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Der Zahn der Zeit

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14.10.2001
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Der Zahn der Zeit

Der Zahn der Zeit
Martha erwachte. Mühsam richtete sie sich auf. Ihre Schulter- und Ellenbogengelenke schmerzten heftig. Durch den Spalt zwischen den dunkelroten Vorhängen sickerte fahles Licht, sodass die Umrisse der alten Mahagonimöbel scharf hervortraten.
Sie schob ihre geschwollenen Füße in Samtpantöffelchen und blieb auf der Bettkante sitzen, bis die Nacht in alle Winkel des Zimmers gekrochen war.
Nun konnte ihr Tag beginnen.
Sie zündete eine Kerze an und humpelte ins Bad. Mit der rechten Hand umklammerte sie den Knauf ihres Stockes. Ihre Fußgelenke pochten heiß, und bei jedem Schritt knirschte es, als hätte sie Sand in den Knien.
Stumpfe Augen blickten sie aus dem Spiegel an. Sie zog ein Unterlid herunter. Blassrot, fast farblos. Genauso wie ihre faltigen Lippen.
Martha benetzte ihr Gesicht mit Wasser und kämmte sich die dünnen weißen Haarsträhnen. „Ich versuche es noch ein Mal“, sagte sie laut zu sich selbst. „Und diesmal muss ich es schaffen.“
Und wenn nicht … Was sollte dann aus ihr werden? Der schwarze Mantel war ihr inzwischen viel zu weit geworden. Wen sollte sie mit ihrer Erscheinung erschrecken? Sie war doch nur noch eine Lachnummer – nichts weiter.
Vorsichtig öffnete sie die Haustür und lugte durch den Spalt nach draußen.
Wie ausgestorben lag die kleine Stadt da. Es würde nicht einfach sein, ein Opfer zu finden und zu überwältigen.
Martha stöhnte leise. Eine Greisin zu sein, war ein Fluch - eine greise Vampirin zu sein die Hölle. Und Schuld an diesem ganzen Elend hatte nur dieser Mauritius Fleder, weil er sich damals in der Tür geirrt und außerdem noch seine Brille vergessen hatte. Trotzdem hätte dieser Idiot eigentlich merken müssen, dass er eine alte Frau vor sich hatte und nicht das junge Ding, das er eigentlich aussaugen wollte.
Martha schleppte sich den Bürgersteig entlang. Sie mied das Laternenlicht und pirschte sich im Schatten der Häuser vorwärts. Behutsam, um jegliches Geräusch zu vermeiden, setzte sie ihren Stock auf.
Am Ende der Straße öffnete sich eine Tür. Martha presste sich mit dem Rücken gegen die kalte Mauer. Aus einer Kneipe fiel Licht; Musik und Stimmengewirr schallten heraus. Dann klappte die Tür zu und es wurde wieder dunkel und still.
Ein junger Kerl, kräftig gebaut, aber ein wenig unsicher auf den Beinen, lief die Straße entlang. Er summte leise vor sich hin.
Marthas Augen verengten sich. In diesem Moment spürte sie keinen Schmerz mehr, nur noch Jagdfieber und brennende Lust.
Nun konnte sie ihn auch riechen. Eine Wolke aus Schweiß, Bierdunst, Männergeruch und Zigarettenqualm umgab ihn. Und - sie witterte Blut: warm, zuckrig, mit einem Hauch von Kupfer und einer leicht pikanten Note.
Bewegungslos stand sie da.
Noch drei Schritte.
Sie fieberte ihm entgegen.
Noch zwei.
Martha unterdrückte ein Keuchen und löste sich aus dem Schatten der Hauswand.
Noch ein Schritt.
Sie streckte ihren Stock aus. Der junge Mann stolperte und schlug auf die Knie.
„Verdammt!“, fluchte er. „Pass doch auf!“
Martha zischte, bleckte ihre Zähne und stürzte sich auf ihn.
Aber er war schon wieder auf den Beinen. „Was willst du von mir, Alte?“
Sie warf den Stock von sich, fauchte und krallte ihre Finger in seine Schulterblätter.
Grob wollte der Mann sie von sich stoßen, doch sie war immer noch stärker als ein Mensch und zwang seinen Kopf zu sich herunter.
Der Mann stemmte sich dagegen.
Martha presste ihr Gesicht in seine Halsbeuge.
Er begann um sich zu schlagen. „Verpiss dich!“, schrie er. „Such dir deine Freier doch im Altersheim!“
Martha ließ sich nicht abschütteln. Mit den Lippen suchte und fand sie die pochende Quelle.
Sie schloss die Augen, hieb in seinen Hals – doch ihre Reißzähne konnten noch nicht einmal die Haut durchstoßen. Im Laufe der Jahre waren sie stumpf geworden.
Der junge Mann wehrte sich heftig. Schließlich verlor Martha den Halt und stürzte zu Boden. Schmerz setzte ihren Körper in Flammen. Sie wimmerte.
Der Mann spuckte vor ihr aus. „Pfui Teufel!“, murmelte er, stieg über sie hinweg und verschwand schimpfend in der Dunkelheit.
Martha blickte ihm nach – hungrig, sehnsuchtsvoll und verzweifelt. Ihre Schultern sackten nach vorn. Es half nichts – sie musste es einsehen. Sie hatte ihren Biss endgültig verloren.
Als der Schmerz sich ein wenig gelegt hatte, kroch sie zu ihrem Stock und rappelte sich auf. Mühsam, Schritt für Schritt, humpelte sie die Straße entlang.
Würde sie nun verhungern müssen?
Sie erreichte den Stadtpark. Mit einem Ächzen sank sie auf eine Bank, schloss die Lider und lehnte den Kopf zurück. In ihrem Elend wünschte sie sich nur noch eins: dass es zu Ende war, endlich und ein für allemal.
Sie musste eingenickt sein, denn als sie die Augen aufschlug, war schon helllichter Tag.
„Wenn dieser Mythos doch wahr wäre“, dachte sie, „wenn es doch stimmen würde, dass Sonnenlicht uns tötet. Aber in Wirklichkeit bekommen wir noch nicht einmal einen Sonnenbrand.“
Erst jetzt bemerkte sie den Polizeibeamten, der vor der Bank stand. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.
„Das glaube ich kaum“, antwortete Martha bitter. „Es sei denn, Sie könnten mir neue Zähne beschaffen. Welche, mit denen ich kraftvoll zubeißen kann.“
Der Polizist schmunzelte. „Da sind Sie bei mir leider an der falschen Adresse. Aber ein Zahnarzt könnte sicher etwas für Sie tun.“
Martha starrte ihn an.
Plötzlich stand sie auf, umarmte ihn und bohrte ihr Gesicht in seine Halsbeuge. Ganz leicht, ganz sanft knabberte sie an seiner Haut. „Danke“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Einige Zeit später geschah in einer Zahnarztpraxis in der Nähe des Stadtparks ein furchtbares Verbrechen. Ein Irrer hatte dort ein wahres Massaker angerichtet. Den Zahnarzt fand man im Behandlungsraum, seine Helferin im Empfangsbereich und eine Patientin im Wartezimmer. Alle hatten tiefe Wunden am Hals. Es sah beinahe so aus, als ob ein Tier sich in sie verbissen hätte.
Der Rechtsmediziner am Tatort schüttelte den Kopf. „Offenbar hat der Mörder seine Opfer ausbluten lassen wie Schlachtvieh. Bloß – wo ist das Blut geblieben?“

