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Der Wundermarsch

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24.04.2003
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Der Wundermarsch

Das Mädchen hatte die Augen geschlossen.
Die Straße, wie man solche Schotterpisten hierzulande nannte, ließ den Jeep ununterbrochen rappeln, und der Kopf der Kleinen schaukelte dabei kraftlos auf der stinkenden Wolldecke.
Nick hatte es aufgegeben, die Fliegen zu verscheuchen. Es waren zu viele und sie legten voller Entschlossenheit ihre Eier in der klaffenden Wunde ab, die der Grund für diese hoffnungslose Fahrt war.
Er klopfte dem Fahrer auf die schweißnasse Schulter.
"Faster. She´s dying!"
Bitterste Ironie, dass gerade die Hospitale hier für den Tod bekannt waren, aber Hoffnung gab es immer. Möglicherweise ... wenn sie bloß Medikamente hatten. Das konnte man nie so genau wissen.
Manchmal metzelten die Metzger auch nur mit dem, was sie standardmäßig besaßen, und diese Werkzeuge wollte man lieber nicht sehen.

Hinter der nächsten Kurve stand eine Militärpatrouille, die sie zum Halten zwang.
Die grünen Abzeichen mit dem Stern darauf entlarvten sie als Mitglieder der südlichen Allianz. Das rote Kreuz auf weißem Hintergrund indess verriet ihnen, wer Nick war.
Der eine richtete das Gewehr auf den Fahrer, während ein Zweiter die Tür aufriss.
"Wadda think you driving? Have problems? I asked if have problems!"
Nick hielt seine Hände routinemäßig über den Kopf, und redete langsam. Das Schlimmste, was man machen konnte, war hektisch zu werden.
"This little girl. We are on the way to the hospital."
Der Soldat warf einen kritischen Blick auf das sterbende Kind. Jetzt, wo die Straße sie nicht mehr schaukeln ließ, lag sie beinahe friedlich da. Als würde sie schlafen. Im krassen Gegensatz dazu stand das Loch in ihrem Bauch.
"She´s already dead. Have papers?"
Nick deutete mit seinen Augen auf das rote Kreuz, ohne die Hände dabei auch nur einen Milimeter zu bewegen.
"This could be fake. Have papers?"
"I have. Can I move my hands?"
"Slowly."
Mit aller Zeit der Welt, die sie nicht hatten, zog Nick den Reißverschluss seines Rucksacks auf. So langsam, dass man jede Krampe einzeln klicken hörte.
In Zeitlupe nahm er den Ausweis heraus, der zwischen zwei Flaschen Mineralwasser steckte.
"I have to check."
Dagegen konnte man nichts tun. Bettelte man darum, weiterfahren zu dürfen, dauerte es nur noch länger, oder man hatte weitaus größeres Pech.
Nick verharrte in seiner Stellung, während die Soldaten sich eine Zigarette teilten und lachten. Sprach er jetzt bloß ein Wort, gab es Probleme.
Dann kam der eine von ihnen zurück, drückte Nick die Papiere in die Hand und warf noch einen Blick auf das Mädchen, das in fiebrigen Träumen unverständliche Worte hechelte.
"Sweet girl. Shame she´s that young. Drive, you little hero."
Die anderen lachten laut.
Der Soldat schlug die Tür des Jeeps zu und feuerte einen Schuss in die Luft ab.
"Is it funny? Little girl dying and little hero wants to rescue? Is it funny?"
Das Lachen wurde zu einem Gröhlen, und es dauerte eine quälende Ewigkeit, bis sich einer der Rebellen in den Wagen setzte, der die Straße blockierte, und ihnen den Weg freimachte.
"Move and rescue her!"

Das Gebäude war zweistöckig. Die nächste Stadt lag nur fünfzehn Kilometer entfernt. Es gab eine Chance.
Als Nick auf den zusammengesunkenen, blutenden Körper starrte, verwarf er den Gedanken gleich wieder. Es gab hier niemals Chancen, nur Wunder, aber an die musste man glauben.
Er kannte nicht ihren Namen, und auch nicht den Grund, weshalb ein Junge der Regierungstruppen - kaum älter als sie selbst - geschossen hatte.
Aber er kannte dieses Land, und das bedeutete, die Logik außer Acht zu lassen.
"Help me", befahl er dem Fahrer.
Als sie die Rezeption betraten; er das getrocknete Blut auf den kaputten Kacheln sah, feststellte, dass der Tresen nicht besetzt war, und er die stark verweste Leiche in einer Ecke erfasste, wusste er schlagartig, dass es hier keine Medikamente gab. Nur Metzger.
Alles umsonst.
Tränen konnte man sich abgewöhnen. Bitteres Schlucken jedoch blieb und es härtete einen ab, wenn von zwanzig Kindern gelegentlich nicht eines überlebte.

