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Der Zug endet hier – Münster Trilogie I
„Nächster Halt … Aaaaaaamelsbüreeeen“ rauschte es aus dem Lautsprecher der Regionalbahn zwischen Dortmund und Münster. Es war einer dieser modernen Doppelstockzüge, die den Fahrgästen in Ermangelung geräumiger Gepäcknetze Einiges an logistischer Spontaneität abverlangen. So saß ich eingezwängt zwischen Fenster und einer Riesen-Reisetasche auf einem der Doppelsitze - obwohl sich der Zug seit zwei Bahnhöfen geleert hatte. Meine kleine isolierte Sitzposition hatte etwas angenehm Kokonartiges. Draußen glitten Regentropfen entlang der gebogenen Scheibe und drinnen war es ungewöhnlich kalt. Die Klimaanlage, die im Sommer ja meist ihren Dienst am Kunden versagte, war jetzt Ende Oktober endlich angelaufen. Ich war vertieft in meine Zeitung, die ziemlich genau Lesestoff für die Hin- und Rückfahrt lieferte.
Der spanische Wirtschaftsminister muss letztlich doch seinen Hut nehmen, weil er … ließ mich der Redakteur wissen. Wie oft müssen diverse Leute noch ihre Hüte nehmen, obwohl selbst jetzt bei Regen und Wind kein Mensch mehr einen Hut trägt. Höchstens Kappen oder Mützen, aber die trägt der Spanier auch nicht. ‚Den Platz räumen’ ist genauso abgedroschen, beschreibt den Sachverhalt aber wenigstens treffender. Das brachte mich zurück in den langsam anfahrenden Nahverkehrszug. Vor mir hatte die Gruppe westfälischer Jungväter auch ihren Platz geräumt. Eine Kegeltour oder eine ähnliche Reiseunternehmung musste sie aus dem tristen Amelsbürener Umland gelockt haben. Sie hatten seit Dortmund über den letzten Abend diskutiert. Nicht einmal die Kopfhörer meines mp3-Players konnten mich vor den banalen Dialogen der Vier abschotten.
„Michi hat gestern aber auch gut zugelangt!“
„Sicher, Marcus war mit dem wohl noch bis um halb fünf inner Hotelbar und hat die Schnalle angemacht.“
„Welche?“
„Die blonde mit dem riesigen Hintern? Neeee?!“
Das anschließende Echte-Männer-Lachen bildete einen eigenartigen Kontrast zum Rest des Zuges. Im Abteil waren nur noch Leute übrig, die schienen, als hätten sie die Unauffälligkeit gepachtet. Mittelalt, mittelblond, mittlere Statur, mittelmäßig gekleidet und auffällig unbeteiligt. Alle saßen nur da. Eine Tätigkeit, die mit zunehmendem Abstand zum Ruhrgebiet immer öfter beobachtet werden kann. Dort tranken Reisende Dosenbier, begannen vom Kronen-Pils befeuert, Gespräche über Bahn, Verspätungen und „den Herrn Mehdorn“. Im Münsterland aber pflegte man die feierabendliche Innenansicht. Diese bedrückend stille Atmosphäre hatte noch merklich an zugenommen seit die lustigen Kegelfreunde das Abteil vermutlich in Richtung ihrer Neubau-Doppelhaushälfte verlassen hatten.
„Nächster Haltschschsch … schschsch“ Das Rauschen im Lautsprecher hatte ebenfalls zugenommen, so als wolle es den stärker gewordenen Regen am Fenster nachahmen. Trotz dass ich die Strecke seit mehr als drei Jahren regelmäßig fahre, schaue ich immer noch jedes Mal in einem Anflug von Interesse auf, wenn der Zugführer den nächsten Bahnhof ansagt. Da es bis Münster noch eine gute halbe Stunde war, las ich sofort weiter in meiner Zeitung. Die Lektüre war zwar nicht die spannendste, die sich mir bietende Szene des Zugabteils war aber um Längen reizloser. Noch einmal knackte es im Lautsprecher, anstelle einer Durchsage knarrte es nur und fiepte eine kleine Weile. Auch ein Meilenstein der deutschen Wirtschaft „made in Wolfsburg“ hatte es dieses Mal nicht geschafft, dass ich meine Augen auf den Text gerichtet lies. Stattdessen starrte ich wieder auf den ovalen Lautsprecher an der Decke. Anschließend suchte ich die verlorene Zeile im Artikel. Wieder knackte es. Dieses Mal keine Aufmerksamkeit für die Geräusche, stattdessen: ‚Das VW-Werk produzierte bis zum Kriegsende nur Kübelwagen und Waffen…` Na toll! Was ist denn nu?
