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Der Wundermarsch
Das Mädchen hatte die Augen geschlossen.
Die Straße, wie man solche Schotterpisten hierzulande nannte, ließ den Jeep ununterbrochen rappeln, und der Kopf der Kleinen schaukelte dabei kraftlos auf der stinkenden Wolldecke.
Nick hatte es aufgegeben, die Fliegen zu verscheuchen. Es waren zu viele und sie legten voller Entschlossenheit ihre Eier in der klaffenden Wunde ab, die der Grund für diese hoffnungslose Fahrt war.
Er klopfte dem Fahrer auf die schweißnasse Schulter.
"Faster. She´s dying!"
Bitterste Ironie, dass gerade die Hospitale hier für den Tod bekannt waren, aber Hoffnung gab es immer. Möglicherweise ... wenn sie bloß Medikamente hatten. Das konnte man nie so genau wissen.
Manchmal metzelten die Metzger auch nur mit dem, was sie standardmäßig besaßen, und diese Werkzeuge wollte man lieber nicht sehen.
Hinter der nächsten Kurve stand eine Militärpatrouille, die sie zum Halten zwang.
Die grünen Abzeichen mit dem Stern darauf entlarvten sie als Mitglieder der südlichen Allianz. Das rote Kreuz auf weißem Hintergrund indess verriet ihnen, wer Nick war.
Der eine richtete das Gewehr auf den Fahrer, während ein Zweiter die Tür aufriss.
"Wadda think you driving? Have problems? I asked if have problems!"
Nick hielt seine Hände routinemäßig über den Kopf, und redete langsam. Das Schlimmste, was man machen konnte, war hektisch zu werden.
"This little girl. We are on the way to the hospital."
Der Soldat warf einen kritischen Blick auf das sterbende Kind. Jetzt, wo die Straße sie nicht mehr schaukeln ließ, lag sie beinahe friedlich da. Als würde sie schlafen. Im krassen Gegensatz dazu stand das Loch in ihrem Bauch.
"She´s already dead. Have papers?"
Nick deutete mit seinen Augen auf das rote Kreuz, ohne die Hände dabei auch nur einen Milimeter zu bewegen.
"This could be fake. Have papers?"
"I have. Can I move my hands?"
"Slowly."
Mit aller Zeit der Welt, die sie nicht hatten, zog Nick den Reißverschluss seines Rucksacks auf. So langsam, dass man jede Krampe einzeln klicken hörte.
In Zeitlupe nahm er den Ausweis heraus, der zwischen zwei Flaschen Mineralwasser steckte.
"I have to check."
Dagegen konnte man nichts tun. Bettelte man darum, weiterfahren zu dürfen, dauerte es nur noch länger, oder man hatte weitaus größeres Pech.
Nick verharrte in seiner Stellung, während die Soldaten sich eine Zigarette teilten und lachten. Sprach er jetzt bloß ein Wort, gab es Probleme.
Dann kam der eine von ihnen zurück, drückte Nick die Papiere in die Hand und warf noch einen Blick auf das Mädchen, das in fiebrigen Träumen unverständliche Worte hechelte.
"Sweet girl. Shame she´s that young. Drive, you little hero."
Die anderen lachten laut.
Der Soldat schlug die Tür des Jeeps zu und feuerte einen Schuss in die Luft ab.
"Is it funny? Little girl dying and little hero wants to rescue? Is it funny?"
Das Lachen wurde zu einem Gröhlen, und es dauerte eine quälende Ewigkeit, bis sich einer der Rebellen in den Wagen setzte, der die Straße blockierte, und ihnen den Weg freimachte.
"Move and rescue her!"
Das Gebäude war zweistöckig. Die nächste Stadt lag nur fünfzehn Kilometer entfernt. Es gab eine Chance.
Als Nick auf den zusammengesunkenen, blutenden Körper starrte, verwarf er den Gedanken gleich wieder. Es gab hier niemals Chancen, nur Wunder, aber an die musste man glauben.
Er kannte nicht ihren Namen, und auch nicht den Grund, weshalb ein Junge der Regierungstruppen - kaum älter als sie selbst - geschossen hatte.
Aber er kannte dieses Land, und das bedeutete, die Logik außer Acht zu lassen.
"Help me", befahl er dem Fahrer.
Als sie die Rezeption betraten; er das getrocknete Blut auf den kaputten Kacheln sah, feststellte, dass der Tresen nicht besetzt war, und er die stark verweste Leiche in einer Ecke erfasste, wusste er schlagartig, dass es hier keine Medikamente gab. Nur Metzger.
Alles umsonst.
Tränen konnte man sich abgewöhnen. Bitteres Schlucken jedoch blieb und es härtete einen ab, wenn von zwanzig Kindern gelegentlich nicht eines überlebte.
Sie legten das Mädchen auf eine Bank.
"I´m go, search for a doctor", sagte der Fahrer.
Nick ging neben ihr in die Knie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, die so heiß war, dass er meinte, sich die Lippen daran verbrennen zu müssen.
"Es tut mir Leid", sagte er.
Ein letztes Mal sah er in das hübsche Gesicht. Die kleine Stupsnase; die großen, olivgrünen Augen, die seit Stunden geschlossen waren. Doch er hatte sie in Erinnerung, und so sollte man es enden lassen.
Mit einem schnellen Ruck brach er ihr das Genick.
Ein weit entfernter Schrei, irgendwo im Stockwerk über ihm, ließ ihn wissen, dass er das Richtige getan hatte.
Als der Fahrer allein zurückkehrte, und den seltsam angewinkelten Kopf sah, legte er Nick eine Hand auf die Schulter.
"Why do you do that? You know, its senseless. They were right. This girl was already dead."
Draußen stand ein Fernseher, vor dem einige Milizen hockten. Nick warf einen Blick auf das Programm.
Zwei Flugzeuge waren in das World Trade Center geflogen.
Es war eine Tragödie.
Plötzlich begann er unkontrolliert zu schluchzen.