Sie legten das Mädchen auf eine Bank.
"I´m go, search for a doctor", sagte der Fahrer.
Nick ging neben ihr in die Knie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, die so heiß war, dass er meinte, sich die Lippen daran verbrennen zu müssen.
"Es tut mir Leid", sagte er.
Ein letztes Mal sah er in das hübsche Gesicht. Die kleine Stupsnase; die großen, olivgrünen Augen, die seit Stunden geschlossen waren. Doch er hatte sie in Erinnerung, und so sollte man es enden lassen.
Mit einem schnellen Ruck brach er ihr das Genick.
Ein weit entfernter Schrei, irgendwo im Stockwerk über ihm, ließ ihn wissen, dass er das Richtige getan hatte.
Als der Fahrer allein zurückkehrte, und den seltsam angewinkelten Kopf sah, legte er Nick eine Hand auf die Schulter.
"Why do you do that? You know, its senseless. They were right. This girl was already dead."

Draußen stand ein Fernseher, vor dem einige Milizen hockten. Nick warf einen Blick auf das Programm.
Zwei Flugzeuge waren in das World Trade Center geflogen.

Es war eine Tragödie.
Plötzlich begann er unkontrolliert zu schluchzen.

 

Hallo Zerbrösel-Pistole.

Erstmal danke fürs lesen und kommentieren.

Deinen Beitrag finde ich überhaupt nicht inkompetent, wieso auch?

Mit deiner Interpretation liegst du richtig. Ich wollte einen Ausriss aus dem Leben eines Menschen darstellen, der fernab der Medien täglich grausamste Dinge durchlebt.
Der Ort der Handlung ist hierbei nicht festgelegt. Dieses Land ist gewissermaßen stellvertretend für viele andere Bürgerkriegsländer.

Grüße

Cerberus

 

Hallo cerberus,

deine Geschichte ist eindringlich und gut. Während in vielen Gebieten der Erde viel mehr Menschen sterben als in Türme passen, sind die einen eine medienwirksame Katastrophe, die anderen scheinen nicht zu zählen.
Ich mag keine Toten aufrechnen, der Schrecken des Attentats bestand vor allem in seiner neuen Qualität.
Ich denke aber auch nicht, dass Aufrechnung dein Ziel war.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo sim.

Nein, ein Aufrechnen ist nicht mein Ziel, da hast du Recht.
Ich kann mich noch gut an einen Nachrichtenbeitrag vom 12. oder 13. September 2001 erinnern, wo es hieß: "Nicht alle Fahrgäste an den Bahnsteigen des Hauptbahnhofes hielten sich an die Schweigeminute. Ihnen war es wichtiger, ihre Bahn zu bekommen."

Das ist eine dermaßen verlogene und beschissene Aussage gewesen, wie sie typisch für die westlichen Medien ist.
Man rotzt nicht auf Menschenrechtsverletzungen, weil man ganz einfach nicht hinsieht, da sie keinen wirtschaftlichen Wert haben, und dann pisst man sich wegen einer solchen dummen Schweigeminute ein ... als wenn die irgendwem was bringen würde.
Diese Scheinheiligkeit kotzt mich dermaßen an.

 

In der Tat: Das Land, in dem das Unglück geschieht, ist nicht wichtig. Aber dem ist nur scheinbar so. die Reaktion auf die Türme beweist es: Wer die Waffen hat, hat auch die Macht. Ob er ein Söldner in einem armen Land ist, oder Präsident einer Weltmacht, beide tun genau das Gleiche, nur die Auswirkungen sind nicht die gleichen. Für die 3.000 gestorbenen Menschen in den Türmen, müßten 30.000 Iraker sterben, obwohl sie damit nichts, aber auch gar nichts zu tun hatten: Sie hatten nur das Pech, einen unfähigen Führer und den falschen Glauben gehabt zu haben.

Der Preis, der von Schwachen verlangt wird, ist immer 10:1. Mindestens. Schon immer. Ein Amerikaner oder ein Deutscher ist eben mehr Wert als ein Iraker oder ein Russe, ein Russe mehr als ein Tschetschene, von Kindern ganz zu schweigen. Denn die zählen nichts, es sei denn, es handelt sich um Eigenes oder um das des eigenen Landes oder um eines, zu dem man eine Beziehung aufgebaut hatte, wie der Prot in deiner Geschichte.