In dieser Nacht blieb Martha zu Hause. Der Blutrausch war herrlich gewesen. Doch nach der langen Abstinenz war ihr die Menge zu Kopf gestiegen – und nun hatte sie den schlimmsten Kater ihres ewigen Lebens.

 

Hallo Jakobe,

eine Greisin als Vampir – das finde ich eine originelle Abwechslung zu vielen Vampirgeschichten, die sich oft sehr ähneln.
Mir gefällt, wie du die Protagonistin einführst. Man kommt nicht gleich auf einen Vampir. Zuerst dachte ich, es handele sich um eine Kranke.

Etwas schade finde ich, dass du die Szene beim Zahnarzt nicht näher beschreibst, sondern nur einen kurzen Rückblick auf das vergangene Geschehen wirfst. Da fühle ich mich als Leser ein bisschen ausgeschlossen.

Noch zwei Kleinigkeiten:

Aus einer Kneipe fiel Licht, Musik und Stimmengewirr schallten heraus, ehe die Tür zuklappte

Wirkt wie eine Aufzählung – einen Bindestrich oder Punkt hinter “Licht” fände ich besser.

Das sind Sie bei mir an der falschen Adresse

Ein “s” zuviel.

Alles im allem hat mir die Geschichte Spaß gemacht, nur, wie gesagt, das mit dem Zahnarzt könntest du evtl. noch ausbauen.

Viele Grüße

Cat

 
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Aloha!

Sie hatte ihren Biss endgültig verloren. :lol:

Meine Güte, das ist richtig gut. Martha wird vor meinem inneren Auge 'lebending' - und hoffentlich auch nur da! - und ich bin geneigt Mitleid zu empfinden. Tragig, Humor - eine sehr gelungene Mischung.

Die Zahnarzt-Szene kann mann ausbauen, aber ich meine, dass die Erzählung auch genau so stehen bleiben kann, wie sie da steht und es wäre wirklich große Freude, sie im April in der Bücherei live zu hören!

Ganz herzallerliebst! :thumbsup:

shade & sweet water
>x<

 

Hi!

