hier auch »Rates« schreiben – das Weglassen des e’s ist doch eine neuere Änderung in der Sprache. Habe den Text jetzt nicht speziell darauf durchgeschaut, möglicherweise findest Du noch mehr solche weggelassenen e’s.

»Doch er sagte nichts.
"Ich befreite eine Frau von einer ungerechten Anklage, doch meine Offenbarung«
– Wiederholung »doch«

»so konnte ich doch trotz all meines Wissens nichts davon verhindern."«
– früher schrieb man eher »trotz meinem Wissen« – siehe dazu im Duden Nr. 9 unter »trotz« (falls Du keinen hast, zitier ich es Dir in einer PM). Es ist auch heute nicht falsch, es kommt nur drauf an, wo man wohnt.

»Schließlich stand der Lange Mann auf und verließ die Kammer, betrübt, keine Antwort erhalten zu haben.«
– würde zwischen »Kammer« und »betrübt« etwas ein mehr trennendes Satzzeichen wie ; oder – verwenden.

»Erneut musste er warten, bis eine alte Frau, deren Gesicht von einer schlimmen Krankheit entstellt war, aus dem inneren Raum zurückkehrte.«
– das klingt, als wäre am Vortag auch eine alte Frau vor ihm dran gewesen, tatsächlich sollte sich »Erneut« aber wohl nur auf das Warten beziehen, nicht? Vorschlag: »Erneut musste er warten. Eine alte Frau …«

»damit dieser eine bestimmte Gerätschaft für ihn anfertige.«
– anfertigte

»Es brauchte zwei Wochen,«
– »Es brauchte« ist glaub ich auch eher neumodern, würde »Es vergingen« oder »Es dauerte« schreiben

»hervor und hielt sie dem Weisen vor.«
– Wiederholung hervor/vor


Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hi Susi,

bin gerade "ziemlich" krank, daher baue ich das alles ein, sobald es mir besser geht. Vielen Dank jedenfalls für die nützlichen Vorschläge!

Bis bald,
Naut

 

Hallo Naut,

erstmal gutes Ende. Das hätte wohl kaum jemand vorhersagen können.
Nun zum Text selbst:

das vom dortigen Volk das graue Meer genannt wurde. Das Ufer fiel dort in einer steilen Klippe aus weißer Kreide zum Wasser ab.
Einmal dort zuviel.
In der Vorhalle des Schreins stand ein Wächter.
"Ihr könnt nicht hinein", sagte er zum Langen Mann. "Der Weise empfängt gerade Ratsuchende."
"Auch ich bin ratsuchend", gab der Lange Mann zur Antwort.
"So wartet hier, bis der Weise Zeit für Euch findet."
Hier könnte man den Dialog vielleicht ein bißchen spritziger gestalten.
Nun wurde der Lange Mann eingelassen. Er durchschritt ein schweres Tor, hinter dem sich eine Reihe weiterer Kammern befand, jede mit einem kleineren Tor dahinter, bis er schließlich hinter der vierten Pforte einen kargen Raum fand. Inmitten dieses Zimmers saß der Weise auf einer einfachen Decke aus Leinen.
Unter Schrein hatte ich mir etwas viel kleiners vorgestellt,-)
Schließlich stand der Lange Mann auf und verließ die Kammer, betrübt, keine Antwort erhalten zu haben.
Hat er etwas gefragt? Erst beim zweiten Mal fragt er den Weisen etwas.
Dann frage ich mich noch wieso er zwei wochen lang eine Pistole bauen lässt. Seine Vermutung hätte er doch sicherlich einfacher beweisen können.

Aber wie gesagt. Schönes unvorsehbares Ende und auch ein guter Erzählfluss.

VG
Allysieh

 

Hallo erstmal,

ich habe jetzt die Anregungen von Susi & Allysieh eingebaut, natürlich nicht alle (ihr kennt mich ja) aber die meisten. Danke nochmal!

@Susi: Deine Interpretation ist absolut korrekt (aus meiner bescheidenen Sicht :) ). Es gibt wirklich eine Menge Probleme, die man nicht einfach "wegreden" kann. Die Leute aber, die den Weisen aufsuchen haben meist Probleme, für die es keine Lösung gibt: Es gibt nichts, was über den Verlust eines Kindes hinwegtrösten kann. Die einzige Möglichkeit ist die Einsicht, dass dem so ist und eine anschließende Bewältigung. So in etwa hatte ich mir das gedacht.

