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Der Zahn der Zeit
Der Zahn der Zeit
Martha erwachte. Mühsam richtete sie sich auf. Ihre Schulter- und Ellenbogengelenke schmerzten heftig. Durch den Spalt zwischen den dunkelroten Vorhängen sickerte fahles Licht, sodass die Umrisse der alten Mahagonimöbel scharf hervortraten.
Sie schob ihre geschwollenen Füße in Samtpantöffelchen und blieb auf der Bettkante sitzen, bis die Nacht in alle Winkel des Zimmers gekrochen war.
Nun konnte ihr Tag beginnen.
Sie zündete eine Kerze an und humpelte ins Bad. Mit der rechten Hand umklammerte sie den Knauf ihres Stockes. Ihre Fußgelenke pochten heiß, und bei jedem Schritt knirschte es, als hätte sie Sand in den Knien.
Stumpfe Augen blickten sie aus dem Spiegel an. Sie zog ein Unterlid herunter. Blassrot, fast farblos. Genauso wie ihre faltigen Lippen.
Martha benetzte ihr Gesicht mit Wasser und kämmte sich die dünnen weißen Haarsträhnen. „Ich versuche es noch ein Mal“, sagte sie laut zu sich selbst. „Und diesmal muss ich es schaffen.“
Und wenn nicht … Was sollte dann aus ihr werden? Der schwarze Mantel war ihr inzwischen viel zu weit geworden. Wen sollte sie mit ihrer Erscheinung erschrecken? Sie war doch nur noch eine Lachnummer – nichts weiter.
Vorsichtig öffnete sie die Haustür und lugte durch den Spalt nach draußen.
Wie ausgestorben lag die kleine Stadt da. Es würde nicht einfach sein, ein Opfer zu finden und zu überwältigen.
Martha stöhnte leise. Eine Greisin zu sein, war ein Fluch - eine greise Vampirin zu sein die Hölle. Und Schuld an diesem ganzen Elend hatte nur dieser Mauritius Fleder, weil er sich damals in der Tür geirrt und außerdem noch seine Brille vergessen hatte. Trotzdem hätte dieser Idiot eigentlich merken müssen, dass er eine alte Frau vor sich hatte und nicht das junge Ding, das er eigentlich aussaugen wollte.
Martha schleppte sich den Bürgersteig entlang. Sie mied das Laternenlicht und pirschte sich im Schatten der Häuser vorwärts. Behutsam, um jegliches Geräusch zu vermeiden, setzte sie ihren Stock auf.
Am Ende der Straße öffnete sich eine Tür. Martha presste sich mit dem Rücken gegen die kalte Mauer. Aus einer Kneipe fiel Licht; Musik und Stimmengewirr schallten heraus. Dann klappte die Tür zu und es wurde wieder dunkel und still.
Ein junger Kerl, kräftig gebaut, aber ein wenig unsicher auf den Beinen, lief die Straße entlang. Er summte leise vor sich hin.
Marthas Augen verengten sich. In diesem Moment spürte sie keinen Schmerz mehr, nur noch Jagdfieber und brennende Lust.
Nun konnte sie ihn auch riechen. Eine Wolke aus Schweiß, Bierdunst, Männergeruch und Zigarettenqualm umgab ihn. Und - sie witterte Blut: warm, zuckrig, mit einem Hauch von Kupfer und einer leicht pikanten Note.
Bewegungslos stand sie da.
Noch drei Schritte.
Sie fieberte ihm entgegen.
Noch zwei.
Martha unterdrückte ein Keuchen und löste sich aus dem Schatten der Hauswand.
Noch ein Schritt.
Sie streckte ihren Stock aus. Der junge Mann stolperte und schlug auf die Knie.
„Verdammt!“, fluchte er. „Pass doch auf!“
Martha zischte, bleckte ihre Zähne und stürzte sich auf ihn.