Er weint um das Mädchen, und er weint, weil er um die Sinnlosigkeit seines Tuns weiß. Aber die Toten sind nicht umsonst tot, sie haben einen Sinn: Amerika wird nicht noch einmal so einen Krieg vom Zaun brechen, soviel ist sicher. Und die Deutschen auch nicht. Hoffentlich. Jedenfalls wünsche ich mir wieder Schröder zurück, damit er Nein sagt zu dem Abenteuer Nahost und anderswo.

Gute Geschichte, Cerberus, zweifellos, wenn auch ein wenig melodramatisch. Ich meine, des Genicksbruchs hätte es nicht gebraucht, denn solange man lebt, gibt es Hoffnung. Immer.

Dion

 

Hat mich bewegt, deine Geschichte, Cyberus. Ein scharf geschnittener Ausschnitt aus dem ganz normalen Wahnsinn. Alles, was ich dazu sagen könnte, wurde schon erwähnt. Was leben wir doch in einer kranken Welt.

Eines noch:

Ein letztes Mal sah er das hübsche Gesicht.
würde es nicht besser passen zu sagen: in das hübsche Gesicht? Erschiene mir zumindest schlüssiger

grüßlichst
weltenläufer

 

@Dion und @cyber-weltenläufer

Vielen Dank auch euch beiden fürs lesen und kommentieren.
Der Genickbruch hätte vielleicht wirklich nicht unbedingt sein müssen, das ist wahr. Ich sah ihn als Symbol für die plötzliche Resignation, aus der später auch das heftige Schluchzen resultiert.

Grüße

Cerberus

 

Sehr gut erzählte, kleine Geschichte, die es versteht, den Leser nachdenklich zurückzulassen.

Die Pointe mit dem elften September hätte nicht sein müssen, so etwas wirkt schnell aufgesetzt (und wirkt auch hier aufgesetzt, finde ich). Ich mag diese Vergleiche, dieses Abwägen von Toten einfach nicht.

Der Genickbruch macht dramaturgisch Sinn, für mich war das beim Lesen ein Schockmoment - hier hast du dein Ziel erreicht. Ich bin mir beim medizinischen Hintergrund aber nicht ganz sicher: Dein Prota muss ziemlich stark sein, um einem Menschen (auch wenn dieser noch ein Kind ist) einfach so das Genick brechen zu können. So einfach geht das nicht. Bei Hühnern und kleinereren Säugetieren klappt das, sicher, aber nicht bei der Halswirbelsäule unserer Spezies. :)

 

Hi Cerb,

im Großen und Ganzen hat mir deine Geschichte recht gut gefallen.
Die "kleinen", alltäglichen Tode, das alltägliche Elend, von dem kaum jemand Notiz nimmt, weil es niemanden interessiert, bzw weil es die Medien nicht interessiert.
Aber für meinen Geschmack hast du zu dick aufgetragen: das Opfer ist natürlich ein kleines, hübsches, Mädchen mit Stupsnase und großen, olivgrünen Augen (feht nur noch das Prinzesschenkostüm). Du packst hier eine emotionale Manipulationskeule aus, die sogar Spielbertg lieber im Sack lassen würde und prügelst auf den Leser ein. Natürlich hat man mit einem niedlichen, kleinen Mädchen mehr Mitleid als mit einem dicken, hässlichen Fünfzehnjährigen. Schließlich ist das Leben von kleinen, hübschen, weiblichen Kindern mehr wert als das eines hässlichen Erwachsenen. Das ist überspitzt formuliert und sicherlich wolltest du das damit ja auch gar nicht sagen, aber dennoch ist ein solches Mittel immer eine gewisse Form der Wertung. Letztendlich bedienst du dich damit einer ähnlichen Form der emotionalen Manipulation, wie es die Medien tun ...

Insgesamt zwar eine gute Geschichte, aber mNn teilweise leider auf BILD-Niveau.


LG, Tobias

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Ceberus,

auch mir hat deine Gesichte gefallen. Sie hat mich sehr nachdenklich und traurig zurück gelasssen. Insofern hast du dein Ziel sicherlich erreicht.

Die Pointe mit dem 11.September fand ich - wie Ramujan - zu aufgesetzt. Klar willst du die Brücke schlagen, dass manche Ereignisse nicht berücksichtigt werden, obwohl sie genauso schrecklich sind. Aber das hätte es nicht gebraucht. MMn wirkt die Geschichte ohne den 11.09 besser.

Ob darüber berichtet wird oder nicht, ändert ja nicht viel an dem Leid des Mädchens das es erlebt hat. Deswegen absolut unnötigl.