@Allysieh: Am Dialog kann ich im Moment irgendwie nichts machen. Die reden halt so ;)
Schreine sind in der westlichen Tradition meist eher so eine Art Schränke, ein Shinto-Schrein jedoch kann eine ganze Tempelanlage umfassen. Daher die Bezeichnung.
Beim ersten Besuch weiß der Lange Mann selbst nicht so genau, was er eigentlich will. Der Weise wird ja von Leuten aufgesucht, die sich oft nicht im klaren sind, worin ihr Problem tatsächlich besteht: Der erste Schritt (den der Lange Mann hier tut) ist die genauere Umgrenzung des Problems.
Die Pistole lässt er bauen, weil der Lange Mann grundsätzlich gern seltsame Mechanismen zu seinen Experimenten heranzieht. Das steht für seinen Charakterzug die Welt durch Modelle erfassen zu wollen. Ich gebe aber zu, dass man das aus (nur) diesem Text nicht ersehen kann.

Viele Dank Euch beiden nochmal!

Naut

 

Hallo Naut!

Eine tolle Geschichte in urtümlichem Sprachstil.
Daher passt die Pistole meines Erachtens nicht sonderlich gut in die Handlung rein. Ich finde sie anachronistisch. Wieso hat eigentlich der Kunstschmied die Kenntnisse, solch einen Apparat (komisches Wort in dem Fall) herzustellen? Ein Hammer mit dem er auf den Boden schlägt, dass es nur so hallt, hielte ich für angemessener.

Ein paar Korrekturvorschläge:

- Wie wäre es mit "einheimischen Volk" statt "dortigen Volk"?

- "Am höchsten Punkt der Landspitze stand der Schrein..." Um die Wiederholung von Klippe zu vermeiden.

- "An der Flussmündung" statt Mündung des Flusses, weil das im ersten Satz schon zu ähnlich klingt - ach, ich fände es einfach besser.

- schreibt man "Langen Mann" wirklich groß, auch wenn´s als Eigenname dient?

- "... der in der Sprache des Langen Mannes den Klang seiner alten Heimat erkannte; den der Nordleute."

- "Das bejahten die zwei (statt Leute) froh (Beistrich gehört glaub ich weg) und gaben dem Wächter Geld zur Erhaltung des Schreins."

- "Der Lange Mann nahm vor ihm Platz, und der Wächter verschwand. Sie waren allein. Die umgebenden Räume hielten jedes kleinste (das zweite Substantiv möchte auch ein Adjektiv vorgesetzt bekommen, wegen dem sprachlichen Gleichgewichtssinn, hab ich gelernt) Geräusch fern.

- "Seine Augen waren trübe Spiegel, mit der Zeit erblindet."

- "Ich zeigte ihnen die Tumbheit ihrer Kunst, doch ..." Finde ich persönlich präziser als Dumpfheit, aber eigentlich ist´s wurscht.

- "Hier brach seine Stimme ab (oder nicht wahr?)."

- "... die der Kunstschmied ihm gefertigt hatte, hervor und hielt sie dem Weisen vor." Wiederholung

- "Dieser regte (oder bewegte statt zeigte keine Regung) sich nicht, denn er war blind."


Lg,
kleiner Rasta-Narr

PS: Ist der Weise weise, weil ihn keine Sorgen beschäftigen, da sie nicht zu ihm durchdringen können, oder was?

 

Hi Rasta,

danke für die Anmerkungen. Vieles habe ich korrigiert, verzeih mir, wenn ich nicht alles übernehme, bei manchen Sachen habe ich einfach ein anderes Sprachgefühl.

Die Sache mit der Pistole habe ich weiter oben schon erklärt, ich kann aber verstehen, wenn Du sie unpassend findest.

(das zweite Substantiv möchte auch ein Adjektiv vorgesetzt bekommen, wegen dem sprachlichen Gleichgewichtssinn, hab ich gelernt)
:susp: Wo lernt man denn so was? Interessant, aber habe ich noch nie von gehört.
"Hier brach seine Stimme ab (oder nicht wahr?)."
Klonk! Das abgebrochene Stück fiel ihm auf den Fuß. :D Nein, tschuldigung, eine Rede kann abbrechen, aber eine Stimme die bricht, ist etwas anderes.

Ist der Weise weise, weil ihn keine Sorgen beschäftigen, da sie nicht zu ihm durchdringen können, oder was?
Äh, ja? Nein? Keine Ahnung. :) Ich glaube, er ist weise, weil ihn die Leute dafür halten.

Danke nochmal für's Lesen,
naut

 

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