Aber er war schon wieder auf den Beinen. „Was willst du von mir, Alte?“
Sie warf den Stock von sich, fauchte und krallte ihre Finger in seine Schulterblätter.
Grob wollte der Mann sie von sich stoßen, doch sie war immer noch stärker als ein Mensch und zwang seinen Kopf zu sich herunter.
Der Mann stemmte sich dagegen.
Martha presste ihr Gesicht in seine Halsbeuge.
Er begann um sich zu schlagen. „Verpiss dich!“, schrie er. „Such dir deine Freier doch im Altersheim!“
Martha ließ sich nicht abschütteln. Mit den Lippen suchte und fand sie die pochende Quelle.
Sie schloss die Augen, hieb in seinen Hals – doch ihre Reißzähne konnten noch nicht einmal die Haut durchstoßen. Im Laufe der Jahre waren sie stumpf geworden.
Der junge Mann wehrte sich heftig. Schließlich verlor Martha den Halt und stürzte zu Boden. Schmerz setzte ihren Körper in Flammen. Sie wimmerte.
Der Mann spuckte vor ihr aus. „Pfui Teufel!“, murmelte er, stieg über sie hinweg und verschwand schimpfend in der Dunkelheit.
Martha blickte ihm nach – hungrig, sehnsuchtsvoll und verzweifelt. Ihre Schultern sackten nach vorn. Es half nichts – sie musste es einsehen. Sie hatte ihren Biss endgültig verloren.
Als der Schmerz sich ein wenig gelegt hatte, kroch sie zu ihrem Stock und rappelte sich auf. Mühsam, Schritt für Schritt, humpelte sie die Straße entlang.
Würde sie nun verhungern müssen?
Sie erreichte den Stadtpark. Mit einem Ächzen sank sie auf eine Bank, schloss die Lider und lehnte den Kopf zurück. In ihrem Elend wünschte sie sich nur noch eins: dass es zu Ende war, endlich und ein für allemal.
Sie musste eingenickt sein, denn als sie die Augen aufschlug, war schon helllichter Tag.
„Wenn dieser Mythos doch wahr wäre“, dachte sie, „wenn es doch stimmen würde, dass Sonnenlicht uns tötet. Aber in Wirklichkeit bekommen wir noch nicht einmal einen Sonnenbrand.“
Erst jetzt bemerkte sie den Polizeibeamten, der vor der Bank stand. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.
„Das glaube ich kaum“, antwortete Martha bitter. „Es sei denn, Sie könnten mir neue Zähne beschaffen. Welche, mit denen ich kraftvoll zubeißen kann.“
Der Polizist schmunzelte. „Da sind Sie bei mir leider an der falschen Adresse. Aber ein Zahnarzt könnte sicher etwas für Sie tun.“
Martha starrte ihn an.
Plötzlich stand sie auf, umarmte ihn und bohrte ihr Gesicht in seine Halsbeuge. Ganz leicht, ganz sanft knabberte sie an seiner Haut. „Danke“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Einige Zeit später geschah in einer Zahnarztpraxis in der Nähe des Stadtparks ein furchtbares Verbrechen. Ein Irrer hatte dort ein wahres Massaker angerichtet. Den Zahnarzt fand man im Behandlungsraum, seine Helferin im Empfangsbereich und eine Patientin im Wartezimmer. Alle hatten tiefe Wunden am Hals. Es sah beinahe so aus, als ob ein Tier sich in sie verbissen hätte.
Der Rechtsmediziner am Tatort schüttelte den Kopf. „Offenbar hat der Mörder seine Opfer ausbluten lassen wie Schlachtvieh. Bloß – wo ist das Blut geblieben?“
In dieser Nacht blieb Martha zu Hause. Der Blutrausch war herrlich gewesen. Doch nach der langen Abstinenz war ihr die Menge zu Kopf gestiegen – und nun hatte sie den schlimmsten Kater ihres ewigen Lebens.