Trotz der Musik in meinen Kopfhörern, drang statt des Lautsprecherrauschen jetzt ein Sound durch, der an die Lasergewehre in den frühen Startrek-Folgen erinnerte – nur, dass es keine Salven waren, sondern der Zugführer hatte die Kanonen unserer Regionalbahnflotte auf Dauerfeuer gestellt. Ich hob erneut den Blick: Zu meiner Überraschung schien es keinen der übrigen Fahrgäste zu stören. Alle starrten wie zuvor in die völlige Dunkelheit des Münsteraner Umlands, das hinter den Scheiben vorbei flog. Völliges Desinteresse an der Umwelt – genauso hatten sie sich auch verhalten, als sich die vier lustigen Kegler kollektiv Zigaretten in unserem Nichtraucher-Zug angesteckt hatten. Keine Empörung, kein verachtendes Gezischel, nur Regungslosigkeit, die zu sagen schien: Nur kein Ärger am Feierabend.
Der Kack-Zug fährt wenigstens mal schnell. Haben wir denn Verspätung? Ein Blick auf die Uhr im Handydisplay. 22:17. Nö, wohl nicht. Auch um 22:18 und 22:19 ziepte der 70er-Jahre-Lasersound noch. Das Geräusch war als Grundton jedoch eigenartig passend in die Musik eingegangen, die mein mp3-Player lieferte. Stört die das nicht? Auch nach drei oder vier Minuten war noch keiner der anderen im Abteil aufgestanden, um sich zu beschweren. Nicht einmal bewegt hat sich einer!
Nach weiteren Minuten fiel mir in einer Pause zwischen zwei Musikstücken auf, dass die Magazine des Regionalbahnlasers offensichtlich verschossen waren. Es herrschte wieder absolute Stille, abgesehen von den Fahrgeräuschen des Zuges, der mittlerweile in den Münsteraner Bahnhof einfuhr. Diskman verpacken, Bierdose verpacken, ist ja Pfand `drauf, Portemonnaie in die Tasche. Gleich erst mal fernsehen. Was Sinnvolles krieg ich heute eh nicht mehr hin. Bepackt mit meinem üblichen Set aus Reisetasche und Rucksack stand ich mal wieder viel zu früh im Gang des Abteils. Der Zug begann erst jetzt zu bremsen und ruckte dabei so heftig, dass ich mich an den Rückenlehnen festhalten musste, um nicht der Länge nach samt Gepäck hinzuklatschen. Erstaunlicher war allerdings die Reaktion der anderen Fahrgäste: Insofern sie in Fahrtrichtung saßen, rutschten sie vom Sitz, sackten über der gegenüberliegenden Sitzreihe gebeugt zusammen und bewegten sich nie mehr. Die übrigen kippten entweder mit dem Kopf gegen das Fenster oder die Armlehnen und stießen dort schmerzhaft heftig an. Einer kippte weiter vorne im Abteil sogar in den Gang und schlug mit dem Schädel deutlich hörbar auf den Linoleumboden auf. Doch keiner machte dabei einen Laut – sei es vor Schreck oder Schmerz! Schockiert sah ich dem Mann ins Gesicht, der mir am nächsten saß. Krankhaft blass, fast wächsern und starr war sein Gesicht. Seine Augen waren halb geschlossen, doch zu sehen war nur das Weiß des Augapfels. Aus dem linken Ohr war ein kleines Rinnsal Blut geflossen, das schon getrocknet schien. Auch die ältere Frau schräg gegenüber hatte aus dem Ohr geblutet und lag jetzt schlaff und unnatürlich verdreht gegen die Scheibe gelehnt.
Der Lautsprecher knackte und der Zugführer verkündete in beinahe HiFi-Qualität: „Nächster Halt Münster. Bitte alle aussteigen. Der Zug endet hier“.