Was mir nicht gefallen hat war der Mischmasch aus Deutsch und English. Ich mag keine Anglizismen und Sprachenmischmasch noch weniger. Warum hast du die Dialoge nicht in Deutsch geschrieben? Es spielt doch keine Rolle, was die Prots für eine Sprache sprechen. Die Geschichte wäre auch in Deutsch genauso authentisch...

lg neukerchemer

 

Hallo Cerberus!

Ziemlich spät, aber doch, wünsche ich Dir alles Gute zu Deinem Geburtstag! :)

Die Geschichte finde ich sehr schön erzählt, spannend und betroffen machend. Beim Genickbruch war ich geschockt, damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet, aber es war wohl besser, als sie dort elend zugrundegehen zu lassen … Eben hat er noch gehofft, aber dann den Tatsachen ins Auge gesehen. :(

neukerchemer muß ich allerdings zustimmen, ich hätte die Geschichte auch lieber ohne englische Dialoge gelesen, zumal Du ja selbst sagst, die Geschichte sollte in keinem speziellen Land spielen, denn meiner Meinung nach rechtfertigen sich nicht-deutsche Dialoge nur dann, wenn es für die Geschichte von Bedeutung ist. Durch die englischen Dialoge legst Du die Geschichte ja doch irgendwie fest auf ein Land, in dem Englisch gesprochen wird.

Bei Ärzte ohne Grenzen gibt es übrigens jedes Jahr eine Liste der zehn größten vergessenen humanitären Krisen des Jahres (bei dem Link ist hinter jedem Foto ein Bericht zu dem jeweiligen Land). Deine Geschichte könnte wohl in fast jedem dieser Länder spielen (wenn da nicht Englisch gesprochen werden würde … ;)).

Nur ganz wenig anzumerken:

»Die Straße, wie man solche Schotterpisten hierzulande nannte,«
– entweder »nennt« oder »hierzulande« streichen

»Das rote Kreuz auf weißem Hintergrund indess verriet ihnen, wer Nick war.«
– indes

»"She´s allready dead. Have papers?"«
– nur ein l, wenn ich mich nicht täusche: already

»Nick deutete mit seinen Augen auf das Rote Kreuz,«
– da es nicht das »Rote Kreuz« ist, klein: das rote Kreuz

»das bedeutete, die Logik außer acht zu lassen.«
Acht

»"Es tut mir Leid", sagte er.«
– darf man jetzt wieder klein schreiben: leid


Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo zusammen!

Ups, da bin ich aber spät dran. Sorry!

@Ramujan

Ich weiß, die Pointe mit dem 11. September kommt nicht besonders gut an, du bist ja nicht der erste, der das anspricht. Trotzdem mag ich sie irgendwie.
Ich wollte hier keine Tragödien und Tote gegeneinander aufzählen. Meine Intention war eher die Verdeutlichung zweier parallel laufender Ereignisse, wobei eines von der gesamten Welt zur Kenntnis genommen wird, während das andere nur einem einzigen Menschen, nämlich dem Prot. nahe geht.
Ich wollte hier keinesfalls mit der Moralkeule schwingen.
Was den Genickbruch angeht: Das stimmt sicherlich. Vielleicht wäre es weniger melodramatisch gewesen, wenn er es anders gemacht hätte, wenn er sie beispielsweise erstickt hätte. Ist ganz klar mein Fehler. Da hab ich zu dick aufgetragen.

@MrPotato

Hui, auf BILD Niveau ... das ist hart.
Umgekehrt aber: Warum sollte es kein niedliches Mädchen sein? Ich weiß natürlich, was du meinst, und in gewisser Weise habe ich mich hier unbewusst vielleicht tatsächlich eines Klischees bedient. Will ich gar nicht abstreiten.

@neukerchemer

Zur Pointe siehe bitte ein Stück weiter oben.
Die englischen Dialoge fand ich in diesem Fall wichtig, da sie ja nicht in der eigentlichen Landessprache verfasst sind, und daher grammatisch auch ziemlich katastrophal ausfallen. Ich mag dieses Stilmittel, daher ...

@Häferl

Danke für den Glückwunsch :)

Die meisten Änderungsvorschläge habe ich übernommen.

Nochmal wegen den englischen Dialogen: Es handelt sich hierbei nicht um die Landessprache. Die Sätze sind ja grammatisch völlig falsch formuliert. Soll halt gebrochenes Englisch sein, in dem Nick sich mit den Einwohnern des unbekannten Landes unterhält.

Euch allen vielen Dank fürs lesen und kommentieren.

 

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