Gut zu wissen, dass es den Vampir auch in der Ausgabe: alte Dame gibt!:D
Ich fand es sehr angenehm dieses Thema mal von so einer Perspektive aus beleuchtet zu sehen. Frage mich jetzt bloß, ist sie jetzt nach dem Blutrausch wieder jung und knackig oder nich?:hmm:

Hat Spaß gemacht!

Gruß, scharker

 

Hallo Jakobe,

hm, die Idee zu der Geschichte ist nicht schlecht und sie ist auch „spritzig“ umgesetzt.
Aber da ist irgendwie ein Logik-Bock drin. Wenn sie schon „eine alte Frau“ war, als der Vampir sie gebissen hat, warum fängt sie dann heute an und meckert, dass sie alt ist und dass die Zähne stumpf sind? Die müssten doch schon stumpf gewesen sein, als sie gebissen wurde. Oder altern Vampire in deiner Logik einfach weiter?
Wäre vielleicht interessanter gewesen, wenn du die Idee mit dem „Sonnenlicht schadet mir nicht, diese dummen Geschichten“ weiterverfolgt hättest in „Vampire altern auch weiter, diese dummen Geschichten“, dann hättest du auch diese etwas befremdliche Prämisse „Halb-blinder Vampir beißt alte Frau“ nicht verwenden müssen, man weiß nicht so recht, die ganze Geschichte geht eher in Richtung Klamauk an vielen Stellen.

Trotzdem interessante Idee, spritzig umgesetzt
Quinn

 
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Hallo, Cat!

Danke fürs Lesen und Kommentieren!
Den Tippfehler habe ich verbessert.
Licht, Musik und Stimmengewirr - das sollte tatsächlich eine Aufzählung sein. All das wird sichtbar/hörbar, als die Tür aufgeht.
Wenn ich mal eine längere Vampirgeschichte brauche, werde ich auf deinen Vorschlag zurückkommen und die Zahnarztszene noch ausbauen.

Viele Grüße
Jakobe

Lieber Xadhoom,

ich freue mich, dass du findest, die Geschichte passt ins Programm der Lesung! Danke fürs Überprüfen!

Bis bald! (Na ja, fast drei Monate sind es ja noch.)
Jakobe


Hallo, Scharker,

auch dir vielen Dank.

Ich fürchte, die greise Vampirin wird sich nicht verjüngen, obwohl sie jetzt wieder kraftvoll zubeißen kann. Sie war schon alt, als sie zur Vampirin wurde, und auf dieser Stufe bleibt sie stehen. Wie Xadhoom schon sagte: Man könnte fast Mitleid mit ihr bekommen, solange man ihr nicht persönlich begegnet. :-)

Viele Grüße
Jakobe

Hallo, Quinn,

du hast schon recht: Ganz so bierernst ist die Geschichte nicht gemeint.

Die Sache mit den Zähnen habe ich mir so vorgestellt: Ihre Zähne haben sich durch regen Gebrauch abgenutzt, so wie ein Messer stumpf wird, wenn es häufig benutzt wird, egal wie alt es ist.

Mauritius Fleder, der halbblinde Vampirgreis, muss ein ähnliches Schicksal erlitten haben wie Martha, denn er wurde auch als alter Mann zum Vampir.

Viele Grüße
Jakobe

 

Hi Jakobe,

zwar finde ich die beiden letzten Absätze persönlich eher überflüssig und etwas außerhalb der Geschichte, aber sowas ist ja bekanntlich Geschmacksache. Ansonsten hat mir diese etwas andere Vampirgeschichte gut gefallen.
Vom Timing her fände ich den vorletzten Absatz fast als Einstieg besser, den hilfreichen Polizisten könnte es dann im Zuge der Ermittlungen vielleicht ein zweites Mal mit der Lady zusammenbringen aber zum Glück ist sie gerade so satt, dass er mit der Sterblichkeit davon kommt.
Wie gesagt, eine Frage des Timings. soll deine Geschichte aber nicht schmälern.

Lieben Gruß, sim

 

Lieber Sim,

vielen Dank für deinen Kommentar.
Ich habe auch schon hin und her überlegt wegen des Endes, hatte mich schon fast entschlossen, den letzten Absatz zu streichen, obwohl mir der doppelte Sinn von "Blutrausch" gefiel. Andererseits wirkt die Geschichte am Ende so "zerrissen".
Wenn ich deinem Vorschlag folge und die Szene in der Zahnarztpraxis an den Anfang setze (wäre sicher ein knackiger Einstieg), dann müsste der Hauptteil der Geschichte eine Rückblende sein. Am Ende müsste ich erklären, wieso der Polizist bei der Ermittlung auf die alte Frau kommt. Das erscheint mir etwas kompliziert.
Ich wollte den umgekehrten Weg gehen: "harmlos" anfangen und dann bis zum Horror steigern.

Herzliche Grüße
Jakobe

 

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